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Hier ein -- wie ich finde, gelungener und lesenswerter -- Versuch, die Polemik abzurüsten und ein Erklärungsangebot für die Breite und Uneinheitlichkeit des 'Aufstandes' zu machen:
Auch dieser Artikel hat mich beeindruckt, weil er zu zeigen versucht, daß wir im Augenblick eine beschleunigte Entwicklung erleben, was Hygiene und körperliche Distanz angeht, die in Europa schon vor Jahrhunderten begonnen hat:
https://www.zeit.de/gesellschaft/ze...rona-proteste-demonstrierende-verschiedenheitFlüchtlingskrise, Finanzkrise, Klimakatastrophe, Globalisierungskrise, Corona- plus Wirtschaftskrise – sie alle stehen sinnbildlich für eine ebenso offenkundige wie unterdrückte oder zumindest aktiv verdrängte Tatsache: Das Ende der Normalität, wie wir sie kannten. Die vergangenen sieben Jahrzehnte (für Ostdeutschland drei) waren keine Ewigkeit, auf deren Fortdauer man einen grundgesetzlichen Anspruch hätte, sondern eine Phase, die nun eben vorbeigeht. Die wütenden Proteste gegen Flüchtende, die ebenso wütenden Aufmärsche gegen immer harmlosere Corona-Maßnahmen, die ganze Rebellion gegen das institutionelle Gerüst der Republik, das doch diese Ewigkeit verdammt noch mal zu garantieren hätte und dabei nun versagt – sie sind im Kern Aufstände gegen den Verlust von Normalität, ein schnaubendes Beharren darauf, dass das doch nicht wahr sein kann und nicht sein muss und also nur Folge geheimer Machenschaften sein kann.
Auch dieser Artikel hat mich beeindruckt, weil er zu zeigen versucht, daß wir im Augenblick eine beschleunigte Entwicklung erleben, was Hygiene und körperliche Distanz angeht, die in Europa schon vor Jahrhunderten begonnen hat:
Inwieweit sind nun die Modelle einer berührungslosen Vergemeinschaftung um 1800 und unter den Bedingungen der Corona-Krise miteinander vergleichbar? Das Social Distancing des 18. Jahrhunderts erfolgte zwar nicht unter dem unmittelbaren Druck einer Epidemie, und es ging nicht primär auf medizinische Bedenken zurück. Aber wie die "Sattelzeit" (Reinhart Koselleck) um 1800 durchleben auch wir Heutigen einen gesellschaftlichen Strukturbruch mit unabsehbaren Folgen. In beiden Fällen verbindet sich ein zivilisationsgeschichtlicher Wandel mit einer Medienrevolution. Der Bedeutungsverlust nahräumlicher Bezüge wird dadurch bedingt und verstärkt, dass sich immer größere Anteile des sozialen Lebens in die Zweitwelt eines entkörperten Zeichenverkehrs auslagern lassen. Was in der Aufklärungszeit der Schriftgebrauch war, ist heute die Digitalisierung. Sie lässt nicht nur viele körperliche Verrichtungen durch das Vordringen automatisierter Verfahren obsolet werden, sondern wirkt sich auch auf den Affekthaushalt der Menschen aus. Überdies vergrößert sie den sozialen Spalt zwischen denen, die noch immer "hinaus" in die Körperwelt müssen, und den anderen, die sich in der Welt der Zeichen heimisch gemacht haben – wozu gehört, die mit nostalgischem Flor überzogene Welt der quirlig-geselligen, erotischen, gewalttätigen Körperlichkeit älteren Typs touristisch oder am Bildschirm aus der Warte verkehrsberuhigter Betrachter zu konsumieren.
https://www.zeit.de/2020/22/social-distancing-beruehrung-alltagskultur-corona-kriseWir sollten mehr Energie auf die Analyse dieses sozialen Strukturbruchs verwenden als auf die Charts mit den Corona-Fallzahlen.
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