Manipulative Auswertung von Studien und medizinische Wissenschaft
Hallo zusammen,
kürzlich habe ich einen spannenden Vortrag zum Thema gehört. Gehalten wurde er von Hans-Peter Beck-Bornholdt, Professor am Institut für Allgemeinmedizin der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf. Seit Jahren versucht Beck-Bornholdt, studierter Physiker, auf gravierende Missstände in der klinischen Forschung aufmerksam zu machen. Sein gemeinsam mit einem Kollegen verfasstes Buch
führt die gängige Praxis in der medizinischen Wissenschaft laut meiner Quelle (siehe unten) schonungslos vor.
In seinem Vortrag erzählte er, dass er durch eigene Fehler, die er als Physiker bei statistischen Auswertungen gemacht hat (seine Schiffe seien alle gesunken...
) motiviert wurde, sich mit den grundsätzlichen Fehlern zu befassen, die in diesem Bereich gemacht werden. Aus einem weiteren Buch:
(siehe auch die Rezensionen bei Amazon) zitierte er einige Beispiele, die leicht verständlich und trotz der ernsten Thematik auch recht lustig waren.
Viele der Entscheidungen im Gesundheitssystem basieren auf Studien. Eine Studie wurde von ihm speziell erwähnt, samt der Fehler und "Aussage-Verzerrungen" bei der Auswertung: Die
HOT-Studie zum Bluthochdruck. Auf dieser Studie basieren, so wie ich es verstanden habe, die heutigen Blutdruck-"Sollwerte".
Fehler in Design und Auswertung der HOT-Studie:
- Es wurden Teilnehmer nachträglich ausgeschlossen. Von rund 20.000 Patienten wurden ca. 500 ausgeschlossen, weil es angeblich Unregelmäßigkeiten gab, die jedoch nicht näher benannt wurden. Weitere ca. 500 Patienten sind aus der Nachsorge "verlorengegangen". Angesichts der Größenordnung der Studie ist das nicht mal viel. Bedenkt man jedoch, dass das positive Ergebnis der ganzen Studie auf wenigen Fällen beruht, dann ist diese Vorgehensweise doch fragwürdig.
- Die HOT-Studie wurde deutlich später beendet als geplant. Die fehlende Festlegung, über welchen Zeitraum eine Studie laufen soll, ermöglicht, den Zeitpunkt "günstig" zu wählen.
- Die Tatsache, dass bei den Nicht-Diabetikern die Sterblichkeit durch medikamentöse Blutdrucksenkung sogar stieg, wurde in der Auswertung nicht erwähnt. (Diese Aussage habe ich aus dem Vortrag so in Erinnerung, ich habe bisher bei einer Web-Recherche keine Bestätigung gefunden!)
Es handelt sich nach Aussage Bornholdts und anderer um verbreitete Fehler. Weitere grundsätzliche Fehler, die er erwähnte:
- Es werden im Studienergebnis Anteile ("Prozentzahlen") angegeben, obwohl die Fallzahlen dazu viel zu klein sind.
- Vergleich verschiedener Zeiträume, die sich nicht ohne weiteres vergleichen lassen. Beispiel: 1980 bekamen viel mehr Krebspatienten eine gute Prognose als heute, da heute bildgebende Verfahren verfügbar sind, die Fernmetastasen sehr viel zuverlässiger sichtbar machen. Trotzdem werden Krebstherapien 1980 und heute verglichen und die Studienteilnehmer dabei in Gruppen mit guter und schlechter Prognose eingeteilt.
- Vergleich bestimmter Merkmale bei Bevölkerungsgruppen, die hinsichtlich ihrer sonstigen Lebensumstände sehr unterschiedlich sind. Beispiel: Franzosen und Deutsche in Bezug auf Weinkonsum und Häufigkeit kardiovaskulärer Erkrankungen.
- Unterstellung einer bestimmten Richtung des Kausalzusammenhanges nach Feststellung einer Korrelation. Beispiel: Man stellt fest, dass Rentner mit Hund länger leben und schließt daraus, dass der Hund die Lebensdauer erhöht. Zu vermuten ist jedoch, dass sich die Gruppe der Hundebesitzer in einem gesünderen Ausgangszustand befand, denn ein Schwerkranker kann nicht unbedingt mit dem Hund spazieren gehen.
Ein weiterer Fachmann, der sich beruflich durch die medizinische Weltliteratur kämpft, ist Dr. Gerd Antes aus Freiburg. Er ist der Vorsitzende des deutschen Zentrums der Cochrane-Collaboration, eines weltweiten Experten-Netzwerkes mit dem Ziel, bei den weltweit schätzungsweise 1 Million Fachartikeln über die Ergebnisse klinischer Studien die Spreu vom Weizen zu trennen - ein "desillusionierendes Geschäft". In der riesigen Menge der Veröffentlichungen ertrinken Mediziner nach seiner Aussage förmlich.
Bornholdt weist darauf hin, dass - vor allem junge - Wissenschaftler heute aufgrund des enormen Druckes, der auf ihnen lastet (Beispiel aus der Uniklinik Eppendorf: 12 Publikationen pro Jahr für einen Assistenzarzt mit 10- bis 12-Stunden-Tag, vom Chef so "gefordert"), in eine Publikationswut fallen, die ihnen zum Lesen von Fachartikeln keine Zeit lasse. Dies gehe auch auf Kosten der Qualität der Publikationen. Die Arbeiten ließen sich meistens trotzdem in einem medizinischen Fachblatt veröffentlichen, da die Latte für die Annahme eines Artikels niedrig sei und häufig nur die statistische Signifikanz der Studie ausschlaggebend. (Kriterium dafür ist der p-Wert, auch "Irrtumswahrscheinlichkeit" genannt, das ist die Wahrscheinlichkeit dafür, dass das Ergebnis reiner Zufall war. Ist p < 5 %, gilt das Ergebnis als statistisch signifikant). Bei einer signifikanten Studie handelt es sich jedoch um ein Indiz, nicht um einen Beweis. Bei vielen Studien seien die Fallzahlen zudem viel zu niedrig, um den Effekt, der nachgewiesen werden sollte, zu messen (für die minimale Fallzahl für ein aussagekräftiges Ergebnis gibt es mathematische Verfahren).
Quellen:
Vortrag Prof. Hans-Peter Beck-Bornholdt (nach meiner Erinnerung!!!)
https://db.swr.de/upload/manuskriptdienst/wissen/wi0920032166.rtf (Richtext-Format)
Es grüßt
Kate