Hallo Miglena (432),
klar hast Du richtig geraten mit den
Goldberg-Variationen. Hatte nicht – oder nicht so rasch – damit gerechnet. Denn wer kennt denn diesen alten Kram noch. (Einmal tat ich mein Bestes, einem meiner Söhne eine seinem – häufig wechselnden aber jeweils angesagten – Geschmack entsprechende CD zu schenken, was mir wieder mal misslang. Er schaute mich mit tiefem Mitgefühl an: „Babù, du bist wirklich out.“)
Längst wollte ich Dir danken und was dazu schreiben, aber, wie üblich . . . (es folgt eine Ausrede).
Also, das Ding heißt
„Clavier-Übung bestehend aus einer Aria mit verschiedenen Veränderungen vors Clavicimbel mit 2 Manualen“. (Die zwei Manuale sind schwierig sogar auf Steinway-Flügel, weil der halt nur eines hat, da sind die Hände einander im Weg und man muß manchmal umschreiben – geht aber eigentlich nicht bei so ausgetüftelter Stimmführung. Relativ neu war zu Bachs Zeit das Übergreifen der einen Hand über die andere – das machte auch mir noch Spaß und ich kam mir toll vor, z.B. bei Mozarts A-Dur-Sonate. Das Staunen, wenn irgendwas mal der Gewohnheit zuwiderläuft. Was müssen die Menschen damals gestaunt haben.)
„Goldberg-Variationen“, der Name entspringt einer posthumen Anekdote, nicht belegt aber plausibel.
Goldberg war ein ausgezeichneter Cembalist, Bach-Schüler, beschäftigt am Hof den russischen Gesandten in Wien. Nicht direkt als Schlafmittel gedacht (wie man hört) sondern zur Aufheiterung des Botschafters in schlaflosen Nächten. (Also vielleicht immense politische Bedeutung: wer weiß, was andernfalls hätte passieren können in den Beziehungen der Großmächte bei chronischer Insomnie des Botschafters?)
Das Stück ist atemberaubend durchstrukturiert nach ganz unterschiedlichen Gesichtspunkten gleichzeitig. (Man versteht, was Hermann Hesse im „Glasperlenspiel“ als das Land „Kastalien“ beschrieb, in dem das höchste Ziel die
Vereinigung vom Musik und Mathematik war - also Bach. Die Musik begann zu verfallen mit Beethovens 5. Symphonie; da begann nämlich, Hesse zufolge, die „rauschende Musik“, weil Beethoven die Blechbläser verstärkt hatte.) 30 Variationen (10 Dreiergruppen), jede dritte ein Kanon in den Oberstimmen, bei jedem der Tonabstand der beiden Stimmen um eine Sekunde größer, bis zur None, 3 x 9 = 27. (Für diese Menschen waren mathematische Formenstrenge und Gesang des Herzens keine Widersprüche.) Man wird dem Stück nicht gerecht, wenn man es nur vorbeirauschen lässt und die Virtuosität bewundert. Dennoch auch Züge von Improvisation, bewegende Dissonanzen, v.a. in den Mollvariationen. Manche Variationen den zeitgenössischen Tänzen verwandt.
Nr. 30 ist ein
„Quodlibet“. Ein Biograph (Forkel) schrieb über die festlichen Treffen der Bach’schen Großfamilie:
„Sie sangen nehmlich Volkslieder, theils von possierlichem, theils auch von schlüpfigem Inhalt zugleich miteinander aus dem Stegreif so, dass zwar die verschiedenen extemporierten Stimmen eine Art von Harmonie ausmachten, die Texte aber in jeder Stimme anderen Inhalts waren. Sie nannten diese Art Quodlibet und konnten nicht nur von ganzem Herzen dabey lachen, sondern erregten auch ein ebenso herzliches wie unwiderstehliches Lachen bey jedem, der sie hörte.“
Die Texte der „beyden Volkslieder“ dieses Quodlibet beginnen:
„I’ bin so lang / nit bei dir g’west / ruck her, ruck her, ruck her . . .“ (soviel zum "schlüpfrigen Inhalt"?) und
„Kraut und Rüben / haben mich vertrieben.“ Natürlich anspielend auf die Fallhöhe zwischen immer komplexeren Variationen zur schlichten „Aria“. Die darauf natürlich, in ursprünglicher Gestalt, wiederkehrt. Dann vielleicht sogar schlaffördernd.
Süß, nicht? Nur: das Quodlibet der Goldberg-Variationen ist absolut kein Stück der Entspannung, der Willkür sondern
streng gefügt – nur daß unsereins (ich jedenfalls) das nicht mehr einfach hören sondern nur mühsam erarbeiten kann (was freilich ganz neue Dimensionen öffnet). Wir sind ja träg geworden durch die homophone Musik, in der immer die Oberstimme führt, und, je weiter der „Fortschritt“ geht, darunter armselige Harmonik und quasi maschinell-monotones Schlagzeug.
Die Variationen ein
Spätwerk, 9 Jahre vor Bachs Tod gedruckt. Ebenso wie Beethovens monumentale Diabelli-Variationen, auch die einem eher skurrilen Anlaß zu verdanken. (Es gibt noch andere Variationen – an erster Stelle vielleicht Brahms’ Händel-Variationen, Schumanns Symphonische Etüden und Regers Bach-Variationen. (Von ihm auch Variationen über das Thema des ersten Satzes von Mozarts A-Dur-Sonate, s.o., das er aber grausam erschlagen hat mit seinem Riesenorchester.)
Auch
in der Literatur spielt das Werk eine Rolle, bei E.T.H. Hoffmann („Kreisleriana“) und Thomas Bernhard („Der Untergeher“), die ich beide nicht kenne. Und in Anna Enquists (der Psychologin und Pianistin) Roman „Kontrapunkt“. (Bachs früh verstorbener Sohn hat, so der Roman, die „Aria“ geliebt – und des Vaters Variationenwerk sei gewissermaßen ein Grabmal für den Sohn, eine Weise der Vergegenwärtigung, der Trauerarbeit. (Ähnlich wie die Chaconne für Violine Solo für seine erste Frau Anna.) Das ist fiktiv. Und die Pianistin des Romans vergegenwärtigt durch das Studium des Werks ihre tote Tochter. Weiß nicht, ob das auch fiktiv ist.)
Die berühmtesten Einspielungen des Werks stammen von
Glenn Gould. Er spielte es zweimal ein, im Abstand von ca. 25 Jahren. Die erste Einspielung dauert eine gute halbe, die zweite eine ganze Stunde. (Bei Bach gibt es keine Tempoangaben.) Er entdeckte die Langsamkeit. Schon vorher, mit dem „Wohltemperierten Klavier“. (Wobei langsame Tempi nichts mit „leicht“ zu tun haben. Bei den Meistern ist Technik nicht mehr das Problem.) Wenige Monate nach der letzten Einspielung starb er.
So far . . .
Ich find es hilfreich, sich bei manchen Werken den Kontext auf den zugänglichen Ebenen zu vergegenwärtigen. Auch bei bildender Kunst, bei Dichtung. Mit scheint, ich höre, sehe dann besser. Erinnerung an meine Faszination vor einer romanischen Kirchenfassade in Arezzo: Ich zählte die Säulenabstände auf den vier Stockwerken – und berechnete, dass ihre Verhältnisse reinen Intervallen entsprechen: Quindezim, Oktav, Quart. (Das erinnert wieder an Hindemiths Oper „Harmonia Mundi“ über das Leben Keplers, der genau diese Harmonie sah in den Planetenbahnen. Bei Hindemith hörbar im Quartenzirkel, um den ganzen Orbit.) Natürlich
eine Art von Religiosität, all das?
Nun war das auch noch O.T. Mea culpa . . .
Aber mit
Glück hat’s ja irgendwas zu tun? Kommt mir so vor.
Schönen Abend,
herzlich
Windpferd