Liebe Helenna und Ihr anderen,
eigentlich hatte ich schlaue und (günstigstenfalls) mitfühlende Dinge schreiben wollen über das „Übernehmen“ von Krankheiten / Sich-Einhüllen in goldenes Licht / Erdungsübungen / „Löcher“ in der Aura / Mitfühlen / Couvade-Syndrom … soviel, so viele Leiden, Klagen, Mittel, Argumente –
- da fiel mir beim Aufräumen ein Buch in die Hände, in dem ich lange nicht gelesen hatte: Alice Sturiale: „Vom Glücklichsein. Das Tagebuch der Alice“, O & P, Gütersloh, 1997.
Nun wieder zu Tränen gerührt (das kommt bei Pferden vor), gleichzeitig getröstet, und was ich schreiben wollte, kommt mir gegenstandslos, unnötig vor. Das Buch ist ein Heilmittel.
Alice Sturiale (1983 - 1996) lebte in Florenz. Sie war von Geburt an krank, litt an Progressiver Spinaler Muskelatrophie. (Diese Krankheit zeigt sich in langsam aber unaufhaltsam aufsteigenden Lähmungen; die PatientInnen sterben spätestens im zweiten Lebensjahrzehnt, in der Regel an Lungenentzündung oder Atemlähmung, sobald die Brustmuskulatur betroffen ist.) Korsett, Rollstuhl, Operationen. Alice war Pfadfinderin, spielte Klavier und Theater (in einem Rock, der sie stützte und mit verdeckten Rollen Fortbewegung ermöglichte), hatte viele nahe Freundschaften, eine unzerstörbare, ansteckende Fröhlichkeit und eine seltene Strahlkraft für die Menschen, die ihr begegneten. Sechs Jahre lang schrieb sie Tagebücher, Gedichte, Geschichten und Briefe. Mit 11 die ersten Liebesgedichte. Zwölfjährig, gerade von einer Bronchitis genesend, erstickte sie plötzlich im Unterricht, als sie über den Witz eines Klassenkameraden lachte.
Alice war undeprimierbar. Traurig sei sie schon, manchmal, sagte sie – aber „höchstens für zwei Minuten“. Sie kümmerte sich fortgesetzt um andere. Zuletzt, schon im Rollsstuhl, kartographierte sie die Rollstuhlgängigkeit von Straßenkreuzungen für das Straßenbauamt ihrer Stadt. Drei Monate vor ihrem Tod realisierte sie dichterisch-symbolisch die Unmöglichkeit, mit dem Jungen zusammen zu sein, in den sie verliebt war. Zuletzt nahm sie in einem Gedicht, das an die nüchterne Präzision von Zen-Koans erinnert, ihren Tod vorweg.
Ihre Texte (und einige an / über sie) sind in dem genannten Buch erschienen, dessen deutsche Übersetzung keine besondere Aufmerksamkeit fand (trotz des Geleitworts von Johannes Rau, dem Bundespräsidenten und Schirmherrn der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke). Seit langem nur noch antiquarisch. Das italienische Original (Il Libro di Alice, Rizzoli, Mailand, 1997) wurde in kurzer Zeit Bestseller, ein Jahr nach Alices Tod mit dem Premio Rapallo Carige, einem der bedeutenden italienischen Literaturpreise, ausgezeichnet. Die von ihrem Vater geleitete Fondazione Alice, Firenze, arbeitet daran, die Bewältigung dieser Krankheit zu erleichtern.
Helenna: wenn Du willst, kriegst Du das Büchlein. (Du kannst sicher sein, daß Du vom Lesen keine Progressive Spinale Muskelatrophie bekommst, wetten?) Als Wiedergutmachung für manches, was ich an Rechthaberischem oder Verquerem schrieb. Müßtest mir nur ein geheimes Postfach (anonym, klar) irgendwo mitteilen. Einfach so. Ich sag's nicht weiter. Ob das wohl geht?
Mit fröhlichen Grüßen
Windpferd
PS:
Lapo gewidmet (meiner Liebe)
Vor meinen Augen liegt das Meer,
vor meinen Augen liegt die Sonne,
vor meinen Augen
liegt der Himmel,
da fliegt eine Taube
und dann setzt sie sich auf meinen Arm:
ich sehe sie
und verliere mich in ihrem Blick,
ich berühre sie
und fliege in ihrem Flug.
Du warst diese Taube,
du warst es, den ich suchte
am Horizont.