In Japan sind Hitzewallungen nahezu unbekannt. Nur 19,6% der Japanerinnen haben gemäss einer Untersuchung jemals Hitzewallungen. Noch entscheidender ist allerdings die Tatsache, dass die japanische Sprache überhaupt keinen Begriff dafür kennt, sondern nur Umschreibungen. Z.B. plötzlicher Blutandrang im Kopf, verbunden mit Schwindel. Auch für die Wechseljahre selber gibt es in Japan keinen direkten Begriff.
Die meisten japanischen Frauen assoziieren „konengi" mit Altern und glauben, dass die Wechseljahre einen graduellen Uebergang darstellen, der im Alter zwischen 40 und 45 beginnt und den Eintritt in den späteren Teil des Lebenszyklus markiert. Grauwerden der Haare, Veränderung der Sehstärke, Verlust des Kurzzeitgedächtnisses, Kopfschmerzen, Steifheit der Schultern, Schwindel, unspezifische Schmerzen und Beschwerden und Abgespanntheit sind die Anzeichen, die am häufigsten mit diesem Uebergang verknüpft sind. Das Ende der Menstruation stellt nur einen kleinen und relativ unbedeutenden Teil dieses Prozesses dar.
Die Uebereinstimmung zwischen der Art der Beschwerden und der besonders für Frauen in Japan noch stark von Tradition bestimmten Lebensweise ist meines Erachtens unübersehbar. Anforderungen an japanische Frauen, wie die Einhaltung von Formen und Ritualen zum Beispiel. Selbstdisziplin und Selbstkontrolle finden in Symptomen wie Kopfschmerzen, Steifheit der Schultern oder Abgespanntheit ihren entsprechenden Niederschlag. Dem steht in unserer Kultur der Zwang zu Flexibilität und Schnelligkeit gegenüber. Bedingungen, die durchaus geeignet sind, Beschwerden wie Hitzewallungen und Schweissausbrüche hervorzubringen. Der Vergleich drängt sich geradezu auf zwischen der steifen, zeitaufwendigen japanischen Tee-Zeremonie und der schnellen Tasse Kaffee, der hier bei uns vielen Frauen den Antrieb gibt.
Die Bedeutung der Wechseljahre in der Türkei ist nur über die Bedeutung der Menstruation zu erklären, der in der islamischen Religion eine Reinigungsfunktion zukommt. Der Ausdsruck für Wechseljahre bedeutet übersetzt abgeschnitten sein vom Monatszustand und wird mit Verlust der Reinigungsfähigkeit gleichgesetzt, was vor allem bei früh einsetzenden Wechseljahren als Unglück gilt.Leiden und Beschwerden wie z.B. eben Hitzewallungen, Nervenkrisen oder auch sehr ernsthafte Erkrankungen werden damit in Zusammenhang gebracht. Doch für türkische Frauen ist diese Situation keineswegs aussichtslos und der Verlust, den sie erleiden, nicht unwiederbringlich. Er wird durch einen Gewinn auf der Ebene des sozialen Status für ältere Frauen aufgewogen, der umso grösser ist, je mehr Söhne sie geboren hat - schlimm genug.Die nun erlaubte Reise nach Mekka ist ein symbolisches Zeichen dieser Aufwertung. Aber türkische Frauen haben offenbar noch andere Handlungsmöglichkeiten. Sie leiden so lange an Wechseljahrbeschwerden, solange sie Geschlechtsverkehr mit Männern haben. Laut dem Koran müssen Frauen Männern Zugangsrecht zu ihrem Körper gewähren. De facto ist dies allerdings von der individuellen Macht der einzelnen Frau abhängig. Je höher ihr gesellschaftlicher Status ist, umso eher ist es ihr möglich, sich zu verweigern.
Auf diesem religiös-kulturellen Hintergrund scheinen die Wechseljahre für türkische Frauen eine Art Balanceakt zu sein. Auf der einen Seite sind sie sehr daran interessiert, so lange wie möglich zu menstruieren, und zwar notfalls auch mif Hilfe von Hormonen. Auf der anderen Seite aber arbeiten sie daran, ihren gesellschaftlichen Status zu erhöhen, um dadurch die Freiheit ihres Körpers zu erreichen. Und damit eröffnen sich ihnen auch Handlungsspielräume und Perspektiven für eine aktive Gestaltung der späteren Lebensjahre.
In unserer abendländischen Kultur waren die Wechseljahre lange Zeit ebenfalls durch die Religion geprägt. Das Christentum mit seiner Sexual- und Leibfeindlichkeit hat wesentlich dazu beigetragen, dass die Wechseljahre und auch die Menstruation zu einem Tabu geworden sind. Seine Ueberbetonung der Gebärfähigkeit hatte zwangsläufig die Entwertung älterer Frauen zur Folge.
Durch die Definitionsmacht der Medizin sind die Wechseljahre erstmalig ins öffentliche Bewusstsein geraten. Allerdings in einer Art, die diesen Lebensabschnitt biologisiert, pathologisiert und medikalisiert hat.
Der Körper von Frauen ist damit zum Austragungsort geworden, an dem sich exemplarisch ein Kampf vollzieht. Eine Auseinandersetzung zwischen der Natur auf der einen Seite und der Kultur, der männlich geprägten Kultur der Naturbeherrschung auf der anderen Seite.
Die sogenannte Hormonersatztherapie ist ein technologischer Eingriff, durch den natürlich vorgegebene körperliche Abläufe grundlegend verändert werden. Der Hormonspiegel der älter werdenden Frau wird dadurch künstlich auf dem Niveau einer Jungfrau gehalten. Von Befürwortern und Befürworterinnen dieses Eingriffs wird das teilweise damit legitimiert oder auch bagatellisiert, indem sie sagen, dass die Hormontherapie mit der Benutzung von einer Brille bei Kurzsichtigkeit oder von dritten Zähnen zu vergleichen sei. Ich denke allerdings, dass der Unterschied gravierend ist, weil eben diese Art von Ersatzteil wesentlich tiefer in den Körper eingreift und zwar an der Schnittstelle zwischen Körper und Seele ansetzt.
Ausserdem spielt die subjektive Einstellung der einzelnen Frau eine sehr entscheidende Rolle bei der Wertung und Gewichtung der auftretenden Probleme oder Anzeichen. Letztlich ist es eine Frage des Lebenskonzepts und des Vertrauens in die eigene Natur bzw. auch ganz allgemein in die Natur, wie Frauen die Wechseljahre sehen. Ich denke diejenigen, die das Leben als einen zyklischen Vorgang begreifen, haben es einfacher als diejenigen, die dem männlichen Bild entsprechend im Leben einen linearen Prozess sehen. „das kommt und geht" ist übrigens eine Antwort, die ich sehr häufig von Frauen aus dem asiatischen, afrikanischen oder dem arabischen Raum höre.
In einem Leben, das bis zum Anschlag durchgeplant ist, wird der Einbruch der eigenen Natur als regelwidrig und als Kontrollverlust, der auch Panik auslösen kann, empfunden. Für mich drängt sich in dem Zusammenhang der Vergleich mit einem Fluss auf. Ein Fluss, der sein gewohntes Bett verlassend plötzlich über die Ufer tritt und dabei teilweise auch Verwüstung anrichtet. Die Frage, die sich für Frauen stellt ist, soll dieser Fluss seinen Weg alleine finden können oder soll er eingedämmt und kanalisiert werden?