Das Herausgeberziel ist es (nach eigenen Angaben), mit ihrem populärwissenschaftlichen Werk vorurteilsfrei, wissenschaftlich fundierte Information in die Bevölkerung zu transportieren. Soweit zumindest der Anspruch.
Doch letztlich finden die Aussagen auch im Bereich der Verschwörungstheoretiker und Systemkritiker erheblichen Anklang.
Wohlwollend könnte man sagen, dass viele Informationen zu Zeiten des Schreibens des Buches noch nicht vorlagen. Doch oft verwenden die Autoren nur die Studien, die in die eigene Argumentation passen.
Selbst Stanford-Professor John P. A. Ioannidis, den Bhakdi und Reiß gerne zitieren und der quasi als „Kronzeuge“ für viele Aussagen dient, hatte in Interviews auch betont, dass die Politik mit den sofortigen drakonischen Abwehrmaßnahmen im Angesicht der akuten und unklaren Lage richtig gehandelt habe.
Zitat aus einem Interview bei The Healthcare Blog: Saurabh Jha: „Let me ask you, frankly. Did you support the lockdown?“ Ioannidis: „Let me answer, frankly. Yes. But only as a temporary measure.“ Der Stanford-Professor kam allerdings selbst in die Kritik. Er wurde für seine Studie zu „COVID-19 Antibody Seroprevalence in Santa Clara County“ teils heftig kritisiert. Damit versuchte er zu zeigen, dass die Sterberate niedriger ist als angenommen. Diese Studie von Ioannidis et al., die COVID-19 als weiter verbreitet darstellt als bis dahin angenommen, ist, um es vorsichtig auszudrücken, durchaus nicht unumstritten, doch dies wird natürlich im Buch nicht erwähnt.
Auch die möglichen Langzeitfolgen einer COVID-19-Erkrankung, wie z.B. die neurologischen Defizite, über die in China schon früh berichtet wurde, finden langsam auch den Weg nach Europa/USA und werden erst allmählich stärker beachtet. Eine Verharmlosung der Krankheit scheint deshalb kaum angebracht, bevor nicht alle Fakten auf dem Tisch liegen, alles andere wäre grob fahrlässig. Worauf ebenfalls nicht eingegangen wird, ist, dass die Menschen schon vor dem offiziellen Lockdown angefangen haben, vorsichtiger zu werden (eben gerade wegen der Horrorbilder aus Italien oder China, was sich an den Mobilitätsdaten ablesen ließ) und sich dies in sinkenden Infektionsraten niedergeschlagen hatte, bevor die Regierung überhaupt entschieden hatte.
Anderes Beispiel, das für die Relativierung der Gefährlichkeit verwendet wird, ist eine erwähnte französische Studie (SARS-CoV-2: fear versus data), die aufzeigen will, dass eine Infektion mit den gewöhnlichen Erkältungs-Coronaviren eine Mortalität von 0,8% in Frankreich habe. Problem hierbei ist, dass eine Kausalität einfach angenommen wird. Weitere Untersuchungen fehlen. Dann wird geschlussfolgert, dass die Mortalität mit SARS-CoV-2 vergleichbar sei. Die Daten stammen jedoch bis zum 2.3.2020, also noch vom Anfang der Pandemie. Eine solche Studie für seine Argumentation zu verwenden, ist mehr als fragwürdig. So heißt es selbst in der Studie: „Of course, the major flaw in this study is that the percentage of deaths attributable to the virus is not determined, but this is the case for all studies reporting respiratory virus infections, including SARS-CoV-2.“
Noch ein Beispiel (dann soll es auch genügen): Um die PCR-Tests zum Nachweis von SARS-CoV-2 in Misskredit zu bringen, erwähnen Reiß und Bhakdi die Aussage des tansanischen Staatschefs, der erwähnt hatte, dass in Tansania selbst Ziegen und Papayas Corona-positiv getestet worden sein sollen. Unerwähnt bleibt freilich, dass ein Test, der eigentlich für die Verwendung beim Menschen entwickelt und evaluiert wurde, wenn er für Ziegen, Papayas und Motoröl verwendet wird, bei positivem oder negativem Ergebnis in jedem Fall zweifelhafte Ergebnisse liefert. Auch ist nicht klar, ob das Virus z.B. auf der Frucht und im Fell der Ziege zu finden war und welcher konkrete Test überhaupt verwendet wurde.
Meinungsfreiheit hin oder her: Wir können dieses Buch nicht guten Gewissens empfehlen, auch wenn es aktuell in der Spiegel-Bestsellerliste erscheint. Kritische Töne sind durchaus nötig und die Auswirkungen von Lockdowns auf Wirtschaft und Gesellschaft müssen immer im Auge behalten werden, aber bei Verwendung von fragwürdigen Studien oder Aussagen bekommt das Ganze einen falschen Zungenschlag.
Die an einigen Stellen deutlich zu spürende Polemik gegenüber anderen Wissenschaftlern ist vollkommen unangebracht, passt aber in die Argumentationslinie. Es gibt auch Studien, die in Szenarien aufzeigen, dass eine Verzögerung von nur fünf Tagen bei den Lockdown-Maßnahmen zu einem exponentiellen Wachstum der Coronafälle in Deutschland geführt hätte (https://www.mta-dialog.de/artikel/covid-19-diskussion-der-richtigen-massnahmen.html). Eine Auseinandersetzung mit solchen Studien fehlt.