'Wenn die Seele Trauer trägt'
Vox thematisiert im Spiegel-TV-Format das Thema Depressionen
Vorgestellt werden Prominente (Danke!) und Menschen wie du und ich. Zu den Prominenten gehören der Sänger von Pur, der Gitarrist von Rammstein, Sven Hannawald, Gunter Gabriel, Robert Enke.
Zu den Normalos (wer ist das schon?) zählen zwei junge Mädchen.
Eine, deren Magersucht therapiert wird, eine, die sich 'ritzt' und lernen soll, sich selbst zu akzeptieren.
Letztere wird gerade zur Krisensitzung gebeten. Der Psychologe erläutert ihr, sie müsse jetzt 'zur nächsten Therapiestufe' übergehen.
Sie solle auf die Straße gehen. Sie fühlt sich nicht dazu bereit. Er sagt: "Wenn es nur um die Absicherung geht. Einen geschützten Raum, den kannst du überall haben. Hier geht es anders zu. Das Programm erfordert einen nächsten Schritt."
Ich frage mich: Das Programm, oder das Mädchen? Sie sieht nicht so aus, als empfände sie diese Bereitschaft auch.
Die Hände des Psychologen zittern leicht. Vielleicht hat er Probleme mit der auf ihn gerichteten Kamera. Vielleicht hat er auch Probleme mit Alkohol. Während er spricht, flehe ich in Gedanken: 'Tu etwas. Ich möchte sehen, ob du einen Intentionstremor hast.'
Er könnte auch an Parkinson leiden.
Der Betreuer nimmt das Wort. Während er mit dem Mädchen spricht, sind seine Arme vor der Brust verschränkt. Hat ihm nie jemand gesagt, wie wichtig Körpersprache ist? Diese Haltung symbolisiert Ablehnung. Davon hat das Mädchen genug.
Später wird dieses Mädchen nochmals gezeigt, als sie - wieder einmal - gescheitert ist. Sie schluckte eine Rasierklinge.
Die Psychologin der Einrichtung meint: "Sie wollte sich und sie wollte auch uns bestrafen. Das alte Thema - warum habt ihr mich allein gelassen?"
Das frage ich mich auch: Warum habt ihr sie allein gelassen?
Das zweite Mädchen ist sehr schön, in einem elfenhaften, ätherischen Sinne. Sie findet sich dick.Sie hungert. Sie bestraft sich für, ihrer Meinung
nach, mangelhafte Leistung. Manches kommt mir bekannt vor. Zum Beispiel dann, wenn sie nach dem Essen stehen bleibt, ca. eine Stunde lang.
Sie will sich nicht hinlegen. Mir ging es gewöhnlich nicht um den Kalorienverbrauch, aber wenn ich mich hinlegte, hatte ich mindestens ein Buch unterm Arm. Meist mehr. Ich lernte und las in Komplexen. Meist einen Roman und zwei oder drei Fachbücher, die die Thematik des ersten Buches auf wissenschaftlicher Ebene vertieften. Ich bin von 'Effizienz' geradezu besessen. Leistungsdruck und -orientiertheit gehören zum Krankheitsbild dazu.
Ich hatte eine Entschuldigung fürs hungern. Ich modelte. Nicht in der Oberliga, aber immerhin. Wenn man damit Geld verdient, sieht es jeder ein,
dass man hungert. Grundsätzlich geht es mir während der Nahrungskarenz besser. Der Krebs läßt nicht viel zu, was gegessen werden könnte.
Zumindest dann nicht, wenn es bezahlbar sein soll. Auch dann nicht, wenn ich in meinem unmittelbaren Wohnumfeld einkaufen möchte.
Wasser gibt es nur in Plastikflaschen. Obstsäfte auch. Unbegreiflicherweise sind es gerade minderwertige Nektare, die ich in Glasflaschen erhalte. Merkwürdig.
Das annorektische Mädchen soll lernen, zu und in einer bestimmten Zeit zu essen. Sie verspätet sich. Der Teller steht noch da. In Plastikfolie eingewickelt. Weichmacher. Weichmacher verändern die Körperchemie. Weichmacher produzieren Krebs. Menschen mit psychischen Problemen sollten besonders auf die Ernährung achten.
Warum tun die das? Ist es schlicht Nichtwissen oder einfach Ignoranz. Ist diesen Menschen nicht klar, wie instabil unser seelisches Gleichgewicht ist und wie abhängig das, was wir sind von dem, was wir uns zuführen.
Sven Hannawald spricht über seine Karriere und über ihr Ende. Ein schöner kluger Mann, der fähig ist, seine Situation zu reflektieren.
Er, der Rammstein-Sänger und Robert Enke kommen aus dem Osten. Ist der Osten für Depressionen anfälliger? Man hat mir öfter vorgehalten, ich/wir wäre/n extrem leistungsorientiert.
Als ich nach der Krebsdiagnose zunächst eine Beratungsstelle aufsuche, meint die Psychologin zu mir, nachdem ich ihr meine Sorgen
geschildert habe: "Ich habe den Eindruck, für Sie ist alles wichtiger, als Sie selbst." Ich verstehe das nicht. Schließlich gibt es so vieles in dieser
Situation, was beachtet werden muss, so viel zu regeln, für die anderen, die die bleiben werden. Ich bin nicht wichtig - egal, ob ich lebe oder sterbe...
Meine Depression gilt als 'reaktiv'. Ich reagierte in dieser depressiven Form auf meine Krebserkrankung und die, damit einhergehende
Verstümmelung. Mein Körper ist wichtig. Er war schön. Er war ein Instrument, um mit meiner Umwelt in Kontakt zu treten. Körperliche Nähe ist mir durchaus angenehm. Darauf werde ich den Rest meines Lebens verzichten. Das ist Grund genug um deprimiert zu sein.
Depressionen können jeden treffen. Im Beitrag wird deutlich, dass auch Prominenz, auch Erfolg, auch Können und Talent nicht ausreichen,
um einen Menschen vor Depressionen zu bewahren. Im Gegenteil, gerade Ehrgeiz und Leistungsbereitschaft scheinen prädisponierend zu sein.
Von Marilyn Monroe ist die Aussage überliefert "Ich wünschte, ich wäre tot." Sie litt Zeit ihres Lebens darunter, nicht genügend geliebt zu werden. Viele Schauspieler/innen kennen das. Sie geben alles - auf der Leinwand. Sie werden hochgelobt und mit Zuwendung überhäuft, denn sie müssen funktionieren. Sie sind Geldmaschinen - Romy Schneider, wie der kleine Knut (dem ja auch schon Depressionen bescheinigt wurden).
Überdurchschnittlich vielen Künstlern wird eine depressive Persönlichkeit nachgesagt. Kafka und Rilke werden hier nicht angesprochen, aber
Vincent van Gogh steht stellvertretend für viele. Manche entstammen Familien, die auffällig viele Selbstmörder vorzuweisen haben.
Ernest Hemingway, der Marlboro-Man der amerikanischen Literatur. Sein Vater erschoss sich mit 58 Jahren. Er schaffte es zumindest 3 Jahre länger am Leben zu bleiben. Zwei Geschwister brachten sich um, seine Enkelin Margaux ebenso.
So, wie künstlerische Begabung 'Familiensache' sein kann (Fam. Bach), so wohl auch die Anfälligkeit für den Freitod.
Vielleicht handelt es sich um zwei Seiten einer Medaille. Normalität bringt nur wieder Normalität hervor. Alles, was uns an herausragenden menschlichen Leistungen geschenkt wurde, erhielten wir von Menschen, die sehr an sich und ihrer Umwelt litten.
Wären alle erfolgreich behandelt worden, wäre die Kunstwelt heute viel ärmer.
Meine alte Frage: Ist es nicht sinnvoller, Menschen, die irgendwie anders sind, eine Umwelt zu bieten, in der sie es sein können, ohne sich
ständig in Frage zu stellen und sich zu wünschen, andere zu sein, als die, die sie sind?
Eine Psychologin erwähnt 'Konversionsphänomene', posttraumatische Depressionen, die bei Kriegsteinehmern auftreten.
Hier nicht thematisiert, fällt mir aber sofort dazu ein:
Von Hitler ist bekannt, dass er an Schlaflosigkeit litt, die noch während seines Kriegseinsatzes therapiert wurde. Angeblich erhielt
er eine
Hypnose, die nicht beendet werden konnte und die gern als 'Erklärung' dafür dient, warum er zu dem wurde, der er später war.
Da sieht man mal, was daraus entstehen kann, wenn Depressionen nicht behandelt werden.
Buchtipp: Sibylle Muthesius - Flucht in die Wolken
Das literarische Zeugnis einer Mutter, die ihr Kind durch Suicid verlor. Pony leidet am, damals in den siebziger Jahren, noch recht unbekannten Borderline-Syndrom.
Das Buch enthält neben Fotos auch zahlreiche Zeugnisse von Ponys Kreativität: Collagen, Zeichnungen, Gedichte, Briefe, Tagbucheinträge...