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Bereits im Jahr 1973 wurde in dem Sachbuch "The Secret Life of Plants" von Peter Tompkins und Christopher Bird die Ansicht vertreten, dass Pflanzen fühlende Wesen sind und beispielweise klassische Musik angeblich Rockmusik vorziehen. Darin enthalten eine krude Mischung aus wissenschaftlichen Fakten, quacksalbernden Experimenten und Naturmystik, welche das Werk zu einem Zeitpunkt, wo sich New-Age-Denken etablierte, zu einem Bestseller machte. Einer der berühmtesten, darin beschriebenen Versuche schildert wie Pflanzen an eine Art Lügendetektor angeschlossen wurden und angeblich eine entsprechende elektrische Aktivität zeigten, wenn Menschen in ihrer Nähe positive oder negative Gedanken hatten, so dass die Autoren sich suggestiv fragten, ob die Pflanzen möglicherweise über telepathische Kräfte verfügten. Die Ergebnisse dieser speziellen Tests ließen sich wissenschaftlich nie reproduzieren, so dass viele der (pseudo-)wissenschaftlichen Thesen inzwischen widerlegt sind. Trotzdem haben sich die Kerngedanken dieses Buches im kollektiven Gedächnis irgendwie festgesetzt, so dass heutzutage der Glaube weit verbreitet ist, Pflanzen gediehen besser, wenn man zum Beispiel nur liebevoll mit ihnen rede. Leider hat "The Secret Life of Plants" dieses Thema so auch diskreditiert.
Trotzdem beschäftigen sich auch ernst zu nehmende Botaniker mit "Pflanzenneurobiologie": 2006 schrieben unter anderen der Amerikanische Molekularbiologe Ereic D. Brenner, der Italienische Pflanzenphysiologe Stefano Mancuso, der Slovakische Zellbiologe František Baluška und die Amerikanische Botanikerin Elisabeth van Volkenburgh in dem kontroversen Artikel "Plant neurobiology: an integrated view of plant signaling" in Trends in Plant Science (Vol. 11, Ausgabe 8, S. 413-419), dass eine Reihe differenzierter pflanzlicher Verhaltensweisen derzeit nicht allein durch bekannte genetische oder biochemische Mechanismen erklärbar sind. Pflanzen seien in der Lage Umwelteinflüsse (Licht, Wasser, Schwerkraft, Temperatur, Bodenbeschaffenheit, Nährstoffe, Mikroben, Toxine, Pflanzenfresser, chemische Signale anderer Pflanzen) wahrzunehmen und adäquat darauf zu reagieren, so dass die Vermutung nahe läge, dass sie über ein gehirnähnliches Informationsverarbeitungssystem verfügten, welches Informationen verarbeite und die Reaktionen der Pflanze koordiniere. Die Autoren argumentieren, dass elektrische und biochemische Signalsysteme, einschließlich bekannter Neurotransmitter wie Serotonin, Dopamin und Glutamin bereits in Pflanzen identifiziert werden konnten, welche durchaus dem tierischen Nervensystem entsprächen, auch wenn deren Rolle bisher unklar sei. Pflanzliche Lebewesen würden insofern Zeichen von Intelligenz zeigen, als dass sie biologische und physikalische Informationen verarbeiten könnten, um in einer gegebenen Umwelt optimal zu überleben. Mit Esoterik hat Pflanzenneurobiologie nichts zu tun.
Diese Sichtweise ist nicht unumstritten.
Die Befürworter argumentieren, dass uns allein unsere menschliche Arroganz und die Tatsache, dass sich pflanzliches Leben sehr viel langsamer entfaltet als tierisches, so dass es sich unserer Wahrnehmung teilweise entzieht, davon abhält, Pflanzen als Protagonisten eines eigenen Dramas der Natur, ausgestattet mit hochspezialisierten Fähigkeiten für das Überleben wahrzunehmen. Pflanzen dominieren jedoch fast jeden Lebensraum und umfassen 90% der Biomasse auf der Erde, sind also evolutionär sehr erfolgreiche Lebenwesen.
Kritiker führen ins Feld, dass es bei Pflanzen keinen Anhalt für Nervenzellen, Synapsen oder ein Gehirn gibt, so dass man auch nicht von Neurobiologie im engeren Sinne sprechen könne. Sehr wohl konnten kurz- und langfristige elektrische Signale nachgewiesen werden, welche teilweise auch Neurotransmittern ähnliche chemische Botenstoffe verwenden. Diese unterscheiden sich jedoch grundlegend von einem echten Nervensystem. Der emeritierte Pflanzenphysiologe Lincoln Taiz hält daher die Interpretationen der botanischen Neurobiologen für eine Mischung aus Überbewertung der erhobenen Daten, Teleologie, Anthropomorphismus, Philosophie und wilder Spekulation. Der Zell- und Molekularphysiologe Clifford Slayman geht sogar soweit zu sagen, dass die Rede von pflanzlicher Intelligenz ein alberner Irrweg sei.
Letztlich scheint es, dass sich dieser wissenschaftliche Streit weniger um die bemerkenswerten Entdeckungen in der botanischen Forschung dreht, als vielmehr um Begrifflichkeiten und darum, wie diese Ergebnisse zu interpretieren sind. Ob beispielsweise das beobachtete Verhalten von Pflanzen, welches verblüffend Lernprozessen, Gedächtnis, Entscheidungsfindung und einer Form von Intelligenz ähnelt, mit solchen Termini bezeichnet werden sollte oder ob diese allein Lebewesen mit Gehirn vorbehalten bleiben sollten.
Die Forscher auf diesem Gebiet behaupten weder, dass Pflanzen übersinnliche Fähigkeiten oder Gefühle haben, noch dass man so etwas wie ein zentrales Nervensystem finden wird. Wahrscheinlicher ist es, dass pflanzliche Intelligenz eher der eines Insektenstaates entspricht, von der angenommen wird, dass sie eine kollektive Eigenschaft einer Vielzahl stupider Einzelindividuen ist. Viele Wissenschaftsprojekte über Pflanzenintelligenz wurde daher auch von der Netzwerkforschung, dezentralisiertem Rechnen und Schwarmverhalten inspiriert, welche erstaunlich intelligentes Verhalten in der Abwesenheit eines Gehirns zeigen.
Einige der erstaunlichsten Eigenschaften von Pflanzen rühren aus der Tatsache, dass sie in der Regel standortgebunden, nämlich im wahrsten Sinne des Wortes fest verwurzelt sind und nicht auswandern können, wenn die Umweltbedingungen für sie ungünstig werden. Um unter solchen sesshaften Bedingungen überleben zu können, muss die Pflanze in der Lage sein, ihre unmittelbare Umwelt zu verstehen, um Nährstoffe zu finden und Gefahren zu erkennen, so dass sie über einen hochentwickelten Sinnesapparat verfügen muss. Insgesamt konnten bisher fünfzehn solcher Sinne identifiziert werden, einschließlich der Wahrnehmung von Licht ("Sehen"), Reaktion auf chemische Substanzen in der Luft und auf ihren Körpern ("Riechen und Schmecken"), der Wahrnehmung von Gegenständen ("Tasten") und Schall ("Hören"). So konnte in einem Experiment nachgewiesen werden, dass eine Pflanze, die noch nicht angerührt wurde, beginnt chemische Abwehrstoffe zu produzieren, wenn man ihr das Geräusch einer Raupe vorspielt, die ein Blatt kaut. In einem anderen Experiment wuchsen die Wurzeln einer Pflanze auf ein geschlossenes, von außen trockenes Rohr zu, durch das Wasser floss, so dass angenommen wurde, dass die Pflanze irgendwie das Fließgeräusch wahrnehmen konnte.
Ferner können Wurzeln Hindernissen oder toxischen Substanzen ausweichen, bevor sie diese berühren, und können zwischen eigenen, genetisch verwandten und fremden Wurzeln benachbarter Pflanzen unterscheiden und ihr Wachstumsmuster entsprechend anpassen. Bereits Charles Darwin war von den sensorischen Eigenschaften von Wurzeln fasziniert. Pflanzenwurzeln können Wasser, Nährstoffe, Schwerkraft, Mikroben und chemische Signale von Nachbarpflanzen wahrnehmen. Pflanze kommunizieren: Schon lange ist bekannt, dass von einer Krankheit oder Schädlingen infizierte Blätter Botenstoffe aussenden, die es anderen Blättern ermöglicht sich besser zu verteidigen, wobei im Einzelfall sogar Informationen über den jeweiligen Angreifer enthalten sein können. So können die Pflanzen beispielsweise Inhaltsstoffe produzieren, die ihre Blätter dann für Pflanzenfresser weniger appetitlich oder unbekömmlich machen; das kann so weit gehen, dass Toxine produziert werden, die den Fressfeind töten. Manche Spezies locken Schlupfwespen an, wenn sie von Raupen befallen sind, welche dann langsam deren Population dezimieren.
Irgendwie scheinen Pflanzen die Informationen über ihre Umgebung zu sammeln und zu verarbeiten, um danach zu "entscheiden", wie und in welche Richtung sie ihr Wachstum steuern sollen. Wenn man den Begriff Verhalten auf Phänomene wie zum Beispiel die Wachstumsrichtung einer Wurzel, die Umverteilung von Resourcen oder die Ausscheidung hochwirksamer Chemikalien ausdehnt, so erscheinen Pflanzen sehr viel aktiver als sie auf den ersten Blick scheinen. Denn der Großteil dieses Verhaltens entzieht sich unserer direkten Wahrnehmung, da es für uns unsichtbar oder sehr langsam ist.
Ein weiterer faszinierender Aspekt ist, dass Pflanzen sogar eine Art Lernfähigkeit zu besitzen scheinen: In einem Experiment an Mimosen (Mimosa pudica), einer tropischen Pflanze, die auf Erschütterung, schnelle Ankühlung oder Erwärmung mit dem schnellen Einklappen der betroffenen farnartigen Blätter reagiert, ließen die Forscher Pflanzen aus einer Höhe von 15 Zentimetern wiederholt in Abständen von fünf Sekunden fallen. Dabei zeigte sich, dass einige Mimosen nach vier bis sechs Stürzen ihre Blätter wieder öffneten, als hätten sie gefolgert, dass dieser Reiz keine Gefahr darstellte. Am Ende des Versuches blieben sie vollständig geöffnet, als ob sie diese Erschütterung nicht mehr beeindrucken würde. Sie waren jedoch nicht erschöpft, denn durch Schütteln konnte die Reaktion prompt wieder ausgelöst werden. Auch als das Experiment nach einer Woche und sogar nach 28 Tagen wiederholt wurde, reagierten die Pflanzen nicht mehr, was darauf schließen lässt, dass sie sich an den Fall als harmlosen Stimulus "erinnerten". Interessanterweise vergessen Bienen bei einem ähnlichen Versuchsaufbau, was sie gelernt haben, nach etwa 48 Stunden. Auch hier wird wissenschaftlich diskutiert, inwieweit es sich um Lernen oder einen Gewöhnungs- oder Desensibilisierungseffekt handelt.
Welche physiologischen Vorgänge hinter diesen Phänomenen steckt, ist noch unklar. Es scheint jedoch keine Schaltzentrale im Sinne eines Gehirns zu geben. Vielmehr scheint es ein diffuses Netzwerk aus Signalen austauschender Zellen zu sein. Ein Bewustsein im Sinne einer inneren Selbstwahrnehmung als Teil der äußeren Realität dürfte bei Pflanzen nicht vorhanden sein. Wenn man diesen Begriff jedoch als Wahrnehmung der Umwelt definieren, dann trifft dies auch auf Pflanzen zu. Es ist sogar nicht auszuschließen, das Pflanzen so etwas wie Schmerz empfinden können. Es ist beispielsweise möglich eine Pflanze durch die Zufuhr von anästhetischen Drogen in eine Art Schlaf zu bringen, so dass sie nicht mehr auf äußere Reize reagieren können: Eine schlummernde Venusfliegenfalle würde sich nicht mehr schließen, wenn ein Insekt in sie kriecht. Verletzte Pflanzen produzieren Ethylen, welches früher neben Lachgas zur Narkose eingesetzt wurde. Ist der Duft von frisch gemähtem Gras wie ein stummer Schmerzschrei?
Irgendwie eine unheimliche Vorstellung, welche die ethischen Argumente mancher Vegetarier und Veganer in ein neues Licht wirft. Aber wir leben nun einmal in einer Welt, in der wir andere Lebewesen verspeisen müssen, um zu überleben.
Zu Decartes ("Ich denke, also bin ich.") Zeiten glaubte man, dass nur Menschen über ein Bewusstsein verfügen und daher allein Schmerzen empfinden. Heute wissen wir, dass auch Tiere dazu in der Lage sind. Begehen wir mit Pflanzen denselben Irrtum? Oder gilt der Grundsatz "no brain, no pain"? Wahrscheinlich werden wir nie mit absoluter Sicherheit herausfinden, ob eine verletzte Pflanze tatsächlich das Äquivalent von Schmerz empfinden kann. Letztlich ist dies sowohl eine philosophische wie auch eine wissenschaftliche Frage.
Food for thought.
Quelle:
Michael Pollan: The Intelligent Plant. The New Yorker, December 23 & 30, 2013
Link zum Artikel:
Grüne Intelligenz
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