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[841] Der Verlust des MitgefühlsWenn wir die zentrale Rolle des Mitgefühls in unserem Leben erkennen, können wir die Geschichte unserer Zivilisation als Geschichte des Ringens um Empathie bezeichnen. Die Pervertierung der Empathie in Selbstmitleid aber dient nur dem Haß auf das Leben.
Empathie ist etwas, über das wir alle verfügen und das auch unter widrigsten Umständen aufsteigen kann. Doch der Haß auf das Leben ist schwer zu vernichten. Wenn wir ihm Einhalt gebieten, kehrt er in anderer Form wieder und ist häufig nicht sofort als Haß zu erkennen. Die Unfähigkeit, uns selbst vor diesem Haß zu schützen, beruht auf der Identifikation mit unseren Unterdrückern - einer Identifikation, die bei jedem unterschiedlich ausgeprägt ist. Die Sehnsucht nach Liebe wird blockiert von der Sehnsucht nach Autorität, die uns vor der Angst und dem Terror retten soll, durch die wir zur Idealisierung des Täters gezwungen wurden. Wir fühlen uns sündig, weil wir die Wahrheit ursprünglich erkennen konnten, zugleich streiten wir diese Sünde fortwährend ab, indem wir andere zu Opfern machen, die wir dafür bestrafen, daß wir selbst Opfer geworden sind.
Solange Wohlstand und scheinbare Ordnung herrschen, ruht das Opfer in uns. Wenn es aber in Zeiten von wirtschaftlicher Not und politischem Chaos erwacht, erwacht auch der Haß gegen uns selbst und die Notwendigkeit, diesen Haß auf »Feinde« abzuwälzen. Und so lassen wir das Böse in dem Maße zu, in dem wir selbst von Nicht-Liebe geformt worden sind. Zudem können viele von uns keine eigene Identität entwickeln, sondern sich lediglich mit jenen identifizieren, die die Unterwerfung anderer zum Sinn ihres Lebens gemacht haben.
Unsere Aufgabe muß es sein, die Erinnerung an das Kind in uns zurückzuholen und uns unseren Kindern zu widmen, indem wir auf der Legitimität unseres Mitgefühls bestehen. Jakob Wassermann (1994) illustriert dies mit folgender Parabel:
Wenn ich einen Fuhrmann sehe, der sein abgetriebenes Roß mit der Peitsche dermaßen Mißhandelt, daß die Adern des Tieres springen und die Nerven zittern, und es fragt mich einer von den untätig, obschon mitleidig Herumstehenden, was geschehen soll, so sage ich ihm: >>Reißt dem Wüte- rich vor allem die Peitsche aus der Hand.
Erwidert mir dann einer: Der Gaul ist störrisch, der Gaul ist tückisch, der Gaul will bloß die Aufmerksamkeit auf sich lenken, es ist ein gutgenährter Gaul, und der Wagen ist mit Stroh beladen, so sa- ge ich ihm: Das können wir nachher untersuchen; vor allem reißt dem Wüterich die Peitsche aus der Hand.
Ein sehr kluger Text, finde ich, vor allem die markierten Zeilen.
Letzlich heißt das in einfachen Worten: solange ich mich nicht selbst mag und zu mir stehe und die Verantwortung für mich selbst übernehme, kann ich bei ungünstigen und schlimmen Voraussetzungen mein Leben nicht selbst leben. Ich reagiere, aber ich agiere nicht.
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Zu Arno Grün:
https://www.susannealbers.de/04psycho-gruen-werk07.html
Arno Gruen: Der Wahnsinn der Normalität. Realismus als Krankheit - eine grundlegende Theorie zur menschlichen Destruktivität
Meine Wogehenwirhingedanken - Der Krieg gegen den Terror. Arno Gruen - Brandstifter auf der Couch.
Gruss,
Uta
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