John Elder Robison - Schau mich an!
(Mein Leben mit Asperger)
Fackelträger Vlg. GmbH, Köln 2008
Aus dem Vorwort seines Bruders Augusten Burroughs
S. 13
Gibt es denn keine richtigen Bücher für diese Menschen?, fragte ich mich.
Zu meinem Erstaunen gab es tatsächlich kaum etwas zum Thema.
Es gab ein paar wissenschaftliche Werke und einige einfachere, wenn auch klinische Texte,
die den Leuten das Gefühl vermittelten, am besten wäre es, sie würden
ihren Asperger-Kindern einen leistungsstarken Computer kaufen, und sie sollten
nicht weiter darüber nachdenken, ihnen Tischmanieren beizubringen.
Aber nichts davon hätte auch nur ansatzweise meinen Bruder beschrieben.
Prolog
S. 19 (pathologisches Verhalten?)
Würde ich mich zu einem Killer entwickeln? Ich hatte gelesen, sie wären verschlagen und würden de Leuten nicht in die Augen sehen.
Endlos grübelte ich darüber nach. Ich griff Menschen nicht an. Ich zündelte nicht. Ich quälte keine Tiere. Ich hatte nicht das Verlangen, irgendjemanden zu töten. Noch nicht. Abe vielleicht wüde das ja später kommen. Ich verbachte eine Menge Zeit damit, mich zu fragen, ob ich im Gefängnis landen würde. Ich informierte mich und stellte fest, dass die Bundes-gefängnisse angenehmer waren als die Staatsgefängnisse.
Wenn ich jemals eingesperrt würde, hofft ich, in ein Bundesgefängnis mit mittlerem Sicherheitsstatus zu kommen und nicht in ein so schreckliches Staatsgefängnis wie Attica.
S. 21(Begabungen)
Das Asperger-Syndrom ist nicht nur schlecht. Es kann einem seltene Begabungen bescheren. Manche Asperger verfügen über ein wahrhaft ungewöhnliches Verständnis für komplexe Probleme. Ein Asperger-Kind kann sich zu einem genialen Ingenieur oder Wissenschaftler entwickeln. Manche haben ein absolutes Gehör und geradezu übernatürliche musikalische Fähigkeiten.
Viele können sich so redegewandt ausdrücken, dass manche Menschen das Leiden als Kleiner-Professor-Syndrom bezeichnen. Aber lassen Sie sich davon nicht täuschen - die meisten Asperger-Kinder werden keine College-Professoren, wenn sie erwachsen sind. Erwachsenwerden kann hart sein.
S.22
Das Asperger-Syndrom ist keine Krankheit. Es ist eine Befindlichkeit. Es gibt keine Heilung, und sie ist auch nicht erforderlich.
S.55 (Thema Mitgefühl)
Tatsache ist doch, evolutionär gesehen, dass die Menschen eine angeborene Neigung haben, sich um sich selbst und ihre engsten Angehörigen zu kümmern und sie zu beschützen.
Von Natur aus kümmern wir uns doch nicht um Menschen, die wir nicht kennen. Wenn bei einem Busunglück in Brasilien zehn Menschen umkommen, empfinde ich überhaupt nichts. Mein Verstand sagt mir, dass es traurig ist, aber ich fühle mich nicht traurig. Aber dann sehe ich, dass die Leute viel Aufhebens darum machen, und das verwirrt und beunruhigt mich, weil ich anscheinend nicht genauso reagiere.
Während eines Großteils meines Lebens war anders sein gleichbedeutend mit böse sein, obwohl ich das nie von mir gedacht habe.
"Das ist ja furchtbar! Ach, mir ist so schrecklich zumute!" Manche Menschen weinen dann und können gar nicht mehr aufhören, und ich frage mich ... Empfinden sie das wirklich, oder wollen sie damit nur Aufsehen erregen? Es fällt mir sehr schwer, das zu verstehen. Menschen sterben doch in jeder Minute, auf der ganzen Welt.Wenn wir jeden Tod bedauern würden, würden
unsere kleinen Herzen doch explodieren.
Als ich älter wurde, brachte ich mir bei, mich "normal" zu verhalten. Ich beherrsche das so gut, dass ich die meisten Menschen einen ganzen Abend lang,vielleicht auch länger, zum Narren halten kann.
Aber das misslingt, wenn ich etwas höre, das bei mir eine starke emotionale Reaktion auslöst, die anders ist als das, was man erwartet. Im Nu verwandle ich mich in den Augen der anderen in den soziopathischen Killer, für den man mich schon vor vierzig Jahren hielt.
S.56 (Thema Empathie)
Vor zehn Jahren wurde ich von der Polizei angerufen:"Ihr Vater hatte einen Autounfall..."
"Scheisse, das ist schrecklich", sagte ich.
In Gedanken vergleiche ich das damit, dass ich in den Nachrichten erfahre, dass in Usbekistan
gerade ein Flugzeug abgestürzt sei. Es gebe sechsundfünfzig Tote.
"Scheisse, das ist schrecklich, sage ich.
Für einen Beobachter wäre die Reaktion auf diese beiden Ereignisse die gleiche. Aber für mich gib es einen Unterschied wie Tag und Nacht. Dass man sich um andere Menschen Sorgen macht - oder vorgibt, sich Sorgen zu machen -, ist ein angelerntes Verhalten. Es ist nur eine Art von
Empathie, vermute ich. Ich empfinde echte Empathie für meine Familie und meine besten Freunde.
Wenn ich höre, dass einem von ihnen was Schlimmes passiert ist, fühle ich mich angespannt, mir wird schlecht oder ich habe Angst. Meine Nacken-muskeln verkrampfen. Ich werde nervös.
Da ist für mich eine Art von Empathie, die "echt" ist.
Wenn irgendwas Schlimmes passiert, zeige ich zwar keinerlei physische Reaktion, aber ich reagiere dennoch auf die Nachricht. Wenn die schlechte Nachricht nicht mit einer Gefahr verbunden ist, denke ich sofort: Was kann ich tun, um die Dinge wieder in Ordnung zu bringen?
S. 58 (Taktgefühl)
Als ich älter wurde, bekam ich immer häufiger Probleme, weil ich Dinge sagte, die wahr waren, die die Leute aber nicht hören wollten. Ich wusste einfach nicht, was Taktgefühl ist.
S.261/262 (Smal Talk - Horrorthema für jeden Aperger)
Wenn jemand auf einen zugeht, signalisiert sein Aussehen normalerweise nicht irgendeine Veränderung bei seiner Frau oder seinem Sohn, und das Aussehen der meisten Menschen verändert sich von Woche zu Woche oder selbst von Monat zu Monat nicht genügend, um eine logische Basis für die Frage nach dem Gewicht zu geben. Und doch sagen die Leute diese Dinge, und die Empfänger der Worte lächeln und antworten mit ähnlichen Plattitüden wie:
"Meiner Frau geht's gut."
"Der Junge wird im Januar auf Bewährung aus der Haft entlassen."
"Ich habe mir den Magen verkleinern lassen und fünfzig Pfund abgenommen."
Und überraschenderweise fügen sie dann oft hinzu:"Danke der Nachfrage."
Woher normale Menschen wissen, welche dieser Fragen sie stellen müssen, bleibt mir ein Rätsel.
Haben sie ein besseres Gedächtnis als ich, oder ist das reine Glückssache?
Es muss eine soziale Konditionierung sein, die mir vollkommen abgeht.
Ich erkundige mich nicht nach 'der Frau', denn wenn mein Freund auf mich zukommmt, bin ich daran interessiert, mich mit i h m zu unterhalten, und der Zustand seiner Frau kommt mir gar nicht in den Sinn. Genauer gesagt: Sein Aussehen veranlasst mich nicht, mir Gedanken über das Wohlbefinden
seiner Frau zu machen. Wenn er ein guter Freund ist, gehe ich davon aus (wahrscheinlich zu Recht), dass irgendeine wesentliche Veränderung bei seiner Frau oder bei seinem Sohn ihn dazu veranlassen würde, mich und seine anderen Freunde davon in Kenntnis zu setzen. Warum sollte ich ihn also danach fragen?
S.281 (Normal werden)
Meiner Meinung nach existiert ein Kontinuum vom Autismus über das Asperger-Syndrom zur Normalität.
Im einen Extrem gibt es Kinder, die von Geburt an völlig nach innen gekehrt sind. Sie leben in ihrer eigenen Gedankenwelt, zu der Eltern und andere Menschen so gut wie keinen Zugang haben.
Am anderen Ende des Spektrums sind die Kinder, die völlig nach außen gekehrt sind. Sie sind kaum in der Lage, sich mit sich selbst zu beschäftigen oder schwierige mentale Berechnungen durchzuführen.
Solche Menschen mögen vielleicht keine guten Ingenieure abgeben, aber sie bringen es oft weit im Leben, weil eine Begabung für das Zwischenmenschliche einer der wichtigsten Erfolgsgaranten ist.
Und mittendrin gibt es Menschen wie mich - die einen funktionieren besser, die anderen weniger gut.
Wir können unseren Verstand nach innen fokussieren, und wir haben auch eine gewisse Fähigkeit, mit anderen Menschen und der Aussenwelt umzugehen.
S.282 (mentale Fähigkeiten)
Wenn ich mich an meine eigene Entwicklung erinnere, erkenne ich, dass es Zeiten gab, in denen meine Gabe, mich innerlich zu fokussieren und komplexe Berechnungen im Kopf auszuführen, sich rapide entwickelte.
Dabei nahm zwar meine Fähigkeit zu, komplexe technische und mathematische Probleme zu lösen, doch ich zog mich immer weiter von anderen Menschen zurück.
Später gab es Zeiten, in denen meine Fähigkeit, mich anderen Menschen und der Welt sprunghaft zunahm. In diesen Zeiten schien mein intensiv konzentriertes Denkvermögen zu schwinden.
Ich glaube, dass manche Kinder, die sich wie ich im mittleren oder höheren Bereich des autistischen Kontinuums befinden, nicht die richtige Anregung erhalten und sich am Ende derart nach innen wenden, dass sie in der Gesellschaft nicht funktionieren können, selbst wenn sie auf irgendeinem eng
begrenzten Gebiet wie der abstrakten Mathematik unglaublich genial sein mögen.
S. 325 (Kreativität)
Ich bin also nicht gestört. Ja, in den letzten Jahren ist mir aufgegangen, dass wir Asperger b e s s e r sind als normal! Und nun gibt mir anscheinend auch noch die Wissenschaft recht: Beiträge aus neuerer Zeit legen die Vermutung nahe, dass ein Hauch von Asperger-Syndrom ein wesentliches
Element einer sehr kreativen Genialität ist.
@Iris: Köpf den Schampus, Iris! Ich hab's dir gesagt!
Empfehlung v. John Elder: OASIS (Online Asperger Syndrome Information and Support)
udel.edu/bkirk/asperger/.
sowie:
Tony Attwood - Author of The Complete Guide to Asperger's Syndrome - A little about Tony
Dr. Temple Grandin's Official Autism Website
Optimnem: The Official Website of Daniel Tammet (Daniel Tammet)
und ferner:
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Website of John Elder Robison, author of Look Me in the Eye.