26. Februar 2003, 09:15, Neue Zürcher Zeitung
Schizophrenie und MS wegen Borrelien-infizierter Zecken?
Zürcher Hausarzt greift alte Theorie mit neuen Argumenten auf
Ein Internist aus Adliswil dokumentiert, dass Schizophrenie und multiple Sklerose weltweit dort vorherrschen, wo Borrelien von Zecken auf schwangere Frauen übertragen werden. Seine Argumentation, dieser epidemiologischen Korrelation liege eine kausale Beziehung zugrunde, stösst bei Fachleuten nicht nur auf Bewunderung.
ni. Was Markus Fritzsche, Hausarzt in Adliswil im Kanton Zürich, zu sagen hat, lässt aufhorchen. Der Internist behauptet nämlich, er kenne - im Gegensatz zu den Lehrbüchern - die wichtigste Ursache für Schizophrenie und multiple Sklerose (MS). Seiner Meinung nach werden beide Krankheiten des Zentralnervensystems durch Borrelia burgdorferi ausgelöst, jene Bakterien, die durch Zecken übertragen werden und als Borreliose oder Lyme-Krankheit nebst dem Nervensystem auch Gelenke, das Herz und weitere Organe befallen können. Dass Borrelien vereinzelt auch Symptome verursachen, die einer Schizophrenie oder MS ähneln, ist längst bekannt. Fritzsche will nun aber nachgewiesen haben, dass vor allem ungeborene Kinder von Borrelien-infizierten Müttern gefährdet sind, später einmal an Schizophrenie oder MS zu erkranken. Seine Erkenntnisse hat der Arzt in einer Fachzeitschrift publiziert.[1]
Am Anfang war der Cannabis-Rezeptor
Angefangen hatte Fritzsche Mitte der neunziger Jahre mit dem Studium der Schizophrenie. Er wusste, dass die Geisteskrankheit mit der Cannabis-Psychose eine Gemeinsamkeit hat: Beide Störungen verursachen das Gefühl, die äussere Zeit stehe still. Also suchte Fritzsche auf dem Gen des bekannten Cannabis-Rezeptors CB1, das auch andere Forscher für ein «Kandidaten-Gen» der Schizophrenie halten, nach Mutationen. In nächtelanger Arbeit durchforstete er die genetische Datenbank der George Washington University. Schliesslich wurde er 1999 fündig. Im CB1-Gen entdeckte er eine fremde DNA-Sequenz, die phylogenetisch, also während der Entwicklungsgeschichte der Säugetiere, von Borrelien ins menschliche Erbgut eingeschleust worden sein musste. Dieser DNA-Abschnitt ist nun bei jeder Person nachweisbar.
Seine Entdeckung brachte Fritzsche auf eine erste Hypothese. Nach dem biologischen Prinzip, die Entwicklung des Individuums (Ontogenese) mit der Stammesgeschichte (Phylogenese) zu vergleichen, wäre es nach Fritzsche denkbar, dass sich eine solche durch Bakterien ausgelöste Mutation im menschlichen CB1-Gen bei der Embryonalentwicklung wiederholt. Auch diese zweite Mutation, die schliesslich zur Schizophrenie führt, wäre durch Borrelien induziert. Diese Voraussage wollte Fritzsche beweisen und fragte bei Pharmafirmen um Geld nach. Doch niemand wollte ihm die veranschlagten drei Millionen Franken geben. Also suchte er nach einer anderen Möglichkeit, um seine Idee zu beweisen. Er begann, weltweit Daten über die Zeckenart Ixodes und die durch sie übertragenen Borrelien zu sammeln, bis er eine Weltkarte zeichnen konnte mit der saisonalen und lokalen Aktivität der Zecken.
Den Zecken stellte er den saisonalen Geburtenüberschuss der später an Schizophrenie erkrankten Personen gegenüber. Man weiss nämlich seit langem, dass das Schizophrenie-Risiko am höchsten ist, wenn ein Kind im Winter oder im Frühling geboren wird. Und siehe da. Fritzsche stellte fest, dass der Geburtenüberschuss in den USA, Europa und Japan die saisonale Verteilung der Zecken neun Monate zuvor widerspiegelt. Südlich der «Wallace-Linie» in Indonesien, welche die Verteilung der Zecken und Borrelien nach Australien begrenzt, war diese saisonale Korrelation schwächer. In Singapur, wo Zecken und Lyme- Krankheit nicht endemisch sind, stellte Fritzsche keinen Geburtenüberschuss fest. Wichtig für die weltweite Zeckenaktivität sind neben Lufttemperatur und Feuchtigkeit auch Zugvögel, die Zecken in nichtendemische Gebiete verschleppen.
Dass die Zeckenaktivität neun Monate vor der Geburt der späteren Schizophrenie-Kranken besonders hoch ist, hat laut Fritzsche folgende Erklärung: Anfällig für eine Borrelien-Infektion ist der Embryo kurz nach der Zeugung, wenn er sich in die Gebärmutter einnistet. Dann können die intrazellulären Bakterien in der Wirtszelle Rekombinationen von Borrelien-DNA mit dem menschlichen Erbgut verursachen - laut Fritzsche genau in jenem Genabschnitt, der für den Cannabis-Rezeptor codiert. Angetrieben werde die genetische Maschinerie in den Borrelien, die schliesslich zu besagter Mutation führt, von Gamma-Interferon, einem hormonähnlichen Signalstoff, den der Embryo ausschüttet, um sich in die Gebärmutter einzunisten. Auch den Cannabis-Rezeptor benötigt der Embryo bei der Implantation im Uterus. Das CB1-Gen wird deshalb von der embryonalen Zelle emsig exprimiert, was es für Mutationen anfällig macht. Der veränderte Cannabis-Rezeptor schliesslich löst laut Fritzsche Jahrzehnte später bei den Betroffenen die Schizophrenie aus.
Noch bedeutsamer allerdings seien seine Entdeckungen betreffend MS, betont Fritzsche. Im Gegensatz zur Schizophrenie korreliere hier die Zeckenaktivität noch besser mit der Erkrankungswahrscheinlichkeit. Das Neugeborene sei aber nicht zum Zeitpunkt der Zeugung gefährdet, sondern während seiner Geburt. Fritzsches Erklärung: Bei der Geburt kommt es zum Blutaustausch zwischen Mutter und Kind. So werde das Neugeborene mit den mütterlichen Borrelien infiziert. Wie es schliesslich zur Krankheit kommt, stellt sich der Adliswiler Hausarzt so vor: Borrelien exprimieren ein spezielles Protein (fbrp) auf ihrer Oberfläche, das für die phylogenetische Mutation auf CB1 verantwortlich ist. Die Aminosäure-Sequenz von fbrp ist zudem identisch mit einem körpereigenen Molekül: dem Gegenspieler von Interleukin-1 (IL-1) an dessen Rezeptor.
Diese molekulare Mimikry führt laut Fritzsche dazu, dass die vom Immunsystem gebildeten Antikörper gegen fbrp auch den IL-1-Rezeptor- Antagonisten angreifen. Dies erhöht die Wirkung von IL-1, einem bekannten entzündungsfördernden Zytokin bei der MS-Entstehung. Fritzsche ist von der Bedeutung von fbrp bei der MS-Entstehung so sehr überzeugt, dass er daran ist, dessen therapeutische Anwendung für über 100 000 Franken weltweit patentieren zu lassen. Er hofft, dass sich das Molekül eignet, um einen Impfstoff herzustellen. Dann könnte MS auf einfache Art verhindert werden.
Neu sei seine Borrelien-Hypothese bei MS keineswegs, betont Fritzsche. Es handle sich vielmehr um eine Wiederentdeckung. Bereits 1928 hatte der Heidelberger Forscher Gabriel Steiner im Hirn verstorbener MS-Patienten Bakterien nachgewiesen, die er - wegen deren morphologischer Ähnlichkeit mit dem Syphilis-Erreger - als Spirochäten identifizierte.[2] Zu dieser Gattung gehört auch die damals noch unbekannte Spezies Borrelia burgdorferi. Später wurde Steiners These wieder verworfen. Man vermutete, der Forscher habe Artefakte unter dem Mikroskop gesehen oder die Spirochäten hätten keinen Einfluss auf die MS-Erkrankung der Verstorbenen gehabt.
Ein bedeutender Puzzleteil in Fritzsches Argumentation für die Borrelien kommt aus Norwegen. Dort haben Wissenschafter unter der Leitung von Oystein Brorson bei zehn MS-Patienten in der Gehirn- und Rückenmarksflüssigkeit die Bakterien nachgewiesen.[3] Gefunden haben sie aber nicht mobile, Korkenzieher-förmige Borrelien, sondern deren L-Form, die als Zysten im Körper über Jahre überdauern kann, ohne vom Immunsystem erkannt zu werden. Diese «Überwinterungsform» könnte laut Fritzsche ein Grund sein, weshalb bei MS-Patienten zumeist erfolglos nach Antikörpern gegen Borrelien gesucht wird. Sie könnte aber auch erklären, weshalb die meisten Versuche, eine MS mit Antibiotika zu behandeln, bisher erfolglos blieben. Denn die gängigen Antibiotika erreichen die zystische Form der Borrelien nicht. Die zehn Patienten in Norwegen werden deshalb laut Fritzsche seit kurzem mit einer Substanz behandelt, die man bei MS noch nicht versucht hat: Hydroxychloroquin, ein altes Malariamittel.
Noch viele Ungereimtheiten
Was aber hält die Fachwelt von Fritzsches Theorien? Nicht nur scheinen seine Thesen auf den ersten Blick spekulativ. Es ist auch höchst ungewöhnlich, dass ein Hausarzt ganz allein, ohne Kontakt zu lokalen Forschern und Universitäten und ohne eigenes Labor ernsthafte Studien betreibt. Jürg Kesselring, Chefarzt der Rehabilitationsklinik Valens, ist von der «sorgfältigen Arbeit» von Kollege Fritzsche, den er notabene nicht kennt, beeindruckt. Er bescheinigt dem aussergewöhnlichen Wissenschafter auch, die relevante Literatur zu MS zu kennen. Kesselring sollte das beurteilen können, hat er doch selber ein MS-Lehrbuch geschrieben. Zudem steht er als amtierender Präsident des ärztlichen und wissenschaftlichen Beirats der Internationalen MS-Vereinigung in regem Kontakt mit andern Forschern.
Kesselring betont aber auch, dass Fritzsches Erklärungen noch reine Hypothesen seien, ein kausaler Zusammenhang zwischen Borrelien und MS habe der Hausarzt bisher nicht erbracht. Immerhin findet der Medizinprofessor den Borrelien-Ansatz so interessant, dass er darüber mit Fachkollegen diskutieren will.
Weniger beeindruckt ist Adriano Fontana von der Abteilung für klinische Immunologie am Universitätsspital Zürich. Er hält die kausale Verknüpfung von Borrelien und MS für «höchst unwahrscheinlich», und dies aus mehreren Gründen. Erst einmal müsste seiner Meinung nach bewiesen werden, dass die postulierte molekulare Mimikry von Borrelien-Eiweiss und IL-1-Rezeptor-Antagonist tatsächlich relevant ist bei der Entstehung der MS. Denn ausser IL-1 seien weitere Zytokine wie etwa der Tumor-Nekrose-Faktor in den Prozess involviert.
Überdies sind in der Vergangenheit laut Fontana bereits eine Vielzahl von Erregern (z. B. Retroviren, Masern- und Herpesviren) als Auslöser der MS vorgeschlagen worden, so auch der Hepatitis-B-Impfstoff und Mykobakterien, für welche ebenfalls eine molekulare Mimikry mit körpereigenen Strukturen postuliert wurde. Doch für keinen dieser Keime konnte bisher der Beweis erbracht werden, massgeblich an der MS-Entstehung beteiligt zu sein, betont der Immunologe. Die Wahrheit über die MS-Ursache liege wohl in einer falsch regulierten Immunreaktion, die nach einer Infektion mit verschiedenen Erregern, auch Borrelien, zur Entstehung der MS führen kann.
Gegen die pränatale Borrelien-Infektion spricht laut Fontana ebenfalls der Erbgang. Wären die Borrelien die Hauptursache der MS, müssten seiner Meinung nach eineiige Zwillinge gleich häufig erkranken. In Tat und Wahrheit liege die Übereinstimmung aber nur bei 35 Prozent.
Risiko nicht ausgeschlossen
Wulf Rössler, Professor für klinische und soziale Psychiatrie an der Universität Zürich, findet Fritzsches Arbeit zur Schizophrenie faszinierend. Wer allerdings alle Überlegungen im Detail nachvollziehen wolle, müsse gleichzeitig Infektiologe, Genetiker, Epidemiologe, Neuropathologe, Ornithologe und Historiker sein. Dies spreche für die «ungeheure Kreativität» des Hausarztes, meint Rössler, mache ihn aber auch anfällig für Spekulationen, weil kaum jemand alle Gebiete überschaue.
Ähnlich wie Fontana hält es auch Rössler für unwahrscheinlich, dass mit den Borrelien die Hauptursache für die Schizophrenie gefunden worden sei. Einen solchen Einzelfaktor gibt es seiner Meinung nach nicht. Auch gingen die meisten Schizophrenie-Experten von einem Erbgang mit mehreren beteiligten Genen aus, betont er. Dies steht in krassem Gegensatz zu Fritzsches Hypothese vom Cannabis-Rezeptor-Gen.
Fritzsche, der all diese Einwände kennt, wird nicht müde, immer neue Argumente anzuführen, die seine These stützen. Sein Fazit: Gegenwärtig kann nicht ausgeschlossen werden, dass die mütterliche Infektion mit Borrelien ein Risiko für das Ungeborene darstellt, später an MS oder Schizophrenie zu erkranken. Die Zecken-Saison beginnt im März.
[1] International Journal of Health Geographics, Online-Publikation unter
https://ij-healthgeographics.biomedcentral.com/articles/10.1186/1476-072X-1-2 https://ij-healthgeographics.biomedcentral.com/articles/10.1186/1476-072X-1-5 (2002); [2] Nervenarzt, Heft 8, 457-469 (1928); [3] Infection 29, 315-319 (2001).
Diesen Artikel finden Sie auf NZZ Online unter:
https://www.nzz.ch/2003/02/26/ft/page-article8OSJN.html
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