Vier Patienten mit der Lungenkrankheit Covid-19 liegen auf seiner Station: Winfried Kern, Leiter der Infektiologie an der Uniklinik Freiburg, ist intensiv mit dem neuartigen Coronavirus befasst.
BZ: Herr Kern, Mitte Februar waren Sie noch optimistisch, dass es keine Covid-19-Pandemie geben wird. Wie ist Ihre heutige Einschätzung?
Kern: Die Pandemie haben wir schon. Trotzdem bin ich optimistisch, dass wir nicht mehr, aber auch nicht weniger erleben müssen als eine zweite starke Grippeepidemie. Ich bin auch optimistisch, dass es bei uns milder als im chinesischen Wuhan ablaufen wird, auch was die Gesamtbefallsrate angeht. Die Angst der Bevölkerung erscheint mir nur zum Teil begründet. Rational betrachtet handelt es sich ja nicht um einen hochansteckenden und zugleich hochvirulenten Erreger wie Ebola oder Lasse, sondern eher um eine zweite Welle von grippeähnlichen Infektionen durch ein anderes Virus.
BZ: Die Einschätzungen, wie tödlich das Virus ist, variieren. Vergangene Woche sprach das Robert-Koch-Institut noch von 2,2 Prozent, andere sagen 0,3 bis 0,7 Prozent. Was halten Sie für realistisch?
Kern: 2,2 Prozent ist einfach falsch. Das beruht auf Zahlen aus China, aber die kann man nicht einfach übertragen auf Europa. Denn die Chinesen kamen mit dem Testen nicht hinterher, da ist die Dunkelziffer riesig. Es sind vor allem die schwerer Erkrankten zunächst getestet worden. Ich gehe jede Wette ein, dass die Sterblichkeit am Ende tatsächlich unter einem Prozent liegen wird, vielleicht zwischen 0,2 und 0,5 Prozent. Zum Vergleich: Die saisonale Grippe liegt bei 0,1 oder 0,2 Prozent, eine schwere Grippewelle kommt auch mal auf höhere Werte.
BZ: Was macht Sie so sicher?
Kern: Schauen Sie sich die Daten aus Südkorea an. Dort wurden die Kontakte der Infizierten sehr intensiv verfolgt und die Dunkelziffer weltweit wohl am besten reduziert. Sie haben dort 5300 Fälle und 32 Tote – das macht eine Sterblichkeitsrate von 0,6 Prozent.
BZ: Die Anstrengungen, das Virus einzudämmen, sind immens. Es fällt auf, dass Deutschland deutlich zögerlicher Veranstaltungen untersagt als andere Länder. In Freiburg hat gerade noch die Automesse stattgefunden. Die Schweiz hat dagegen die Fasnacht abgesagt und Veranstaltungen mit mehr als 1000 Besuchern verboten, Frankreich mit über 5000.
Kern: Deutschland gibt wenigstens zu, dass man nicht weiß, wo man pauschal die Grenze ziehen soll. Bis 4999 Besucher soll es kein Risiko geben, ab 5000 aber schon? Das ist doch eine sehr willkürliche Grenze. Wichtig sind die Kriterien: Findet die Veranstaltung in geschlossenen Räumen statt? Sind die Leute dort dicht gedrängt, halten sie sich länger auf? Ob man Großveranstaltungen jetzt abhalten will und muss – das sollte man sich dennoch fragen. Beim Fußball sehe ich kein Problem – das findet ja im Freien statt. Selbst wenn 25.000 Leute beim kommenden SC-Spiel aufschreien, ist ja nur der rechts und links von mir relevant für eine eventuelle Übertragung. Man kann ruhig weiter zum SC gehen und sich über die Tore freuen. Auch die Basler Fasnacht hätte ich nicht abgesagt. Lange Fahrten in eng gepackten Zügen sind da sicher problematischer. Aber: Welche Schwerpunkte zur Eindämmung hier gelegt werden, ist letztlich oft weniger eine medizinische als eher eine politische Entscheidung.
BZ: Wenn die Gefährdung so niedrig ist, wie Sie sagen: Ist dann der ganze Aufwand bei der Eindämmung berechtigt?
Kern: Das Beispiel China zeigt, dass das Containment, also die Eindämmung, vermutlich dazu da war, Schlimmeres zu verhindern. Dass es für uns wirklich effektiv ist, ist damit nicht gesagt. Bei uns ist die Bevölkerungsdichte nicht so hoch. Es kann sein, dass die Epidemie hier sowieso langsamer verläuft. In der Lombardei scheinen derzeit ungefähr ein Prozent aller dort lebenden Menschen infiziert – Containment durch Kontaktsuche und Kontaktisolierung kann in dieser Situation effektiv sein. Solange wir uns dies leisten können, ohne andere medizinische Bereiche zu vernachlässigen, sollten wir das tun. Die damit erreichte vielleicht verlangsamte Ausbreitung der Infektion verhindert, dass das Gesundheitssystem überlastet wird. Aber man muss schon nach der Verhältnismäßigkeit fragen. Ich schätze die Gefährdung durch Sars-Cov-2 nicht als extrem hoch ein. Sobald wir deswegen Patienten mit anderen Krankheiten gefährden, muss die Strategie angepasst werden.
BZ: Der Berliner Virologe Christian Drosten hat die Einschätzung abgegeben, dass sich 60 bis 70 Prozent der Deutschen mit Covid-19 infizieren werden.
Kern: Mir nicht klar, wie er auf solche Zahlen kommt. Diese Rate ist nicht mal im Epizentrum, der chinesischen Provinz Hubei, erreicht. Dort sind in drei Monaten rund 60 000 Fälle gemeldet worden, bei ungefähr 60 Millionen Einwohnern. Selbst wenn man wegen der Dunkelziffer noch einen Faktor zehn draufschlägt, wären es in dieser Zeit somit ein Prozent, nicht 60 bis 70 Prozent, längerfristig wären höhere Raten denkbar, aber selbst bei einer gleichbleibenden Epidemie über ein Jahr wären es dann erst vier Prozent.
BZ: Drosten meinte, dass sich das über mehrere Jahre erstrecken könnte, bis zwei von drei Menschen immun sind.
Kern: Es könnte sein, dass die Epidemie längerfristig und vielleicht auch saisonal weitergeht. Dann würden wir neben der Grippewelle eine jährliche Coronawelle haben.
BZ: Viele hoffen ja auch auf den Frühling. Was kann der bewirken?
Kern: Die warme Jahreszeit könnte tatsächlich einen Effekt haben. Sie wirkt wie das Social distancing, also das Abstandhalten. Es gibt dann viel weniger Menschen auf engem Raum, die Leute sitzen draußen in den Cafés statt drinnen, fahren Fahrrad statt Straßenbahn. Die Masse der Kontakte fällt weg, und dadurch gibt es weniger Übertragungen. So kann die Epidemie über Jahre langsam weiterlaufen – oder das Virus stirbt aus.
BZ: Die Erwartung einiger Virologen ist, dass sich das Cornavirus irgendwann zu einem harmlosen Erkältungsvirus wandelt.
Kern: Prinzipiell ist es denkbar, dass sich das Virus besser an den Menschen anpasst und noch harmloser wird. Ein Drittel unserer normalen Erkältungen im Winter geht auf solche harmlosen Coronaviren zurück. Es gibt auch die Hypothese, dass Kinder so wenig betroffen sind, weil sie durch die vielen Erkältungen eine gewisse Teilimmunität nach Infektion mit anderen harmlosen Coronaviren haben.
BZ: Neben den Älteren und chronisch Kranken machen sich auch Schwangere derzeit große Sorgen. Zurecht?
Kern: Erste Daten sprechen dafür, dass die Infektion das Ungeborene wohl nicht erreicht und insofern auch keinen Schaden anrichten kann. Bisher gibt es auch keine Berichte über einen schweren Verlauf der Infektion bei Schwangeren.
BZ: Was würden Sie Risikogruppen denn jetzt empfehlen?
Kern: Sie können Social Distancing machen – wie in einer starken Grippesaison auch sinnvoll. Und bei Veranstaltungen überlegen, ob es sein muss, da gerade hinzugehen. Mehr Möglichkeiten haben wir nicht – aber das kann auch sehr effektiv sein.
BZ: Sie haben vier Covid-19-Patienten bei Ihnen auf Station. Wie geht es ihnen?
Kern: Sie sind nicht beschwerdefrei, sondern mittelschwer grippekrank. Medikamente brauchen sie keine – sie sind in der Heilungsphase.