Leserbrief des Vorstands der Arbeitsgemeinschaft Neurologische Begutachtung (ANB) e.V. zur im
Juni 2008 in der Zeitschrift „Der Schmerz“ publizierten interdisziplinären AWMF-Leitlinie Fibromyalgie‑
syndrom
Sichtbarmachung einer Fiktion – die neue S3-Leitlinie Fibromyalgiesyndrom
B. Widder, W. Hausotter, I. W. Husstedt, P. Marx, . HU. Puhlmann
Die „Fibromyalgie“ tauchte in der medizinischen eraturLit erstmals in den 70er Jahren des
vergangenen Jahrhunderts auf [9]. Nachdem sich gezeigt hatte, dass es sich in der Mehrzahl
der Fälle um kein entzündlich-rheumatisches Geschehen handelt, drückt der Ersatz des bis
dahin üblichen Begriffs der „Fibrositis“ durch „Fibromyalgie“ bereits seinerzeit die Hilflosigkeit
im Umgang mit dieser schwierig zu behandelnden Paientengruppe aus. So bedeutet
„Fibromyalgie“ letztlich nicht anderes als die grechisch-lateinische Umschreibung für die
Situation, dass es an vielen Stellen des Körpers - nämlich im Bindegewebe und in den Mus‑
keln - weh tut.
Zunehmend in den Blickpunkt des Interesses gerietie dFibromyalgie nach 1990, als Wolfe et
al. [15] für das American College of Rheumatology (ACR) scheinbar eindeutige diagnosti‑
sche Kriterien publizierten. Nach dieser Definitonist von einem „primären“ Fibromyalgie‑
syndrom auszugehen, wenn nach Ausschluss einer die Symptomatik erklärenden entzündli‑
chen, neoplastischen usw. Ursache (in diesem Fall „sekundäre“ Fibromyalgie) 11 von 18
„tender points“ druckschmerzhaft sind sowie zusätzlich Befindlichkeitsstörungen wie Müdig‑
keit, Schlafstörungen, funktionelle Darmstörunge,Angst usw. bestehen. Das „primäre
Fibromyalgiesyndrom“ gemäß ACR-Kriterien ist damitdie wohl einzige Krankheit, bei der die
Diagnose ausschließlich dadurch gestellt wird, dassmit dem Finger auf verschiedene Stellen
am Körper gedrückt wird, ohne dass hierfür auch eeinpathophysiologisch erklärbare Ursa‑
che dahinter stehen muss.
In den folgenden Jahren wurde zu dem neuen Krankhetsbild eine kaum mehr übersehbare
Zahl von Arbeiten publiziert, ohne dass klar herausgearbeitet werden konnte, auf welcher
konkreten Ätiologie das „Fibromyalgiesyndrom“ enberuhsoll. Im Jahr 2003 publizierte
schließlich der Erstautor der ACR-Kriterien, Frederick Wolfe, ein Editorial, worin er selbstkri‑
tisch vermerkte, dass „by ignoring the central psychosocial and distress features of the syn‑
drome and choosing instead a physical examination item, we allowed FM to be seen as
mostly a physical illness. More than that, we removed all traces of the most central features
of the illness“ [16]. Weitere Editorials in derselben Zeitschrift unterstützten diese Einschät‑
zung und bezeichnen die Fibromyalgie schlicht als „iatrogenic disease“ [2, 4].
Angesichts des Fehlens einer belegbaren pathophysiologischen Entität trotz mehr als 1.000
Publikationen hierzu [1] und angesichts der in der Medizingeschichte sicherlich seltenen Si‑
tuation, dass der Erstbeschreiber einer Krankheitsdefinition diese als Irrtum bezeichnet, hätte
man danach erwarten können, dass die Diskussion abgeschlossen ist und das „Fibromyal‑
giesyndrom“ - wie zuvor eine Reihe anderer tempoärer „Krankheitsentitäten“ (z.B. Eisen‑
bahnkrankheit, epidemische Neuromyasthenie) mit bemerkenswert ähnlicher Symptomatolo‑
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gie - im Orkus der Medizingeschichte verschwindet8, [12]. Umso überraschender erscheint,
dass die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung fürSchmerztherapie (DIVS) es für erforder‑
lich erachtete zu diesem Thema eine umfangreiche Leitlinie zu erstellen. Durch Heranzie‑
hung einzelner Vertreter anderer Fachgesellschaftenwurde diese auf S3-Niveau gehoben,
was den Eindruck einer verbindlichen und damit auchforensisch einklagbaren Leitlinie für
ein gesichertes Krankheitsbild vermittelt.
Nachdem nunmehr sogar eine Leitlinie für das „Fibromyalgiesyndrom“ vorliegt, könnte man erwarten, dass inzwischen vielleicht doch gesicherte Daten zur Ätiologie und Pathogenese dieser Erkrankung existieren. Zwar findet sich erin dLeitlinie ein entsprechendes Kapitel, das immerhin 28 mögliche Ursachen diskutiert [14]. DrLeser wird jedoch enttäuscht, denn mit Ausnahme von Angaben darüber, was nicht die Ursache des „Fibromyalgiesyndroms“ ist - insbesondere auch keine pathologischen Veränderugen in den Muskeln und Bindegewebe - , findet man mit hohem Evidenzgrad lediglich Zusammenhänge mit psychischen Erkrankun*gen (affektiven Störungen, Somatisierungsstörungen), unspezifischen Veränderungen zere*braler Transmittersysteme, wie diese bekanntlich chaubei den genannten psychischen Stö*rungen zu finden sind, Stress am Arbeitsplatz sowieeiner dysfunktionalen Krankheitsverar*beitung. Die Tatsache, dass eine familiäre Häufungohne entsprechend nachweisbare gene*tische Marker vorliegt, spricht gleichermaßen ehefür eine familiäre Konditionierung.
Wenn nun aber keine klar erkennbare Krankheitsentität vorliegt und eine „Störung der zent‑
ralen Schmerzverarbeitung“ als letztlich einziges Bindeglied des gesamten Symptomen‑
komplexes mit hohem Konsensniveau beschrieben wird,zu welchem Zweck benötigt man
dann die Diagnose des „Fibromyalgiesyndroms“? Wieer dBegriff der „zentralen Schmerz‑
verarbeitung“ impliziert, läuft diese im Zentralnervensystem - also dem Gehirn und Rücken‑
mark - ab, so dass das Krankheitsbild entsprechendden Strukturvorgaben des ICD-10-
Katalogs - je nach Blickwinkel - den „psychischen der o Verhaltensstörungen“ (F00-F99) oder
den „Krankheiten des Nervensystems“ (G00-G99) zuzuordnen ist - in diese Richtung weist
auch die aktuelle Erweiterung der somatoformen Störungen im ICD-10 Version 2009 um die
F45.41 („chronische Schmerzstörung mit somatischenund psychischen Faktoren“). Zumin‑
dest gehört die Symptomatik bei Betroffensein dr zentralen Schmerzverarbeitung keines‑
falls zu den „Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes“ des ICD-10-
Katalogs (M00-M99).
Wenn dann noch bei der Behandlung vermerkt ist, sdasin der Therapie des „Fibromyalgie‑
syndroms“ vor allem psychotherapeutische (Verhalenstherapie) und physiotherapeutische
Behandlungsansätze, kombiniert mit dem Einsatz von Psychopharmaka, Mittel der ersten
Wahl sind [11], dann entspricht dies „zufällig“ exakt den therapeutischen Maßnahmen, die
bei somatoformen Störungen gleichermaßen Mittel derWahl darstellen. Entsprechend fällt
schwer zu erkennen, warum die zumindest im psychiatrischen DSM-IV-Manual sehr präg‑
nant beschriebenen diagnostischen Kriterien für dieses Krankheitsbild nicht herangezogen
werden sollten (Übersicht 1). Sollte tatsächlich rchtig ist, dass bei einem kleinen Prozentsatz
der Betroffenen mit polytopen Schmerzen und Befindlichkeitsstörungen (15 %) [5] keinerlei
In seiner Einführung stellte der Initiator der Letlinie die Frage „Fibromyalgiesyndrom – Leitli‑
nie zu einer Fiktion?“ [7]. Diese Frage vermag abschließend nur bejaht werden.
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psychische (Ko)Morbidität besteht, wäre es wohl sinnvoller diese kleine Gruppe gesondert zu
betrachten, als durch tautologische Wortschöpfungenwie „somatoforme Schmerzstörung
vom Typ des Fibromyalgiesyndroms“ oder umgekehrt „Fibromyalgiesyndrom vom Subtyp der
somatoformen Schmerzstörung“ [7] für Verwirrung zusorgen. Angesichts der Untersuchun‑
gen von Kisely et al. [10], wonach bei mehr als 4 differenten Schmerzpunkten bzw. Befind‑
lichkeitsstörungen in mehr als der Hälfte und bi mehr als 9 - man erinnere die 11 „tender
points“ - in nahezu allen Fällen eine psychische Problematik nachzuweisent, isverbleiben
hier jedoch ohnehin Zweifel.
Übersicht 1. Charakterisierung der Schmerzstörung im Rahmen somatoformer Störungen
im DSM IV-Manual
Schmerzen in einer oder mehreren anatomischen Region(en) stehen im Vordergrund des klinischen Bildes und sind von ausreichendem Schweregrad, um klinische Beachtung zu rechtfertigen
Der Schmerz verursacht in klinisch bedeutsamer Weise Leidenszustände oder Beein*trächtigungen in sozialen, beruflichen oder anderenwichtigen Funktionsbereichen
Psychischen Faktoren kommt eine wichtige Rolleür fBeginn, Schweregrad, Exazerbation oder Aufrechterhaltung der Schmerzen zu
Das Symptom oder der Ausfall wird nicht absitlich erzeugt oder vorgetäuscht
Der Schmerz kann durch eine affektive, Angst- oder psychotische Störung nicht besser erklärt werden
Warum also der große Aufwand der Erstellung einer „S3-Leitlinie Fibromyalgiesyndrom“?
Eine negative Erklärung findet sich in den bereits genannten Editorials, wenn Nortin Hadler
[4] von der „medicalisation of misery“ und George hrlichE [2] von einer „remunerative in‑
dustry“ sprechen. Eine positive Erklärung wird devon Leitlinienautoren versucht. So wird
von ihnen argumentiert, dass bei erfolgreicher Awendung der Leitlinie „die Krankheitslast
durch die Symptome des Fibromyalgiesyndroms nachhaltig gesenkt werden“ könne [13], da
damit Befürchtungen der Betroffenen, sie könnten „psychiatrisiert“ werden, entgegen gewirkt
werden könnten [3]. Dies muss jedoch in erheblicheUmfang bezweifelt werden. Kein Arzt
käme heute auf den Gedanken, z.B. bei einer Leukämie die zugrunde liegende Krankheit zu
verheimlichen und die Behandlung unter einer anderen Diagnose durchzuführen, nur um den
Patienten damit nicht zu beunruhigen. Oder, wie George Ehrlich in seinem Editorial vermerk‑
te: „one cannot really treat non-dieases“. Es ist daher im Gegenteil zu befürchten, dass die
Leitlinie die bei den meisten Patienten mit „Fibromyalgiesyndrom“ häufig bereits bestehende
Konditionierung in Richtung auf ein vordergründig somatisches Krankheitsbild („meine
Fibro“) einschließlich der damit verbundenen sozialmedizinischen Folgen weiter verstärkt,
und es damit noch schwieriger werden wird, die Betroffenen vom Nutzen einer sachgerech‑
ten, diagnosegeleiteten (!) Therapie mit den Schwerpunkten Verhaltenstherapie, aktivieren‑
der Physiotherapie und Behandlung mit Psychopharmaka zu überzeugen.
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Literatur
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10 Kisely S, Goldberg D, Simon G (1997) A comparison between somatic symptoms with and without clear organic cause: results of an iternational study. Psychol Med 27: 1011- 1019
11 Klement A, Häuser W, Brückle W et al. (2008) Allgemeine Behandlungsgrundsätze, Ver*sorgungskoordination und Patientenschulung beim Fibromyalgiesyndrom und chroni*schen Schmerzen in mehreren Körperregionen. Schmerz(2008) 22: 283-294
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Schiltenwolf M, Eich W, Schmale-Grete R, HäuserW (2008) Ziele der Leitlinie zur Dia*gnostik und Therapie des Fibromyalgiesyndroms. Schmerz 22: 241-243
13 Sommer C, Häuser W, Gerhold K et al. (2008) Ätiopathogenese und Pathophysiologie des Fibromylagiesyndroms und chronischer Schmerzenin mehreren Körperregionen. Schmerz 22: 267-282
14 Wolfe F, Smythe HA, Yunus MB et al. (1990) The American College of Rheumatology 1990 criteria for the classification of fibromyalgia: report of the multicenter criteria commit*tee. Arthritis Rheum 33: 160-172
15 Wolfe F (2003) Stop using the ACR criteria inhetclinic (editorial). J Rheumatol 30: 1671- 1672
Für die Autoren
Prof. Dr. Dr. Bernhard Widder
Klinik für Neurologie und Neurologische Rehablitation
Bezirkskrankenhaus Günzburg
Ludwig-Heilmeyer-Straße 2
D-89312 Günzburg