Mischwesen Mensch:
Volkszählung für die Untermieter des Körpers
Der Mensch ist im eigenen Körper in der Minderheit. Zehn Mal mehr Mikroben als Körperzellen trägt er in sich - und die sind weitgehend unbekannt. In einem Großprojekt wollen Forscher die unzähligen Untermieter jetzt enttarnen.
Kein Mensch war je allein. Schon auf dem Weg durch den Geburtskanal bekommt er Gesellschaft. Bakterien vom Körper der Mutter ergreifen Besitz vom neuen Erdenbürger. Die Winzlinge siedeln auf der Haut, wandern in den Mund, lassen sich im Darm nieder.
Bis zu seinem Tod bleibt der Mensch ein wandelndes Biotop. Auf jede Körperzelle kommen rechnerisch zehn Mikroben. In einem Milliliter Darminhalt tummeln sich eine Billion Lebewesen: also 1 000 000 000 000 Exemplare. Manche von ihnen stellen Vitamine her, andere regeln Teile der Verdauung. Im Gegenzug erhalten sie Nahrung und einen warmen Brutplatz.
Allerdings haben die großen Wirte kaum einen Schimmer, wer genau sie da auf Schritt und Tritt begleitet. "Wir tragen an die zwei Kilogramm Bakterien in uns herum", sagt der Genetiker Dusko Ehrlich vom Institut national de la recherche agronomique im französischen Jouy-en-Josas. "Sie bilden ein Organ, das schwerer ist als unser Gehirn - aber wir wissen nicht, was sie in uns anstellen."
Mit herkömmlichen Verfahren lassen sich nur etwa 20 Prozent der auf dem Menschen lebenden Bakterien in Kultur züchten und damit studieren. Aus diesem Grund sind die allermeisten Bewohner bis heute unerkannt, und ihr Einfluss auf die Gesundheit ist noch nicht verstanden.
Doch jetzt macht sich der Mensch daran, seine blinden Untermieter zu enttarnen. Eine internationale Forscherschar will sämtliche Bakterien in den Winkeln und Höhlen des Körpers aufspüren und deren kollektives Erbgut, das sogenannte Mikrobiom, entschlüsseln.
Auf dem Jahrestreffen der American Society for Microbiology, zu dem sich diese Woche mehr als 10 000 Gelehrte in Toronto versammeln, werden US-Mikrobiologen den kühnen Plan vorstellen. Bei der Europäischen Union hat Ehrlich bereits einen Antrag für Forschungsgelder in Höhe von zwölf Millionen Euro laufen. In China und Japan wollen Forscher dem Leben auf dem Menschen ebenfalls auf die Spur kommen. Ende des Jahres wollen die Wissenschaftler einen internationalen Bund gründen und die Arbeit koordinieren.
Das "Human Microbiome Project", so der wahrscheinliche Name, wäre die logische Ausweitung des humanen Genomprojekts - und dürfte das Selbstbild des Menschen noch grundlegender verändern, als es die Entschlüsselung des kompletten menschlichen Erbguts vermochte: Der Mensch ist gar kein Individuum. In Wahrheit ist er ein Mischwesen, ein Superorganismus, der offenbar nur existieren kann, wenn die unterschiedlichen Lebensformen auf ihm kooperieren.
Zumindest genetisch gesehen haben die Bakterien das Sagen. Denn das Erbgut der Besiedler besteht zusammengenommen aus hundertmal so vielen Genen wie das Erbgut des Menschen selbst.
Bis vor kurzem noch haben sich Mikrobiologen und Ärzte zumeist um jene 50 bis 100 Erreger gekümmert, die den Menschen nicht dauerhaft bewohnen, ihn aber krank machen können, wenn sie ihn befallen. Die Zahl der friedfertigen Siedler liegt weitaus höher: Mindestens 2000 Bakteriensorten tummeln sich an den feuchten Orten des Körpers - es könnten noch viel mehr sein.
"Wir haben keine Vorstellung, wie viele Arten da draußen vorkommen", sagt der Genetiker George Weinstock vom Baylor College of Medicine im texanischen Houston. Nun aber scheint erstmals eine Bestandsaufnahme möglich: Mit speziellen Sonden können die Forscher gezielt bakterielles Erbgut aufspüren, es vervielfältigen und mit superschnellen Laborrobotern entschlüsseln. Dass dabei oft nur Fragmente entdeckt werden, macht nichts: Computerprogramme setzten die Schnipsel zum richtigen Genom zusammen - fertig ist die Sequenz.
Erste Einsätze der neuen Techniken haben bereits überraschende Einsichten erbracht. So galt der Magen des Menschen lange Zeit als unwirtlicher Ort, weil in seiner Finsternis Salzsäure brodelt. Zwar kann es hier Helicobacter pylori, der berüchtigte Erreger von Magengeschwüren, aushalten; ansonsten jedoch hielt man den Magen aus Mikrobensicht für eine verbotene Zone.
Von wegen: Als Forscher sich mit den neuartigen Sonden in den Mägen von 23 gesunden Testpersonen aus New York umschauten, tat sich ihnen eine völlig neue Welt auf: 128 verschiedene Bakterienstämme tummelten sich im Schleim der Magenwand; zehn Prozent von ihnen waren der Wissenschaft noch gar nicht bekannt. Besonders erstaunt waren die Wissenschaftler, einen Besiedler aus der Gattung "Deinococcus" zu sichten: Dieser Überlebenskünstler war bis dahin nur in heißen Quellen und atomaren Lagerstätten isoliert worden.
Ein Fischzug, den andere Forscher im menschlichen Darm unternahmen, erbrachte ebenfalls einen prächtigen Fang: Von allen entdeckten Keimen waren 62 Prozent neu - nun rätseln die Forscher, welchen Einfluss die aufgespürten Mikroben auf den Menschen haben.
Obwohl die Forschung noch ganz am Anfang steht, ändert sie bereits jetzt das Verständnis von der Biologie des Menschen. Beispiel Vererbung: Die Gene in seinen Zellen erhält ein Mensch zu gleichen Teilen von Mutter und Vater. Die vielen Bakterien-Gene in seinem Körper dagegen erhält er zum überwältigenden Teil von der Mutter. Das legen Untersuchungen an Zwillingen und Geschwistern nahe: Obwohl sie an verschiedenen Orten aufwuchsen, trugen sie eine ähnliche Flora in sich - offenbar jene, die sie einst im Mutterschoß aufgenommen hatten.
Allerdings kann die mütterliche Linie unterbrochen werden. Kinder, die per Kaiserschnitt auf die Welt geholt wurden, haben eine andere Besiedlerstruktur als Geschwister, die den Weg durch den Geburtskanal genommen haben.
Auch das Verständnis von Infektionskrankheiten erscheint in neuem Licht. Demnach werden diese Leiden nicht alle durch einen einzelnen Krankheitserreger ausgelöst. Manchmal bricht eine Erkrankung auch aus, weil die Balance zwischen den mikrobiellen Bewohnern gestört ist.
Vergebens haben Mediziner etwa versucht, die chronisch entzündlichen Darmerkrankungen mit bestimmten Keimen in Verbindung zu bringen. Womöglich ist es eine "ökologische Erkrankung" (Weinstock), bei der das Immunsystem die Bakterienflora aus noch ungeklärten Gründen als fremd empfindet.
Schließlich wird auch der Einfluss unterschätzt, den die Bakterien auf den Stoffwechsel von Menschen und anderen Säugetieren haben. Arzneimittelforschern der Firma Pfizer ist das aufgefallen, als einige Ratten in einem Routinetest ungewöhnlich niedrige Mengen eines Abbauprodukts im Urin ausschieden. Nachforschungen ergaben: Die betreffenden Versuchstiere waren in einem gesonderten Käfig gezüchtet worden und trugen eine einzigartige Kombination von Darmbakterien, die ihren Stoffwechsel merklich veränderte.
Auf ähnliche Weise entscheidet das jeweilige Bakterienvolk darüber mit, wie wirksam Nahrungsmittel verwertet werden. Die Unterschiede zwischen dem Hungerhaken, der nicht dick wird, ganz gleich, was er isst, und dem Futterverwerter, der schnell Speck ansetzt, führten Forscher bisher nur auf angeborene Faktoren zurück.
Doch auch hier ergeben die Experimente der Mikrobiologen ein vielschichtigeres Bild. Jeffrey Gordon von der Washington University School of Medicine in St. Louis hat den Stuhl von zwölf fettleibigen Landsleuten untersucht. Wie zu erwarten, beherbergte ein jeder von ihnen eine individuelle Darmflora. Auffällig jedoch war der durchweg hohe Anteil an Bakterien aus dem Stamm "Firmicutes". Weitere Untersuchungen offenbarten, dass diese Siedler tatsächlich Zuckermoleküle verwerten können, die sonst unverdaulich sind.
Als die übergewichtigen Testpersonen unter Gordons Aufsicht ein Jahr lang gezielt abnahmen, veränderte sich die Gesellschaft in ihren Därmen. Während die "Firmicutes"-Vertreter abnahmen, breiteten sich Exemplare vom Stamm der "Bacteroides" aus. Versuche an Mäusen legen nahe, dass es tatsächlich die Bakterien sind, die das Gewicht ihres Wirts beeinflussen. Dazu übertrug Jeffrey Gordon die Darmbakterien fettsüchtiger Mäuse auf schlanke Artgenossen. Diese verwerteten daraufhin ihr Futter besser und begannen, Fett anzusetzen.
Die Mikroben-Verpflanzung macht ersichtlich, dass das Human Microbiome Project die Menschheit weitaus stärker verändern könnte als sein Vorbild, das humane Genomprojekt. "Es wäre ethisch anfechtbar und technisch vermutlich gar nicht realistisch, das Erbgut des Menschen zu verändern", sagt der französische Genetiker Dusko Ehrlich.
Im Unterschied dazu könnten Forscher das kollektive Erbgut der Besiedler leicht manipulieren: Durch die gezielte Zugabe erwünschter Bakterien ließe sich der Superorganismus Mensch nach den Vorstellungen des größten Wirts programmieren. Dann hätten die Kleinen die längste Zeit das Sagen gehabt.