PS: Zu Deinem Beispiel - Du siehst eine Freundin mit einem fremden Mann knutschen, und nachher stellt sich heraus, die Beiden haben sich bloß unterhalten.
Na und?
Wir haben die fixe Idee, daß es eine "objektive Realität" gebe, und wenn jemand etwas anderes sieht, dann ist da eben eine Illusion, eine Störung, eine Halluzination, eine stellvertretende Triebbefriedigung usw. Was sie Psychos sich so ausdenken.
Die "objektive Realität", klar, die sucht Wissenschaft herauszufinden. Davon halt ich sehr viel.
Aber hier geht es doch um's "echte Leben". Es gibt nicht nur die wissenschaftliche Wahrheit - z.B. auch künstlerische, religiöse usw. Auf dem Theater schieben sich doch Bilder ineinander, die, isoliert betrachtet, einander widersprechen. Oder die anscheinend selbe Darstellerin manifestiert auf ganz unterschiedliche Weise. "Ich probiere Geschichten an wie Kleider", heißt es bei Max Frisch ("Gantenbein"). Oder es wird derselbe Abschnitt von Leben aus der Perspektive verschiedener Erlebender erzählt (in "Stiller" etwa) - kaum wiederzuerkennen. Es gibt nicht "dieselben" Ereignisse.
Das ist vielleicht beängstigend. Aber es ist wohl die Wirklichkeit. Die Psychologisiererei ist ein hilfloser Versuch, hier einen festen Halt zu finden - den es nicht gibt. Und ist die Vielfalt der Erscheinungen, ihre Widersprüchlichkeit, nicht auch ein Ursprung von Spielfreude? Ja: der Möglichkeit des Spielens überhaupt?
Wie retten sich denn die SchauspielerInnen? Kürzlich las ich den Briefwechsel von Gertrud Eysoldt und Hugo von Hofmannsthal ("Der Sturm Elektra"; er hatte für sie "Elektra" geschrieben, was ein Meilenstein der Theatergeschichte war.) Sie, eine der großen Schauspielerinnen ihrer Zeit, von grenzenlosen Wandlungsfähigkeit und Leidenschaft, inmitten einer Vielfalt von Menschen, Rollen, Gefühlen: das Rettende scheinen Durchlässigkeit zu sein und direkte - ungemein differenzierte, nuancenreiche - Kommunikation mit allen zu sein. Mit sehr viel Takt und Zurückhaltung (die gerade Hofmannsthal brauchte). Und mit Treue in den unterschiedlichsten Verbindungen. Mit einer Fähigkeit, das begrifflich nicht Faßbare zu achten, dasein - ja: wachsen - zu lassen.
Am I making any sense?
Herzlich
Windpferd