Virologe Florian Krammer, Professor für Impfstoffkunde an der Icahn School of Medicine at Mount Sinai in New York, spricht über die Sinnhaftigkeit einer Impfpflicht, mögliche neue Varianten im Herbst und über die Faktoren, die die Evolution des Coronavirus antreiben.
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass es erneut zu hohen Infektionswellen mit vielen Todesopfern kommt. Die Pandemie pendelt sich ein, Sars-CoV-2 wird zu einem saisonalen Virus“, sagt Virologe
Florian Krammer, Professor für Impfstoffkunde an der Icahn School of Medicine at Mount Sinai in New York und Leiter einer der Arbeitsgruppen eines neuen Expertennetzwerks, um schnell einschätzen zu können, wie gefährlich neu entstehende Varianten sind. „Die Frage, die sich nun stellt: Wird es ein saisonales Virus wie Influenza mit immer noch vielen schweren und manchmal tödlichen Verläufen, oder wird es eines wie die schon vorhandenen vier humanen Coronaviren, die eher milde Erkrankungen verursachen?“
Wer sich im Herbst ein viertes Mal gegen Sars-CoV-2 impfen lassen will, werde das höchstwahrscheinlich schon mit den an Omikron angepassten Impftstoffen machen – „in der Hoffnung, dass sich auch der Schutz vor Ansteckungen verbessert, und nicht nur vor schweren Verläufen.“ Allerdings sei alles andere als sicher, dass sich die im Herbst und Winter dominierende Variante aus Omikron entwickeln werde, das die Entstehung von Varianten momentan „sternförmig" erfolge. Florian Krammer im Interview.
Die Presse: In unserem letzten Interview Mitte Dezember 2021 haben Sie die geplante allgemeine Impfpflicht in Österreich vehement verteidigt. Tun Sie das immer noch?
Florian Krammer: Die Impfpflicht war damals eine gute Idee, ließ sich aber nicht durchsetzen. Man kann die Menschen nicht zwingen. Mittlerweile gibt es auch keinen politischen Willen mehr, daher ist Ihre Frage leider hinfällig.
Warum war die Impfpflicht damals eine gute Idee und heute nicht mehr? Dass es Widerstand in der Bevölkerung geben würde, war ja keine große Überraschung.
Sie ist immer noch eine gute Idee. Das beste Beispiel für die Sinnhaftigkeit der Impfung sind Hongkong und Neuseeland. Beide Länder verfolgten lange Zeit eine Zero-Covid-Strategie. Dann kam Omikron und fegte durch. Während in Hongkong Kühllaster notwendig waren, um die vielen Leichen abzutransportieren, gab es in Neuseeland wenige Todesopfer. Der Grund: In Neuseeland waren fast 100 Prozent der Personen ab 80 Jahren geimpft, in Hongkong nur 30 Prozent. Diese Zahlen sprechen eine eindeutige Sprache. Aber wenn weder die Bevölkerung noch die Politik eine allgemeine Impfpflicht umsetzen will, werden Debatten darüber obsolet. Für Gesundheitspersonal hingegen sollte die Impfpflicht selbstverständlich sein.
Dann reden wir über die vierte Impfung. Wer sollte sich wann ein zweites Mal boostern lassen?
Ich schließe mich den Empfehlungen des Nationalen Impfgremiums an. Sechs Monate nach der dritten Impfung, frühestens vier Monate danach, sollten sich alle Menschen ab 80 Jahren, alle über 65-Jährigen mit relevanten Vorerkrankungen wie etwa Bluthochdruck, Diabetes, Adipositas und COPD sowie Personen mit geschwächtem Immunsystem ein viertes Mal impfen lassen. In letztere Gruppe fallen beispielsweise bestimmte Krebspatienten. Für den Rest der Bevölkerung sehe ich momentan keinen großen Vorteil in einer vierten Impfung mit den momentanen, nicht an Varianten angepassten Impfstoffen.
Ich habe vor ein paar Tagen Ihren Kollegen Hendrik Streeck aus Deutschland interviewt, er nannte die Omikron-Varianten BA2.12.1 aus New York und BA.4 bzw. BA.5 als mögliche Kandidaten, die im Herbst dominieren könnten. Stimmen Sie ihm zu?
Das ist sehr gut möglich, ja. Aber auf der Südhalbkugel beginnt gerade erst der Winter. Bis zum Herbst auf der Nordhalbkugel kann noch viel passieren.
Lässt sich generell ein bisschen abschätzen, wie es mit den Varianten weitergehen wird? Oder ist alles möglich? Also von einer Variante, die Omikron sehr ähnlich ist, bis hin zu einer Variante, die dem Wildtyp aus Wuhan gleicht?
Tatsächlich ist alles möglich, weil die Entstehung von Varianten momentan sternförmig erfolgt – ausgehend vom ursprünglichen Virus. Omikron zum Beispiel ist ja nicht aus Delta, und Delta nicht aus Alpha hervorgegangen, sondern beide aus dem Wildtyp, dem ursprünglichen Sars-CoV-2. Grundsätzlich vermuten wir, dass neue Varianten mit zahlreichen Mutationen zumeist in immungeschwächten Personen entstehen, in denen sie sich über Monate hinweg vermehren können und somit viel Zeit haben, sich zu verändern. Eine neue Variante kann also genauso gut in einer Person entstehen, die mit Delta infiziert ist.
"Eine große Gruppe an Menschen ist von der Notwendigkeit der Maßnahmen wie etwa dem Tragen von Masken und der Impfung unter keinen Umständen zu überzeugen. Das ist eine bittere Erkenntnis für mich", sagt der in New York tätige österreichische Virologe Florian Krammer. Sebastian Krammer
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Was will dieses Virus eigentlich? Will es immer ansteckender werden oder immer gefährlicher, also pathogener?
Einen „Willen“ hat das Virus natürlich nicht, aber angetrieben wird seine Evolution von zwei Faktoren: Wie leicht ist es übertragbar? Und wie gut kann es sich der Immunantwort entziehen? Vor diesen beiden ständigen Herausforderungen steht Sars-CoV-2. Die Pathogenität hingegen spielt keine große Rolle. Nun könnte man als Laie annehmen, dass sich das Virus vor allem dann rasch ausbreitet, wenn es seinen Wirt am Leben hält. Aber bekanntermaßen können Infizierte schon vor Beginn der Symptome ansteckend sein. Einem Virus, das sich so früh in der Infektion überträgt, ist es egal, ob der Wirt zwei Wochen später stirbt. In diesem Zusammenhang will ich erneut Neuseeland als Beispiel anführen. Omikron ist ja keine harmlose Variante, wie von vielen fälschlicherweise behauptet wird. Sie ist zwar etwas harmloser als Delta, aber immer noch ähnlich pathogen wie Alpha. Dass in Neuseeland dennoch wenige Menschen daran gestorben sind, ist darauf zurückzuführen, dass durch die Impfungen viel Basisimmunität in der Bevölkerung aufgebaut wurde. Worauf ich hinaus will: Selbst dann, wenn die nächste Variante deutlich pathogener sein sollte als Omikron, wird sie nicht auf eine immunologisch naive Bevölkerung treffen und sich der Schaden daher in Grenzen halten.
Was genau bedeutet das? Die Frage, die derzeit alle am meisten interessiert, lautet ja: Was erwartet uns im Herbst? Ist es möglich, dass wieder Maßnahmen zur Kontaktreduktion notwendig sein werden oder ist die Zeit der starken Beschränkungen bis hin zu einem Lockdown endgültig vorbei?
Nachdem davon auszugehen ist, dass bei starken Beschränkungen wie Lockdowns wohl niemand mehr mitmachen würde, ist ihre Zeit vorbei, ja. Ich kann mir aber ohnehin nicht vorstellen, dass es erneut zu hohen Infektionswellen mit vielen Todesopfern kommt. Die Pandemie pendelt sich ein, Sars-CoV-2 wird zu einem saisonalen Virus. Die Frage, die sich nun stellt: Wird es ein saisonales Virus wie Influenza mit immer noch vielen schweren und manchmal tödlichen Verläufen, oder wird es eines wie die schon vorhandenen vier humanen Coronaviren, die eher milde Erkrankungen verursachen? Wobei das, was ich jetzt gesagt habe, nur für immunkompetente Personen gilt. Immungeschwächte Personen, also sehr alte oder vorerkrankte Menschen, werden weiterhin gefährdet sein. Für sie müssen spezielle Vorkehrungen getroffen werden – mit Medikamenten wie etwa der Tablette Paxlovid, die innerhalb von fünf Tagen nach der Ansteckung eingenommen werden muss, um ihre Wirkung voll zu entfalten. Hier sind Ärzte ebenso gefragt wie ihre Patienten, die nach einer Infektion rasch reagieren sollten, um keine Zeit zu verlieren. Große Hoffnungen werden auch in prophylaktischen Behandlungen mit monoklonalen Antikörpern gesetzt, deren Effekt mehrere Monate anhält und die Infektionen und damit schwere Verläufe zu einem Großteil verhindern können. Ein anderes Problem ist Long Covid. Darauf habe ich aber keine Antwort. Darüber wissen wir noch zu wenig, weil die Symptome und ihre Ursachen vielschichtig sind. Daher ist es umso wichtiger, alles zu versuchen, um nicht nur schwere Verläufe zu verhindern, sondern auch Infektionen. Eine Möglichkeit dafür sind adaptierte Impfstoffe.
Was wurde denn aus den an Omikron angepassten Impfstoffen? Eigentlich sollten sie Ende April verfügbar sein. Haben sie sich als Rohrkrepierer herausgestellt?
Nein, zu Rohrkrepierer wurden sie nicht, sie kommen schon noch. Pfizer rechnet mit neuen Daten im Sommer, Moderna auch. Das Hauptproblem dürfte das Zulassungsverfahren sein. Entwickelt wurden die adaptierten Impfstoffe ja recht schnell, aber für eine Zulassung braucht es erneute klinische Studien. Bei den Grippe-Impfungen zum Beispiel ist das nicht erforderlich, sie werden jedes Jahr an die dominierenden Stämme angepasst – ohne klinische Studien. Ein rascheres und einfacheres Zulassungsverfahren wird auch bei Sars-CoV-2 notwendig werden, hier sehe ich hinsichtlich der schnelleren Verfügbarkeit von adaptierten Impfstoffen die größte Herausforderung für die kommenden Jahre.
Werden diejenigen, die sich im Herbst zum vierten Mal impfen lassen, das noch mit den „alten“ oder schon mit den adaptierten Impfstoffen machen?
Mit den adaptierten, glaube ich. In der Hoffnung, dass sich auch der Schutz vor Ansteckungen verbessert, und nicht nur vor schweren Verläufen.
Haben wenigstens dreifach Geimpfte plus Infektion einen lang anhaltenden Schutz vor erneuten Ansteckungen?
Das kommt darauf an, mit welcher Variante sie sich infiziert haben. Wenn es BA.1 oder BA.2 war und sie davor schon geimpft waren, sind sie wohl auch gegen BA.2.12.1, BA.4 und BA.5 ganz gut geschützt, zu BA.4 und BA.5 gibts da auch schon Labor-Daten aus Südafrika. Mit ganz anderen zukünftigen Varianten sieht es schon wieder anders aus, hier ist möglicherweise mit keinem einigermaßen verlässlichen Schutz vor Infektionen zu rechnen.
Eine letzte persönliche Frage: Wie lautet nach zweieinhalb Jahren Pandemie Ihre wichtigste Erkenntnis?
Wir können zur Eindämmung der Pandemie alle möglichen Maßnahmen entwickeln und einsetzen, aber wenn sie nicht vom Großteil der Bevölkerung mitgetragen werden, bringen sie allesamt nichts. In den USA sind die Motive für die Nichteinhaltung von Corona-Regeln sehr stark politisch motiviert. Eine große Gruppe an Menschen ist von der Notwendigkeit der Maßnahmen wie etwa dem Tragen von Masken und der Impfung unter keinen Umständen zu überzeugen. Das ist eine bittere Erkenntnis für mich.