4-Jähriger: Cyanid-Intoxikation nach oraler Amygdalin-Behandlung

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Amygdalin kommt in den Kernen von z. B. Pfirsichen oder Aprikosen vor. Strukturell sehr ähnlich ist das halbsynthetische Laevo-Mandelsäurenitril-β-Glucuronisid (Laetril). Aus beiden Verbindungen kann Cyanid (Blausäure) freigesetzt werden. Obwohl Behörden und wissenschaftliche Einrichtungen Amygdalin und Laetril als unwirksam und toxisch bzw. bedenklich einschätzen (1-5), werden bittere Aprikosenkerne bzw. Amygdalin-/Laetril-haltige Fertigpräparate im Internet für die alternativmedizinische Prophylaxe und Behandlung von Krebs stark beworben.

Der AkdÄ wurde der Fall eines vierjährigen Jungen (110 cm, 18 kg) mit einer Cyanid-Intoxikation nach Behandlung mit Amygdalin gemeldet (AkdÄ Fallnummer 163180):
Das Kind war an einem anaplastischen Ependymom (WHO Grad 3) erkrankt, welches zunächst reseziert wurde. Nach sechs Monaten machte ein Tumorrezidiv eine neuerliche Operation erforderlich. Ein halbes Jahr später wurde erneut ein Tumorrezidiv sowie eine spinale Metastasierung diagnostiziert, die durch Bestrahlung behandelt wurden.
Etwa eineinhalb Jahre nach Erstdiagnose erfolgte in der palliativen Situation eine alternativmedizinische Behandlung mit Amygdalin: Der Junge hatte täglich "Vitamin B17" (Amygdalin) intravenös sowie zusätzlich ca. zehn bittere Aprikosenkerne pro Tag oral erhalten. Ferner wurden ihm zahlreiche Vitaminpräparate, Spurenelemente sowie Mikrogrünalgen verabreicht. Fünf Tage nach Beginn dieser Behandlung nahm er erstmalig 500 mg eines Amygdalin-Präparates oral ein. 15 Minuten später wurde der Junge plötzlich agitiert, er verkrampfte Arme und Hände und verdrehte die Augen. Die Vigilanz war wechselnd, eine Zyanose bestand nicht. Das Kind wurde unter dem Verdacht einer Cyanid-Intoxikation vom Notarzt ins Krankenhaus eingeliefert. Laborchemisch bestand eine Laktatazidose (pH 7,13; Laktat 11,8 mmol/l). Der Cyanid-Blutspiegel lag bei 514 µg/l (toxischer Bereich: > 200 µg/l). Nach Gabe des Antidots Natriumthiosulfat besserte sich der Zustand des Jungen. Er konnte nach zweitägiger stationärer Behandlung entlassen werden.
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Die Bezeichnungen Amygdalin und Laetril werden oftmals synonym benutzt oder die Bezeichnung "Vitamin B17" verwendet. Letztere ist jedoch irreführend, da weder Amygdalin noch Laetril die Kriterien für ein Vitamin erfüllen (5-7).

Amygdalin/Laetril ist ein cyanogenes Glykosid und enthält die Cyanidstrukur. Für die Freisetzung von Cyanid sind spezifische Enzyme erforderlich, die in der mikrobiellen Darmflora vorkommen (8). Nach intravenöser Applikation von Amygdalin steigt der Cyanidspiegel im Blut nicht an, da Enzyme, die zur Freisetzung erforderlich sind, fehlen (9). Nach oraler Einnahme können die Freisetzung von Cyanid und ein Anstieg des Blutspiegels erfolgen (8). Zur Freisetzung von Cyanid nach oraler Aufnahme trägt zusätzlich bei, dass Kerne von bitteren Aprikosen, Mandeln und anderen neben Amygdalin auch Cyanid-freisetzende Enzyme enthalten (5).

Amygdalin/Laetril wird in der Alternativmedizin eine Wirksamkeit gegen Krebs zugeschrieben. In malignen Zellen komme es durch deren veränderte Enzymausstattung zu einer vermehrten Freisetzung und zu einem verminderten Abbau von Cyanid, das für die zytotoxische Wirkung verantwortlich gemacht wird. Eine andere unbelegte Behauptung ist der Ausgleich eines postulierten Mangels an "Vitamin B17", der Krebserkrankungen begründe (5, 7, 10).

Cyanid ist eine toxische Substanz und kann zu lebensbedrohlichen Vergiftungen führen, indem es die mitochondriale Atmungskette und die Bildung des intrazellulären Energielieferanten Adenosintriphosphat (ATP) blockiert. Typische Symptome einer Cyanid-Intoxikation sind je nach Schweregrad Kopfschmerzen, Übelkeit, Schwindel, Tachy- oder Dyspnoe, Hyper- oder Hypotension, Arrhythmien, Bewusstseinsverlust, Krämpfe, Herz-Kreislauf-Versagen und Tod. Laborchemisch bestehen häufig eine metabolische Azidose und ein erhöhtes Laktat (11).

Wirksamkeit
Die wissenschaftliche Evidenz für die Wirksamkeit von Amygdalin/Laetril bei Krebs muss als widerlegt gelten (5). Zwar gibt es eine Vielzahl anekdotischer Fallberichte zur vermeintlichen Wirksamkeit von Amygdalin/Laetril, methodisch hochwertige, randomisierte kontrollierte Studien am Menschen liegen jedoch nicht vor. Einem Cochrane-Review aus dem Jahre 2011 zufolge beziehen sich die meisten Publikationen auf konsekutive und nicht-konsekutive Fallserien (10). In einer aktuellen Medline-Recherche konnten wir keine weiteren relevanten Studien identifizieren.
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Cyanid-Intoxikation nach oraler Amygdalin-Behandlung (Aus der UAW-Datenbank)

Grüsse,
Oregano
 
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4-Jähriger: Cyanid-Intoxikation nach oraler Amygdalin-Behandl

Na ja, in dem Artikel wird in einem Nebensatz die "palliative Situation " angemerkt, das heißt, dieses Kind war eineinhalb Jahre nach Diagnosestellung trotz schulmedizinischer Behandlung (und offensichtlich trotz des Vertrauens in die Ärzte) so gut wie tot. Wie das "Leben" des Jungen nach der Antidotbehandlung weiterging, darüber schweigt sich das Zitat dann aus.

Womöglich wäre die Sache besser verlaufen, hätte man dem Kind sofort nach der ersten OP Nahrungsergänzungsmittel gegeben und niedrig dosiertes Amygdalin (es gibt ja noch mehr ergänzende Maßnahmen). Das ist ja die Krux: So oft wird erst zu ergänzenden Maßnahmen gegriffen, wenn der Mensch trotz oder wegen schulmedizinischer Behandlungen schon halbtot ist und überhaupt keine Heilressourcen mehr hat.

Grüße von Datura
 
auf mich wirkt diese Behandlung auch eher plan- und hirnlos: Unabhängig davon, ob man Amygdalin nun für sinnvoll hält oder nicht (ich sehe das mindestens kritisch) frage ich mich, warum überhaupt noch Aprikosenkerne oral gegeben wurden, wo ja schon intravenös behandelt wurde. Ohne die zusätzliche orale Verabreichung wäre es zu der Vergiftung ja vermutlich gar nicht gekommen.
Ansonsten denke ich auch, dass es kein sinnvoller weg ist, erst die schulmedizinischen Keulen zur Anwendung zu bringen und dann zu schauen, wie man alternativmedizinisch weiterkommt.
Aber da gibt es m.E. viele andere Substanzen als Amygdalin.
 
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