Windpferd
ES WERDE LICHT
Das schwimmende Krankenhaus vor Westafrika
Das schwimmende Krankenhaus vor Westafrika
Grauer Star – kein Problem bei uns; häufig, wenn man alt wird. Die häufigste OP überhaupt, ca. 15 Minuten, schmerzfrei, 1 Tag Verband – dann, auch in leichteren Fällen, Erstaunen, wie scharf die Konturen dieser Welt sind, wie intensiv die Farben . . .
Nun stelle man sich vor, man lebe in einem ganz anderen Land. Der Graue Star seit frühester Kindheit und zwar knapp 100% - Schwärze. Die Familie lebt jenseits der Hungergrenze, sie kann es sich nicht leisten, noch einen mitzufüttern, der nicht arbeiten kann. Der Vater überlegt, dich zu ertränken; das ist häufig hier. Die Kindersterblichkeit hier ist sowieso knapp 200 auf 1000. Die Mutter ist dagegen. Freilich gibt es Ärzte: 4 (i.W. vier) sogar. Für 1 Million Menschen. Von denen garantiert keiner die Star-OP beherrscht.
Oder: Ein Mädchen entbindet, viel zu unentwickelt, zudem seit frühester Kindheit unter- und fehlernährt. Die Geburt unvorstellbar, über etliche Tage, das Neugeborene natürlich tot. Folge: vesiculo-vaginale oder / und recto-vaginale Fistel, d.h. Harn- oder / und Stuhlinkontinenz. (Durch den viel zu langen Druck gegen Scham- und evtl. Steißbein wurde das Gewebe nicht mehr durchblutet – es wird nekrotisch und reißt.) In letzterem Fall drohen Infektionen, zuletzt Sepsis; in jedem Fall stinkt es so, dass man aus den Wohnquartieren vertrieben wird. Alles in einem gläubigen Land: Krankheiten sind durch Geister oder Hexer oder durch eigene Sünde verursacht, klar. Kranke werden verhöhnt. Im goldenen Westen kennt der Arzt derartige Fisteln nur aus Lehrbüchern. (Die WHO schätzt die Zahl der daran erkrankten Frauen auf über 2 Mio weltweit; hohe Dunkelziffer, da sehr schambelastet.) Man kann operieren (gelingt nicht immer beim ersten Versuch), aber garantiert nicht in dem Land, das wir uns gerade vorstellen.
Nun überschreitet die Erzählung unvermeidlich die Kitschgrenze. Nämlich erfährt man per Buschtrommel usw., es werde ein Schiff kommen – von dem man vielleicht schon mal gehört hat in einem Märchen - mit Menschen, die einen tatsächlich berühren (das gab’s Jahre nicht mehr für Ausgestoßene!), einer von denen betäubt dann die Kranken, dann schneiden sie ihn auf, legen irgendwas rein (erzählt das Märchen), nähen zu, und den Kranken geht’s sehr schnell oder auch langsam besser. Sie SEHEN (was ganz unvorstellbar ist); andere lernen, ihre Ausscheidungen zu kontrollieren. Sie werden wieder in die Gemeinschaft aufgenommen. Natürlich ist es viel zu weit zum Hafen, aber erstaunlicherweise ist das organisiert, es gibt Karren oder wenigstens Begleiter.
Das Schiff ist dann ganz real. Es heißt „Africa Mercy“. (Allerdings können wir noch nicht lesen.) Eine umgebaute Eisenbahnfähre, 150 m lang, 8 Decks, gut 16.000 Bruttoregistertonnen (die Tonnage eines kleineren Kreuzers aus der Zeit der Weltkriege), 1.700 cbm Laderaum, 5 OP-Säle, Intensivstation, Labor, CT, MRT, über 80 Betten. Ca. 8000 OPs / Jahr. Kosten des Umbaus 45 Mio US$. Peinlich saubere Baracken am Ufer für OP-Vorbereitung und Nachsorge (dort nochmal 150 Betten). Ärzte, Schwestern, Pfleger, Techniker (natürlich auch Seeleute, Ingenieure, Maschinisten, allerlei Techniker, Köche, Friseure, Tellerwäscher - absolut alles, was denkbar ist, so scheint es) aus ca. 40 verschiedenen Ländern.
Nicht nur, dass die Patienten nichts bezahlen (was eh unmöglich wär). Stattdessen bezahlt die gesamte Mannschaft des Schiffes. Sie bezahlen pro Person 680 US$ (400 €) pro Monat für Unterkunft und Verpflegung, dazu alle Versicherungen, die gesetzlich vorgeschriebenen Impfungen (leider viele) und die Flüge zum Anfangs- und Endpunkt der Reise. (Wer länger als 2 Jahre bleibt, zahlt nur noch 525 US$.) Die sind derzeit immer in Westafrika. (Das Schiff legt dort in 12 Ländern an, bis kommenden Juni in Kongo-Brazzaville.) Also bisschen mehr als „ehrenamtlich“. Wer nicht genügend Geld hat, erhält von dem nationalen Büro Unterstützung zum Spendensammeln.
„ES WERDE LICHT“ (tja, auch jenseits der Kitschgrenze – ach wir ästhetischen Sensibelchen!) – so sprach Jahwe, als es ihm zu finster war in seinem Schöpfungs-Tohuwabohu. („Wüst und leer“ bedeutet dieses hebräische Wort in der Genesis – vielleicht eine gute Beschreibung der Weltsicht ausgestoßener Blinder?) Jetzt müssen halt Menschen dafür sorgen, dass Licht werde, für einige von ihnen. Es ist dies der Titel eines Berichts im „Süddeutsche Zeitung Magazin“ Nr. 49 vom 6. 12. 2013, S. 62 – 78. Durch diesen Bericht hab ich zum ersten Mal von diesem Schiff gehört – beschämend. Der Artikel ist nachzulesen im Archiv der SZ unter
https://www.sspdiz.apa.at/sitesearchplus/restricted/Fulltext.act?doc=EGHTHGWPOEOWPAGSAPOEAEP&back=Search_showSearch&searchCategory=0;
um ihn wirklich lesen zu können, muß man sich registrieren, was kostenlos ist. Ich trau mich nicht, ihn hier reinzukopieren; wär wohl ein Verstoß gegen das Urheberrecht. – Übrigens, aus zahllosen Filmclips während der Recherche hat der Autor einen Film gemacht, „den Sie diese Woche in unserer App für iPhone, iPad und Android sehen können“. So die SZ. Hmm. (Keine Ahnung, was das alles wieder sein soll.)
Ohnehin kann man sich besser informieren beim Zentrum der Organisation „Mercy Ships“ in Texas;
https://www.mercyships.org,
ferner in dem Schweizer Büro in Lausanne:
https://www.mercyships.ch/news/single-news/datum/2013/08/01/mercy-ships-open-house-copy-1.html, in dem Büro für Österreich und Deutschland in Kaufbeuren:
https://www.mercyships.de/downloads/newsletter/newsletter-archiv.html
und schließlich auch auf Youtube:
https://www.youtube.com/watch?v=qu73D_VCB1w.
Eine wichtige Zweigstelle ist in den Niederlanden; dort finden Trainingswochenenden für Bewerber statt, auf einem echten Schiff. (Das nächste 4. - 6. 4. 2014)
Mercy Ships wurde 1978 von Don Stephens in Lausanne gegründet. Es gibt gut 1000 professionelle Mitarbeiter; der Jahresetat ist gut 2 Milliarden US$. MS Africa Mercy ist das 4. Hospitalschiff von Mercy Ships. Es wird viel Wert gelegt auf Kooperation mit anderen NGOs und lokalen Behörden; in einigen der Gastländer haben die Mitarbeiter von Mercy Ships Diplomatenstatus. Neben dem Betrieb dieses schwimmenden Krankenhauses gibt es eine Vielzahl anderer Aktivitäten und Projekte von Mercy Ships: Biologische und nachhaltige Landwirtschaft, Bau von Brunnen (an der afrikanischen Westküste gibt es reines Wasser für 25% der Landbevölkerung) und Sanitäranlagen (derzeit für weniger als 10%), Weiterbildung für einheimische Ärzte, Aufklärung über gesunde Ernährung und Einübung von Zahnhygiene, AIDS-Prophylaxe, Vergabe von Mikrokrediten. Die chirurgischen und pharmakotherapeutischen Möglichkeiten sind durch die Kompetenz der Ärzte, die technischen und finanziellen Möglichkeiten beschränkt, entsprechen aber in diesen Grenzen westlichen Standards. Es gibt Ansätze zur palliativen Versorgung. Man legt viel Wert auf flache Hierarchien, auf gutes Einvernehmen zwischen allen Mitarbeitern. An Bord sind 50 – 55 Kinder der Crew; eine „Academy“ in Texas bildet Erzieher / Lehrer für die Kinder aus. Zahlreiche Paare; z.T. haben die einander auf dem Schiff kennengelernt. Die Idee und Motivation sind christlich. Soweit ich erkennen kann, wird nicht missioniert. Sehr pragmatisch und – nach meinem Eindruck – verblüffend durchdacht und hochprofessionell.
Der Gründer hat mehrere Bücher geschrieben, zuletzt
https://books.google.de/books?id=iTbHG8AD3xEC&printsec=frontcover&dq=Mercy+Ships&hl=de&sa=X&ei=LDqaUeWeGoKHPbitgKgM&ved=0CCgQ6AEwAQ#v=onepage&q=Mercy%20Ships&f=false
Manches wäre noch zu berichten, v.a. über die Bedingungen und Möglichkeiten der Mitarbeit. Diese ist bei weitem nicht auf das Schiff beschränkt.
Das Durcharbeiten dieses Materials hat mich - ja: glücklich gemacht. Vielleicht muß, wer auf der Africa Mercy arbeitet, nicht mehr nach dem "Sinn des Lebens" fragen. Am meisten berührt mich die Bemerkung eines alten Arztes dort: "Hope must be tangible."
Morgen vielleicht mehr.
Gute Nacht,
Windpferd