Grüß Dich Gerd,
um Deine Frage beantworten zu können, muß ich leider recht weit ausholen:
Meine Schulnoten in der Hauptschule waren mehr schlecht als recht. Ich schloß die 9. Klasse mit 4,3 ab.
Das war erinnerlich zu 30 % auf jugendliche Faulheit zurückzuführen.
Die anderen 70 % darauf, dass ich schon immer unter einer recht schwachen Vitalität litt.
Meine Schwester war das krasse Gegenteil von mir (sie ist 11 Monate älter als ich). Ihre Noten lagen immer bei 1, max. Note 2.
DAS hielt mein Vater mir ständig unter die Nase.
Meine Schwester machte dann noch die mittlere Reife.
Ich versuchte mit einer 2-jährigen hauswirtschaftlichen Berufsfachschule meine Noten zu verbessern, da mir auf dem Arbeitsamt gesagt wurde, dass ich mit 4,3 keinen Ausbildungsplatz fände.
Und siehe da: Ich büffelte ohne Ende und schloß die zwei Jahre mit einem Durchschnitt von 2,3 ab.
DAS wiederum brachte mir aber großen Ärger mit meinem Vater ein, denn er wollte, dass seine Mädels weder weiter zur Schule gehen, noch eine Ausbildung machen. Außerdem sollten wir zuhause kräftig mithelfen, den 7-köpfigen Haushalt mit in Schuß zu halten.
Von meinem 17. Lebensjahr also dem Beginn meiner Ausbildung bis zu meiner Heirat 1982 sah mein Alltag in etwa so aus:
Morgens um 4 Uhr aufstehen
1-2 h Bügeln
dann zur Fabrik-Arbeit (Akkord, - leider auch in der Ausbildung)
2xwöchentlich ging ich zum Frühbaden, dort trainierte ich meine Ausdauer mit einer Stunde Schnellschwimmen.
Um Kosten zu sparen fuhr ich alles mit dem Fahrrad auch im Winter.
In der Großstadt mitten in der Stadt - jede Menge Abgase...
Abends kam ich gegen 18 Uhr nach Hause, war fix und fertig, dann war aber immer noch irgendwas im Haushalt oder Garten zu tun.
Mein Vater war arbeitslos, und versmogte die Wohnung mit seinen Zigaretten, lag den ganzen Tag auf der Coch mit seinem Alkohol.
Die Ablehnung für die Ausbildung begründete er damit, dass wir ja sowieso heiraten und Kinder bekommen würden, und unseren Beruf dann eh nicht mehr ausüben würden.
Hierzu auch noch der Hinweis, dass mein Vater immer sehr hoch verschuldet war, und seine Finanzkrisen über seine verdienenden Kinder regeln wollte.
Ab Dato unseres Verdienstes, mußte jeder 50% seines Lohnes als „Kostgeld“ abgeben. Auch Kleidung und Essen war ab sofort nicht mehr Elternsache.
Dennoch setzten wir uns durch.
Meine Schwester wurde Chefsekretärin, ich machte die Ausbildung als Schneiderin, schloß auch mit recht guten Noten ab.
Und dann kam es, wie mein Vater gesagt hat:
Wir heiraten.
Meine Schwester bekam Kinder und übte ihren Beruf nicht mehr aus.
Ich bekam zwar keine Kinder, aber ich kränkelte und kränkelte mit meinem multiblen Beschwerdebild. Hatte über viele Jahre hinweg nur kurzfristige Jobs wie Mutterschaftsvertretung in Haushalten oder sonstige Putzstellen.
Meinen Schneiderberuf konnte ich nicht mehr ausüben, da durch Heirat/Umzug in der neuen Umgebung keine entsprechenden Firmen da waren.
Mein Vater erschien bei MEINER Heirat NICHT.
Ich trug noch den restlichen Kredit ab, den ich für ihn auf meinen Namen aufgenommen hatte, und dann sahen wir uns 19 Jahre nicht mehr.
Auch kein Telefonat, nichts.
Irgendwann meldete er sich dann. Im Jahr 2000 dann unser 1. Treffen (ich war damals 39) Es fiel recht frostig aus. Er unterhielt sich mit uns über seine Vergangenheit, entschuldigte sich auch, aber er sprach im Grunde mehr mit meinem Mann.
Ich selbst fühlte mich gar nicht anwesen, er ignorierte mich.
Mein Mann bestätigte später meinen Eindruck.
Die Schneiderei war damals schon recht groß. (Kurz darauf wurde mein Mann arbeitslos.)
Meine Arbeit, meine Erfolge, all das interessierte ihn nicht.
„Ich kann mir vorstellen, dass da bei Euch ganz schöne „der Rubel rollt““, meinte er.
Erst später kapierten wir, was die eigentliche Ursache seines Besuches war: Er sah sich ins Alter kommen, (er war zu dieser Zeit 61 Jahre alt) wußte, dass durch seinen langjährigen Berufsausfall sein Alter alles andere als angenehm werden würde.
Dennoch: Wir ließen den Zutritt zu uns zu. Ich führte dann über mehrere Jahre aufgrund der Entfernung eher Telefonate mit ihm.
In diesen Gesprächen dauerte es jeweils nicht lange, bis es immer wieder zu einer Kette von Vorwürfen kam, wie:
Tja Moni, du warst halt immer unser Sorgenkind.
Was mußten wir wegen Dir alles Regeln!
Deine vielen Unfälle!
Deine schlechten Noten.!
Warst halt auch recht faul!
Hast halt nur gemacht, was Dir Spaß gemacht hat!
Trotz Deiner schlechten Noten mußtest Du ja unbedingt eine Ausbildung machen. (Die 2 Jahre zählten nicht)
Wenn Du diesen lieben Mann nicht gefunden hättest, dann wärst Du auf der Strecke geblieben.
Deine Schneiderei würdest Du ohne ihn niemals schaffen.
Die Leute mögen Deinen Mann sicherlich sehr.
Letzteres hatte wohl eher was mit seiner Homosexualität zu tun, meint mein Mann.
Tja Gerd, den letzten Kontakt mit meinem Vater hatte ich im Herbst 2013. Da war ich eine Woche bei ihm und habe seine Messi-Wohnung sauber gemacht.
Auf dem Balkon war die reinste Müllhalde.
Da waren Taschen, in denen sich braune Soße bewegt hat. Die reinste Gülle.
Es war ein Kraftakt, diese eine Woche, aber ich wollte wirklich ganz aufrichtig helfen.
Bemühte mich um neue Ordnung, machte Kisten mit Aufschriften.
Am nächsten Tag waren sie alle weggerissen.
„Ich lasse mir doch von DIR nichts vorschreiben!“
Wieder zuhause machte ich beruflich wieder schlapp, weil ich extrem über meine Kräfte gegangen bin.
Wieder im Gespräch mit ihm am Telefon erzählte ich ihm davon, dass ich die Schneiderei kräftemäßig nur noch schwer schaffe.
Seine Antwort:
„Hab mir schon gedacht, dass Du das nicht mehr lange durchhältst. Seit Dein Mann wieder arbeitet, entfällt Dir ja Hilfe. Du allein hättest es ja doch nicht geschafft..“
Mein Mann hörte am Telefon zu und meinte: „Jetzt reichts.“
Er führte das letzte Gespräch mit ihm. Aufgrund seiner fortschreitenden Alzheimer-Erkrankung ist nun eh keine Klärung mehr möglich.
Vielen Dank Gerd
LG
Eshita
Malk,
wie alt bist Du? Bin mir nicht so ganz im klaren, was ich mit meinen 53 Jahren noch erwarten kann.
Nachdem ich dermaßen mein Pulver verschossen habe, tendiere ich Gegenwärtig eher mal zur Schadensbegrenzung.
Fühle mich wie vor einem Scherbenhaufen, bei dem es herauszufinden gilt, was man noch retten kann, was sich noch lohnt, und was wohl eher nicht mehr.
Wenn ich Dich richtig verstehe, dann hattest Du ebenfalls ein Elternhaus, das großen Einfluß auf den Umgang mit Deinem Beruf hatte – egal welcher Beruf es gewesen wäre?
Ja, ich denke in meinem Fall auch, dass jeder andere Beruf irgendwann dieselbe Fragestellung erbracht hätte.
Du hast das für Dich selbst wirklich gut erkannt, meine Hochachtung.
Dann hast Du bis heute an Deinem Beruf nicht wirklich Freude? Er ist eher Mittel zum Zweck, um Kosten decken zu können?
Das ist aber auch nicht gerade toll, oder?
Auch Dir vielen Dank für Dein Schreiben
LG Eshita