Guten Tag!
Über das Unergründliche (Nicht-Psychologisierbare) von Schuld.
Eine sehr kurze Geschichte, die ich weiter kürze. Im Original (Max Frisch: Tagebuch 1966-1971, S. 220ff) 20 Seiten. Große Abstände (mit Pünktchen) zwischen den kurzen Absätzen: Jeder Absatz steht allein im Raum. Wie die Menschen. In normalem Satz wären es vielleicht 7 Seiten.
SZIZZE EINES UNGLÜCKS (I)
Er hatte Vorfahrt, insofern keinerlei Schuld. Der Lastwagen mit Anhänger kam von links in die Allee kurz vor Monpellier. Es war Mittag, sonnig, wenig Verkehr -
Ihre Frage: Oder fahre ich jetzt? ist nicht ihr letztes Wort vor dem Unfall; das hat sie auf dieser Reise öfter gesagt.
Sie hat ihn im Bürgerspital kennengelernt als Arzt, dem sie sozusagen ihr Leben verdankt; seinetwegen ist sie in Scheidung.
Bettnächte mit anschließender Besichtigung von Romanik oder Gotik, jeder Tag wie ein Examen: Geschichte der Päpste, nur weil man gerade in Avignon ist - sie fragt mit Vorliebe, scheint ihm, was er nicht weiß oder nur ungefähr weiß, so daß er unsicher wird. Warum der Papst im 14. Jahrhundert nach Avignon emigirierte, läßt sich ja nachlesen, wenn es sie wirklich interessiert. Aber es geht nicht um die Päpste. Nachher im Bett macht sie ihn wieder sicher.
Es ist nicht ihre erste gemeinsame Reise. Früher hatte er Humor, solange er davon zehrte, daß sie ihn als Arzt bewunderte.
Jetzt fährst du 140. Darauf hat er gewartet. Schrei mich bitte nicht an! Erstens schreit er nicht sondern sagt nur, darauf habe er gewartet. Immer ihr Blick auf das Tachometer. Zweitens fährt er, wie das Tachometer zeigt, genau 140. Das sagt sie ja. Man hat sich geeinigt: Maximum 140. Jetzt sagt sie: Es ist mir einfach zu schnell. Dabei überholt sie jeder Volkswagen. Sie sagt: Ich habe einfach Angst.
Er weiß, daß es an ihm liegt.
Später meint er vielleich, er sei schon mit der Ahnung erwacht, daß dieser Tag mit einem Unfall endet.
Er ist Akademiker cum laude, demnächst soll er Oberarzt werden.
Sie will nicht die Überlegene sein, das verträgt kein Mann, Viktor schon gar nicht; er ist Chirurg und daran gewöhnt, daß die Leute ihm vertrauen müssen, und auch Marlis hat ihm damals vertraut.
Redensart von Marlis: Bist du sicher?. Ob ein gemeinsamer Bekannter in Basel homosexuell sei, möchte sie wissen. Kaum äußert er dazu seine Meinung, sagt Marlis: Bist du sicher?
Beim Frühstück sagt er: Nimmst du ein Brioche? und was er anbietet: ein Croissant. Er merkt es gerade noch, verbessert sich aber nicht, da sie seine Frage überhört hat. Er bemerkt jetzt jeden Fehler den er macht. So meint er. Dabei merkt er beispielsweise nicht, daß sie auf Feuer für ihre Zigarette wartet. Entschuldige! sagt er und gibt Feuer. Entschuldige! Die Wiederholung ist zuviel.
Wovor hat er Angst?
Einmal hat sie im Halbscherz gesagt: Du bist nicht mehr mein Chirurg, Vik, daran mußt du dich gewöhnen.
Man fährt im offenen Wagen, nachdem er versprochen hat, daß er nicht rast. Daß er dann überhaupt nicht mehr überholt, sondern hinter jedem Lastwagen bleibt, ist in der Tat lächerlich; nachher findet er sich selber unmöglich.
Sie ist vollkommen genesen.
Sie hat einen Sohn, der zur Schule geht. Sie lebt in Scheidung. Sie ist kein Mädchen mehr sondern eine Frau.
Sie ist Romanistin, Dr. phil.; Viktor sollte sich freuen, wenn sie gelegentlich sein Französisch verbessert.
Manchmal möchte er ein Kind mit ihr. Er wäre bereit zu heiraten. Nur eine Frage des Humors.
Fahrt hinter einem belgischen Wohnwagen, ohne zu überholen; als er endlich überholt, reicht es gerade noch, aber es war gefährlich. Sie sagt nichts.
Er versucht, beruflich zu denken: Wann ist der Mensch tot? Die Frage bei Herzverpflanzungen. Er ertappt sich im Augenblick, als er sagt: Morgen muß ich Öl wechseln! statt daß er sagt, was er denkt. Er macht es sich zu einfach.
Sie sagt: denkst du schon wieder ans Essen! Er denkt überhaupt nichts, sondern schaut auf die Straße; er hat nur irgendwas sagen wollen, was mit Montpellier zu tun hat, weil er ein Schild sieht: MONTPELLIER 12 KM. Er hätte besser nichts gesagt.
Viktor kommt mir leichten Verletzungen davon, Schnittwunden an der Schläfe, erinnert sich aber an keinen Lastwagen mit Anhänger. Sie stirbt auf dem Transport ins Hospital von Montpellier. Er erinnert sich nicht einmal an die Allee, wo es passiert ist, wo jetzt der gekippte Anhänger zwischen den Platanen liegt. Beim Augenschein kommt es ihm vor, als befinde er sich zum ersten Mal in dieser Allee mit der Kreuzung, wo er verhört wird und erfährt, daß er Vorfahrt hatte, also keinerlei Schuld.
Ein Jahrzehnt spricht er nie von dem Unglück; er weiß nicht, wie es dazu gekommen ist.
Einige Bekannte wissen es ungefähr.
Ihre Frage: Bist du sicher?
Marlis hat den Lastwagen gesehen, sie hat ihn gewarnt, er hat den Lastwagen gesehen, aber nicht gebremst; er hatte Vorfahrt. Es kann sein, daß er sogar Gas gegeben hat, um zu zeigen, daß er sicher ist. Sie hat geschrien. Die Gendarmerie von Montpellier gab ihm recht.
Ein Stück weiter im Tagebuch, noch eine Seite:
SKIZZE EINES UNGLÜCKS (II)
(Viktor auf einer entlegenen Insel, allein. Sturmnacht. Tagesanbruch.)
Alles ohne Zusammenhang: seine Frau, die auf einen Anruf wartet, der Sonnenschirm, die Briefe, der blaue und gewöhnliche Tag, seine Schuhe. Gegen Mittag geht er barfuß zum Strand. Erinnerung an den Wind in der Nacht und an die Allee von Montpellier, die Kreide auf dem Asphalt, die Touristen, das Dorf, kein Grund zum Schrecken. So geht er schwimmen. Kein Boden unter den Füßen, der wolkenlose Himmel über dem Meer.
Einmal möchte er es wissen.
Er schwimmt hinaus, solange die Kräfte reichen, und sie reichen so weit, bis man kein Land mehr sieht.
Was soll dieser 2. Teil? Man kommt nicht ohne weiteres darauf. Das Motiv ist uralt, schon in der Antike: Gottesurteil. Es geht um die Frage der Schuld. Die von menschlichen Instanzen - auch durch menschliches Gerede - nicht mehr so beantwortet werden kann, daß das Subjekt überzeugt würde. Wer sich in diese ausweglose Lage begibt und überlebt (gerettet wird usw.), ist frei von Schuld.
Das Wort "Schuldgefühl" taucht in dem Text kein einziges Mal auf. Schuld kann nicht weggeredet werden.
Vermutlich in engem Bezug zur Biographie des Autors. Er hatte sich von Ingeborg Bachman, seiner Gefährtin, getrennt, die danach noch stärker krisengeschüttelt lebte als zuvor, beeinträchtigt in ihrer Gestaltungskrft, drogenabhängig, zuletzt (real) verbrannt. Nicht die Schuld von Frisch - aber . . . Etwa von dieser Zeit an (ein wenig später) spielt in seinem Werk "die Schuld des Freigesprochenen" in verschiedenen Formen die zentrale Rolle. Aber das wäre ein anderes Thema.
Leider gehen durch die Kürzung einige Nuacen, Subtilitäten des Texts verloren. Das ist wohl nicht zu vermeiden.
Eine Jahrhundertgeschichte, von der Kritik sofort und einmütig als solche erkannt. Uwe Johnson - mit Max Frisch befreundet - hat mit seiner Erzählung "Skizze eines Verunglückten" darauf geantwortet; auch in ihr geht es um Schuld.
Ausführlich (und mit seltener intellektueller Leidenschaft) wird dieses Thema - und viele andere, die damit in Zusammenhang stehen - besprochen in dem bewegenden Werk von Peter von Matt: "Liebesverrat. Die Untreuen in der Literatur", 1999. (In der Literatur finden sich ja weit mehr Menschlichkeit und Weisheit als in der ganzen Psychologie.)
Einen schönen Tag wünscht
Windpferd