Kritik am ESM-Vertrag
Vertragsgestaltung
Es wird kritisiert, dass der ESM auf Dauer angelegt ist und es kein Austrittsrecht für ESM-Mitgliedstaaten gibt. Laut Völkerrecht gibt es nur die Möglichkeit zu kündigen, wenn sich die Grundlagen insgesamt verändert haben. Im Vorfeld der Abstimmung in Deutschland am 29. Juni 2012 über das Gesamtpaket der Maßnahmen zur Rettung des Euro gab es unterschiedliche Auslegungen. Die Bundesregierung vertrat die Ansicht, Interessen der einzelnen Bundesländer seien „in Angelegenheiten des ESM nicht betroffen“ und es handle sich um einen völkerrechtlichen Vertrag.
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Souveränitätsverlust
Die Mitglieder des Gouverneursrats sind Regierungsmitglieder der jeweiligen ESM-Mitglieder mit Zuständigkeit für Finanzen, womit nach Ansicht von Kritikern die jeweilige Finanz-, bzw. Budget-Souveränität in Fragen des eigenen Staatshaushaltes abgetreten wird.
Jeder Mitgliedstaat, der Hilfe durch den ESM erhält, hat ein makroökonomisches Anpassungsprogramm umzusetzen, also wirtschaftspolitische Auflagen einzuhalten (Artikel 13). Gegenüber dem ESM ist der
IWF als Gläubiger vorrangig (Präambel des Vertrages, Seite 8, Nr. 13).
Haftung und Kapitalabruf
Haftungshöhe
Kritisiert wird, dass das ESM-Kapital zunächst 700 Milliarden Euro beträgt, aber unbegrenzt erhöht werden könne. Das ginge zwar nur mit der Stimme des deutschen Vertreters, der allerdings an Weisungen des Parlaments nicht gebunden ist. Der
Bund der Steuerzahler schätzt es als unwahrscheinlich ein, dass der deutsche Finanzminister sein Veto in einer entsprechenden Euro-Notsituation einlegt. Den Bedenken wurde dadurch Rechnung getragen, dass eine solche Veränderung erst in Kraft tritt, wenn die Mitgliedstaaten den „Abschluss ihrer jeweiligen nationalen Verfahren“ vollzogen haben (Artikel 10, Absatz 1, Satz 3).
Nachforderungsmechanismus
Kritisiert wird, dass das ESM-Management restliches Haftungskapital (derzeit bis zu 620 Milliarden Euro) bereits mit einfacher Mehrheit nachfordern könne.
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Beteiligung privater Gläubiger
Die Schadensbeteiligungspflichten privater Gläubiger sind dem Bund der Steuerzahler viel zu vage. In der ESM-Vertragspräambel ist lediglich von einer Beteiligung in „Ausnahmefällen“ die Rede.
Kreditvolumen
Der
IWF und die
OECD haben wiederholt gewarnt, dass die bisher geplanten Maßnahmen des Euro-Rettungsschirms nicht ausreichen, falls große Eurostaaten in Schieflage geraten.
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Kreditvergabe
Die Tatsache, dass die Vergabe von ESM-Krediten durch den Gouverneursrat erfolgt, und hier keine objektiven, transparenten Kriterien definiert sind, wurde kritisiert. In Artikel 34 ist geregelt, dass die Mitglieder des Gouverneursrats und des Direktoriums sowie alle anderen Personen, die für den ESM tätig sind oder waren, einer beruflichen Schweigepflicht, auch gegenüber dem eigenen Mitgliedsstaat, unterliegen. Einziger Entscheidungsfaktor für eine Aktivierung des ESM sei, ob „dies unabdingbar ist, um die Stabilität des Euro-Währungsgebietes zu wahren“, was als rein subjektives, politisches Entscheidungskriterium aufgefasst wurde. Entscheidungen über die Vergabe von ESM-Mitteln sind unanfechtbar. Bei „Gefahr in Verzug“ kann die Vergabe von Krediten und Haftungen mit qualifizierter Mehrheit von 85 Prozent des Grundkapitals beschlossen werden, was kleinere Staaten nach Ansicht von Kritikern potenziell benachteiligt.
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Weitere Kritik
Deutschland
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Attac-Protestaktion anlässlich der öffentlichen Anhörung des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestages zu ESM und Fiskalvertrag
Kritik der Bundesbank Die Bundesbank warnte in einer offiziellen Stellungnahme vom 19. September 2011: „[…] Mit den Beschlüssen der Staats- und Regierungschefs des Euro-Währungsgebiets und der EU-Organe vom 21. Juli 2011 wurden an entscheidenden Stellen erneut Änderungen an den Reformvorhaben vorgenommen. Es wurde beschlossen, den Instrumentenkasten der EFSF (und des zukünftigen ESM) deutlich auszuweiten. […]
Mit diesen Beschlüssen erfolgt ein weiterer großer Schritt in Richtung gemeinschaftlicher Haftung und geringerer Disziplinierung durch die Kapitalmärkte, ohne dass im Gegenzug die Kontroll- und Einflussmöglichkeiten auf die nationalen Finanzpolitiken spürbar verstärkt werden.“
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Kritik der Rechnungshofpräsidenten Am 13. und 14. September 2011 fand in Wiesbaden die Konferenz der Rechnungshofpräsidenten des Bundes und der Länder statt. Die Teilnehmer sprachen sich dafür aus, eine wirksame, mit Prüfungsrechten ausgestattete öffentliche Finanzkontrolle des ESM einzurichten.
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Kritik des Sachverständigenrates Nach Ansicht des
Sachverständigenrates wurde mit dem Europäischen Stabilitätsmechanismus noch nicht das Problem behoben, dass die Auslösung der Restrukturierung eine politische Entscheidung bleibt.
Die Möglichkeit einer Insolvenzverschleppung besteht weiterhin, weshalb die Folgen von staatlichen Schuldenkrisen für die Gläubiger weiterhin nur schwer vorhersehbar sind.
[43] Er fordert zudem als notwendiges ergänzendes Element eine dauerhafte Entkopplung von Banken- und Schuldenkrise.
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Kritik des ifo-Instituts Die Einführung des Europäischen Stabilisierungsmechanismus wurde unter anderem vom
ifo Institut für Wirtschaftsforschung kritisiert, dessen Präsident
Hans-Werner Sinn davor warnte,
dass der Rettungsschirm für Deutschland „ein unkalkulierbares Abenteuer“ und „eine sichere Wachstumsbremse“ darstelle. Er begründete dies unter anderem damit, dass Deutschland de facto die Gewährleistung für die Schulden der anderen Eurostaaten übernehme und dadurch die
Refinanzierungskosten für den deutschen Staat steigen würden.
[45] Er plädiert für die kontrollierte Beendigung des Milliardentransfers in hilfsbedürftige Länder und kritisiert die Bundesregierung und den Bundestag dafür, durch Versäumnisse zur Forderung nach eindeutigen Kreditbedingungen den Euro zu schwächen und das europäische Einigungswerk zu gefährden.
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Kritik aus den Parteien Insbesondere der
FDP-Bundestagsabgeordnete und -Finanzpolitiker
Frank Schäffler kritisierte den Rettungsschirm vehement. Unter anderem warf er dem
Europäischen Rat vor,
„kollektive Rechtsbrüche“ der Nichtbeistandsklausel zu begehen sowie eine „wirtschaftspolitische Zentralisierung und den grenzenlosen Primat der Politik über die Wirtschaft in der Europäischen Union“ und eine „monetäre Planwirtschaft“ anzustreben.[47] Ein FDP-Mitgliederentscheid wird von ihm und anderen FDP-Politikern wie
Burkhard Hirsch vorbereitet.
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Ebenso kommt Kritik von einigen
CSU-Politikern wie beispielsweise Bundestagsabgeordneter
Peter Gauweiler, die das Vorhaben der Regierung Merkel nicht mittragen wollen.
Aus den Reihen der
Grünen meldet
Hans-Christian Ströbele erhebliche Bedenken an.
[49] Die Krise habe bereits eine historische Dimension erreicht und die Demokratie sei akut gefährdet. Die Entscheidung, ob er dem ESM zustimmen wird, werde er noch sorgfältig abwägen. Er hat den ESM in der Abstimmung abgelehnt.
Aus den Reihen der
SPD lehnen vereinzelte Politiker wie Bundestagsabgeordnete
Peter Danckert und
Swen Schulz den ESM aus verfassungsrechtlichen Gründen ab, da Parlamentsrechte aufgegeben werden.
Aus den Reihen der
Linkspartei wird der ESM insgesamt abgelehnt, da unter anderem dadurch eine falsche
Umverteilungspolitik zugunsten der internationalen Finanzspekulanten erfolgt. Eine Volksabstimmung wird gefordert.
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Weitere Kritik Der Innsbrucker Europarechtler Walter Obwexer kritisiert das Folgende: „Im Gegensatz zu anderen EU-Institutionen, wie der EU-Kommission, ist
keine parlamentarische Kontrolle vorgesehen. Es gibt auch keinen parlamentarischen Einfluss auf sein Wirken. Der ESM wird mit wenigen Ausnahmen (z. B. EuGH-Zuständigkeit bei Schlichtungsverfahren) in kein vorhandenes System der Gewaltenteilung eingebunden.
Seine Tätigkeit ist nicht öffentlich und nicht transparent.“ Das Direktorium würde somit das eingezahlte Grundkapital nach eigenem Ermessen veranlagen. Der ESM hätte zudem die Möglichkeit, Kredite aufzunehmen. Obwexer kritisiert, dass trotz dieser erlaubten Finanzgeschäfte
keine Prüfung durch den EU-Rechnungshof vorgesehen ist. Die Rechnungsprüfung erfolge laut Vertrag durch externe Prüfer, die vom Gouverneursrat beauftragt würden.
[51]
Der Vorsitzende der
Stiftung Ordnungspolitik und des
Centrums für Europäische Politik,
Lüder Gerken, kritisiert, dass der Stabilitätsmechanismus den Kern des Problems der südeuropäischen Länder nicht erfasse: Dieses liege nicht in der Staatsverschuldung allein, sondern in der Verschuldung der Gesamt
volkswirtschaft aufgrund des anhaltenden
Leistungsbilanzdefizits. Diesem könne nur durch realwirtschaftliche Reformen begegnet werden. Solche Reformen seien zwar in den vereinbarten Mechanismen vorgesehen, indem die Gewährung der Finanzhilfen an „strenge Auflagen“ geknüpft werden soll; Gerken gibt aber zu bedenken, dass diese Auflagen in der Praxis nicht mit der notwendigen Strenge durchgesetzt werden können, da die übrigen Euro-Staaten einem insolvenzgefährdeten Mitgliedstaat Finanzhilfen kaum versagen könnten und daher ihre Verhandlungsposition geschwächt sei.
Gerken sieht in dieser Verschleppung notwendiger staatsinterner Reformen die Gefahr einer dauerhaften Inanspruchnahme des Stabilitätspakts durch einige Länder und betrachtet die Maßnahmen als – nicht beabsichtigten, aber hingenommenen – Weg in die „Schuldenunion“.
[52]
Der Ökonom
Max Otte kritisierte die geplante europäische Regelung für einen Stabilisierungsmechanismus zur Euro-Absicherung und die Position von Bundeskanzlerin
Angela Merkel: „
Milliardäre und Oligarchen – das sind die Akteure, die wir ,retten'.“
[53]
Auf dem Treffen der EU-Finanzminister und Notenbankchefs in
Breslau am 17. September 2011 lehnte Bundesbankpräsident
Jens Weidmann die Anleihenkäufe durch den europäischen Rettungsfonds EFSF ab. Die Variante, den Rettungsfonds mit einer
Banklizenz auszustatten, um bei der EZB frisches Geld für Anleihenkäufe zu besorgen, negierte Weidmann mit der Begründung,
die politische Unabhängigkeit der EZB dürfe nicht zur Finanzierung von Staatsschulden herangezogen werden, „egal ob über einen Umweg oder direkt“.[54] Jedoch braucht der ESM keine Banklizenz, da er sie durch den Vertrag zugebilligt bekommt.
[55]
Kritik des Bundes der Steuerzahler Nach Bekanntwerden des Vorziehens des ESM in das Jahr 2012 forderte der
Bund der Steuerzahler am 5. Dezember 2011 den Deutschen Bundestag auf, der Schaffung eines ESM in jedem Fall die Zustimmung zu verweigern. Folgende Mechanismen des ESM wurden
gerügt:
- der ESM-Gouverneursrat kann letztlich unbegrenzt hohe Kreditsummen bewilligen;
- die Steuerzahlerbürgschaften sind damit unbegrenzt;
- kein Austrittsrecht für ESM-Mitgliedstaaten;
- unzureichende Beteiligung privater Gläubiger.
Der
Bund der Steuerzahler fürchtete um die finanzpolitische Souveränität Deutschlands. Außerdem setze die vorzeitige Einführung die nationalen Parlamente zusätzlich unter Druck.
[56]
Initiativen gegen den ESM Im überparteilichen Bündnis Bürgerwille haben sich Tausende Bürger, u. a. namhafte Personen aus Wissenschaft, Politik und Gesellschaft, zusammengeschlossen, um gegen die Euro-Rettungspolitik vorzugehen.
[57]
Unterstützt vom Bund der Steuerzahler gründeten 10 Bundestagsabgeordnete im Mai 2012 eine „Allianz gegen den ESM“. Der temporäre Rettungsschirm
EFSF müsse wie geplant 2013 auslaufen. Die dauerhafte Nachfolgeeinrichtung ESM dürfe es nicht geben, forderten die Abgeordneten
Klaus-Peter Willsch (CDU) und
Sylvia Canel (FDP).
[58]
Im Juni 2012 wandten sich 40 vornehmlich aus Forschung und Wissenschaft kommende ESM-Gegner in einer „Außerparlamentarischen Großen Anfrage“ an Bundeskanzlerin Angela Merkel. Die Anfrage wurde mit der Bitte um einen Dialog verbunden, „bevor unumkehrbare und verhängnisvolle Entscheidungen im Zusammenhang mit dem ESM und dem Fiskalpakt getroffen werden“.
[59]
Attac Aachen startete Ende Juni 2012 eine umstrittene
Postkartenaktion, die die Zustimmung zum Fiskalpakt und zum ESM mit dem
Ermächtigungsgesetz von 1933 gleichsetzte.
[60] Attac Deutschland hat sich nach Bekanntwerden der Aktion davon distanziert.
[61]
Österreich
Die österreichische Oppositionspartei
FPÖ hat angekündigt, Verfassungsklage gegen den ESM einzureichen. Dies ist nicht schon vor der endgültigen Ratifizierung geschehen, weil in Österreich erst ein Gesetz in Kraft treten muss, bevor eine Verfassungsklage möglich ist.
[62]
Niederlande
https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Datei:ESM_Demonstratie_Malieveld
ESM-Gegner in Den Haag
Die christliche Partei
ChristenUnie will nicht für den ESM stimmen. Auch die Sozialistische Partei hat angekündigt, den ESM-Vertrag abzulehnen. Der
PVV-Chef
Geert Wilders hat seine Absicht bekundet, eine einstweilige Verfügung gegen den Staat zu erwirken. Für ihn wird zu viel Macht an Brüssel abgegeben und er hält die derzeitige
Übergangsregierung für nicht ausreichend legitimiert, um einen weitreichenden Vertrag wie den zur Einrichtung des ESM zu ratifizieren.
[63]
Der Niederländische Rechnungshof bezeichnet die mangelnde Rechnungsprüfung als „wichtige Lücke“ im ESM-Vertrag.
[64]
Irland
Der irische Abgeordnete Thomas Pringle, unabhängiger Parlamentarier für den Wahlkreis Donegal South West, hat Verfassungsbeschwerde gegen den
Fiskalpakt und den ESM eingelegt.
[65]
Finnland
Die
finnische Zentrumspartei und die
Partei der Wahren Finnen haben sich beide gegen den ESM ausgesprochen.
Slowakei
Der Vorsitzende der slowakischen liberalen Partei
Sloboda a Solidarita (
Freiheit und Solidarität) und ehemalige Parlamentspräsident
Richard Sulik stimmte im Oktober 2011 gegen die Aufstockung des Euro-Rettungsschirmes und löste mit seinen Parteikollegen eine Regierungskrise aus. Am 22. Juni 2012 ist er von der in
Bayreuth tagenden
Friedrich A. von Hayek-Gesellschaft mit der
Hayek-Medaille für seinen Widerstand gegen den
Euro-Rettungsschirm ausgezeichnet worden.
[66][67]
Quelle:
Europäischer Stabilitätsmechanismus