Das Wesen ärztlicher Professionalität wurde in den vergangenen Jahren weltweit reflektiert. Nach der Charta der medizinischen Professionalität orientiert sich die Arztprofession an drei Zielprinzipien: dem Wohl des Patienten, der Patientenautonomie und der medizinisch-sozialen Gerechtigkeit. Um diesen Idealen zu genügen, gehen Ärzte folgende Verpflichtungen („commitments“) ein: fachliche Kompetenz, Ehrlichkeit gegenüber dem Patienten, Schweigepflicht, gute Patient-Arzt-Beziehung, Verbesserung der Behandlungsqualität, Abbau von Versorgungsbarrieren, Kosteneffektivität, Wissenschaftlichkeit, Offenlegung von Interessenkonflikten, Kollegialität. Ähnliche Idealsetzungen findet man im International Code of Medical Ethics des Weltärztebundes, in der Europäischen Berufsordnung („Grundsätze ärztlicher Ethik“) und in der Berufsordnung der Bundesärztekammer.
Diese Kodizes berühren allerdings nicht das Spannungsfeld des sogenannten medizinischen Pluralismus mit der gleichzeitigen Existenz von „schulmedizinischen“ und alternativen, speziell „komplementärmedizinischen“ Therapieansätzen. Die Frage ist deshalb, wie sich ärztliche Professionalität in pluralistischem Kontext realisieren lässt: Was ist seriöse ärztliche Therapie?
Therapeutische Seriosität
Allgemein gesprochen ist eine Therapie seriös, wenn ihre Anwendung beziehungsweise Durchführung in Einklang steht mit den oben genannten Idealen und Verpflichtungen, die zur ärztlichen Professionalität gehören. Im Einzelnen zeichnet sich therapeutische Seriosität durch folgende Kriterien aus:
• gewissenhafte medizinische Arbeitsweise (etwa sorgfältige Anamnese und Befunderhebung), einschließlich Dokumentation
• kontinuierliches Bemühen um profundes medizinisches Wissen und Erkenntnisfortschritt
• Kenntnis der eigenen diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten und Grenzen; hierzu ist der Patient angemessen zu informieren
• Kenntnis der wichtigsten diagnostischen und therapeutischen Alternativen und ihrer Möglichkeiten und Grenzen; hierzu wird der Patient ebenfalls angemessen informiert
• keine polemisch überzogenen Äußerungen gegenüber therapeutischen Alternativen
• Bereitschaft zur Offenlegung und Nennung der theoretischen und empirischen Grundlagen für die eigenen Ansichten
• Respekt gegenüber der autonomen, individuellen Erkenntnisperspektive, Prioritätensetzung und freien Entscheidungsmöglichkeit des Patienten
• keine unverhältnismäßigen finanziellen Forderungen
• keine Vorspiegelung falscher Erfolgsaussichten zum Zweck eines finanziellen Vorteils oder andersartigen Profits.
Mit Veröffentlichungen zum Verhältnis von Komplementär- und Schulmedizin wurde im Deutschen Ärzteblatt seit 2004 ein Diskurs auf Augenhöhe in Gang gesetzt.
Diese Kriterienliste, die nicht abschließend ist, gilt für die Schulmedizin und die Komplementärmedizin gleichermaßen. Sie kann ein hilfreiches Maß zur Unterscheidung seriöser und unseriöser Therapien sein. Mögliche weiterführende Präzisierungen und Ergänzungen der Kriterien sind von den jeweiligen konkreten Gegebenheiten des betreffenden medizinischen Ansatzes abhängig zu machen.
Im Kontext des Pluralismus der Medizin ist ein besonders zu diskutierendes Professionalitätskriterium das der ärztlichen Wissenschaftsverpflichtung. Sie hat sich an dem spezifischen Wissenschaftscharakter der Medizin als einer praktischen Erfahrungswissenschaft mit zusätzlicher Verwendung anderer Wissenschaften zu orientieren. Nach der genannten Professionalitätscharta gründet sich das wissenschaftliche Wissen des Arztes auf externe Evidenz und ärztliche Erfahrung.
Medizinpluralismus und die Verpflichtung zu Wissenschaftlichkeit können auf den ersten Blick als ein Widerspruch erscheinen. Jedoch ist die Wissenschaft selbst schon pluralistisch in folgender Hinsicht:
Es beruhen die logisch-mathematischen Wissenschaften auf axiomatischen Festsetzungen, und es sind hierbei Alternativsysteme möglich; es bestimmen in den empirischen Wissenschaften nicht nur die Fakten die Theorien, sondern umkehrt auch die Theorien die Fakten (Einstein: „Erst die Theorie entscheidet darüber, was man beobachten kann.“); es gibt einen Pluralismus von Erklärungsmöglichkeiten mit komplementären und konkurrierenden Erklärungsmodellen und verschiedenen Modellebenen sowie auch einen Pluralismus der Evidenzarten; und es gibt in der Gemeinschaft der Wissenschaftler unterschiedliche Denkstile und Denkkollektive. Es können deshalb in mathematischen wie auch in empirischen Wissenschaften jeweils mehrere konkurrierende oder sich ergänzende Systeme und Perspektiven existieren. Dieser pluralistische Charakter der Wissenschaft erfuhr eine allgemeine Beachtung, nachdem Thomas S. Kuhn in den 1960er Jahren den Begriff des Paradigmas in das Zentrum der Wissenschaftsdiskussion gestellt und Imre Lakatos von konkurrierenden Forschungsprogrammen gesprochen hatte. Danach wurden die Pluralismen ausgerufen: 1974 deklarierte Helmut Spinner für die Wissenschaft den „Pluralismus als Erkenntnismodell“; 1976 wurden mit dem Arzneimittelgesetz der Bundesrepublik Deutschland die „Besonderen Therapierichtungen“ wie Homöopathie, Phytotherapie und Anthroposophische Medizin und damit der medizinische Pluralismus anerkannt. Seither haben auch das Sozialgesetzbuch sowie die Rechtsprechung und das juristische Schrifttum die Bedeutung des Pluralismus in der Medizin betont. Auf globaler Ebene wird der Pluralismus auch von der Weltgesundheitsorganisation gewürdigt, hier besonders die „traditionelle Medizin“, die den unterschiedlichen kulturellen Traditionen in verschiedenen Regionen der Welt Rechnung trägt.
Zu beachten ist, dass die Anerkennung des Medizinpluralismus historisch und sachlich der des Wissenschaftspluralismus nachfolgte. Gerade deshalb darf der Pluralismus der Medizin nicht mit Beliebigkeit verwechselt werden. Medizinischer Pluralismus stellt zwar das Deutungsmonopol des wissenschaftlichen Mainstreams infrage, hebt aber nicht die Wissenschaftsverpflichtung auf; er erfordert, die Prämissen und Konsequenzen des jeweiligen Konzepts offenzulegen, sie dem kritischen Diskurs auszusetzen und sie zu prüfen.
Pluralismus in der Evaluation
Ein wichtiges Prüfmittel der Medizin – für Diagnostik, Prognostik und Therapie – ist die Evaluation durch klinische Studien. Bezugsrahmen ist heute die Hierarchie der evidenzbasierten Medizin mit ihren höheren Evidenzebenen, das heißt randomisierten kontrollierten Studien (RCT) und deren Meta-analysen, und mit den tieferen Evidenzebenen, wie Beobachtungsstudien, Erfahrungsberichten, Expertenmeinungen. Allen diesen Ebenen wird eine gewisse Evidenzkraft zugesprochen. Zur Validierung diagnostischer Verfahren und zur Prädiktoranalyse werden auch andere Studien als RCT akzeptiert. Für Therapieevaluationen werden zumeist RCT gefordert, oft auch zusätzliche Evaluationen der Alltagspraxis im Sinne der Versorgungsforschung.
Angesichts des Pluralismus therapeutischer Konzepte könnte man die Auffassung vertreten, die ärztliche Wissenschaftsverpflichtung solle zumindest hinsichtlich der Evaluation einheitlich sein und sich auf RCT stützen. Nicht selten steht man allerdings vor der Situation, dass RCT nicht durchführbar sind, zum Beispiel aus ethischen oder wirtschaftlichen Gründen oder wegen unzureichender Patientenzahl oder starker Therapiepräferenz bei Ärzten oder Patienten, oder dass gerade RCT zu falschen Ergebnissen führen können, speziell in Behandlungen, die von spezifischen professionellen Fertigkeiten abhängig sind, oder dass die vorhandene Evidenz auch schon ohne RCT überzeugend ist. Es ist deswegen in einem pluralistischen Spektrum von Therapiemöglichkeiten die best evidence nicht zwangsläufig der Ausweis für best therapy. Dies gilt nicht nur für viele Teilbereiche der Komplementärmedizin, sondern auch der Schulmedizin, vor allem bei Therapien, die aus der Praxis entstanden, wie Chirurgie, Physiotherapie, Psychotherapie. Naturgemäß folgt deshalb auch die Evaluation einem eigenen Pluralismus („diversity, rather than a hierarchy“). Ob solcher Evaluationspluralismus eine Notwendigkeit ist und wie er seriös gestaltet werden könnte, ist Gegenstand kontroverser Diskussion, nicht zuletzt in Bezug auf die Komplementärmedizin.
Klinische Evaluationen und ihre systematische Auswertung (Reviews, HTA-Berichte) sind wichtig und werden zunehmend auch in der Komplementärmedizin durchgeführt (zum Beispiel 41–44), bieten aber nur eine begrenzte Urteilsgrundlage für die Therapieentscheidungen der Ärzte. Kriterien einer wissenschaftlichen Ausrichtung des konkreten Behandlungsfalls sind die rationale Erfassung der Situation des betreffenden Patienten, die ärztliche Erfahrung, die externe Evidenz und die kritische Verlaufsbeurteilung. Des Weiteren erfordert die Behandlung auch Empathie und die Berücksichtigung der Patientenperspektive.
Fachkompetenz und Dialog
Der Pluralismus der Medizin benötigt die Verpflichtung zu fachlicher Kompetenz. Hierzu gehören multidisziplinäre Kenntnisse, unter anderem aus Naturwissenschaft, Psychologie, Soziologie, Methodologie, Pathologie, aber auch Fertigkeiten in Diagnose und Therapie sowie spezialisiertes Fachwissen. Zur ärztlichen Kompetenz gehören auch die Fähigkeit zur Erzeugung einer vertrauensvollen Arzt-Patient-Beziehung, die Kooperation mit Kollegen (nicht zuletzt, wenn eigene Kompetenzgrenzen erreicht sind) und die kontinuierliche Weiter- und Fortbildung. Dies alles gilt in gleicher Weise für schul- und komplementärmedizinisch tätige Ärzte. Therapeutische Seriosität ist erst möglich auf der Basis von Fachkompetenz.
Zu einer Kompetenzsteigerung führen fachärztliche Spezialisierungen. Auch komplementärmedizinische Weiterbildungen können als ein Zugewinn an Kompetenz verstanden werden, eine Ansicht, die verbreitet sein dürfte im Bereich der ambulanten medizinischen Versorgung, wo der Einsatz von Komplementärmedizin heute von ungefähr der Hälfte der Ärzte befürwortet wird. Andererseits aber erzeugt die ausgeprägte Unterschiedlichkeit der schul- und komplementärmedizinischen Positionen nicht selten gegenseitige Abwehr und Grabenkämpfe innerhalb der Profession. Was bei fachlichen Differenzierungen innerhalb der Schulmedizin eine natürliche Folge ist – Kommunikation und Kooperation –, ist im Kontext des medizinischen Pluralismus keine Selbstverständlichkeit.
Da ärztliche Kompetenz nicht zuletzt von der Kenntnis der Reichweite und Limitierung auch anderer als nur der eigenen Perspektiven abhängt, ergibt sich aus dem medizinischen Pluralismus die Aufforderung, sich über die anderen Perspektiven und deren Leistungsfähigkeit zu informieren und den intra- und interprofessionellen paradigmenüberschreitenden Dialog einzugehen. Geeignete Orientierungsfragen hierfür sind:
• Auf welchen theoretischen Grundlagen, einschließlich Menschen- und Naturverständnis, beruht der betreffende Therapieansatz, und in welchem Verhältnis steht er zu anderen Therapiesystemen?
• Wie sehen die Vertreter dieses Therapieansatzes die Evaluationsmöglichkeiten?
• In welchem Maß bestehen Diskursfähigkeit und intersubjektive Vermittelbarkeit?
Autonomie der Patienten
Das erste Leitprinzip ärztlicher Professionalität ist das Patientenwohl (salus aegroti suprema lex), als zweites kam in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts die Beachtung der Patientenautonomie hinzu. Die Autonomie der Patienten bedeutet, dass auch deren Blick auf die Komplementärmedizin eine Berücksichtigung finden muss: Nach Umfragen wünscht sich die Mehrzahl der Patienten eine aus Schul- und Komplementärmedizin integrierte Versorgung; in der Schweiz wurde im Mai 2009 per Volksabstimmung ein Zusatz zur Verfassung beschlossen, wonach die Staatsorgane für eine angemessene Berücksichtigung der Komplementärmedizin im Medizinsystem zu sorgen haben. Wenn der künftige Ausbau der Gesundheitsversorgung diesem Patientenwillen Rechnung trägt, werden Professionalitäts- und Seriositätsgesichtspunkte vorrangige Bedeutung haben.