Wie kommt es ,daß zum Beispiel Natrium carbonicum der Ruf eines eher „kleinen" Mittels anhaftet?
Obwohl es umfangreich geprüft worden ist, sind praktische Erfahrungen, oder, besser gesagt, Kasuistiken, welche die Bewertung der Prüfungssymptome ermöglichen würden, vergleichsweise spärlich veröffentlicht worden .
Dies führt dazu, daß Natrium carbonicum von den Autoren der Arzneimittellehren weniger eingehend, zuweilen auch gar nicht, beschrieben wird, dadurch dem Lernenden kaum einmal als studierenswert unterkommt und so, selbst in geeigneten Fällen, mangels Vertrautheit nicht berücksichtigt wird.
Bei Samuel Hahnemann umfaßt die Pathogenese von Natrium carbonicum 1082 Symptome [7], was nicht wenig ist.
Zusammen mit den bekannten klinischen Symptomen ergibt sich ein interessantes Bild.
Betrachtet man nun allein die psychischen Symptome, läßt sich leicht eine auffallende Ähnlichkeit mit einem anderen, wesentlich bekannteren Mittel konstatieren:
- „Abneigung gegen die Menschheit und gegen die Gesellschaft; Entfremdung von Einzelnen und von der Gesellschaft, sogar von ihrem Ehemann und ihrer Familie." [8]
- „Ruhelosigkeit, mit Anfällen von Ängstlichkeit, vor allem während eines Gewitters; schlimmer durch Musik." [9]
- „Ängstlichkeit beim Gewitter minder als sonst. (Heilwirkung.)" [10]
- „Menschenscheu und furchtsam." - „Er flieht die Menschen." [11]
Wer die Grundzüge der „wichtigsten" Mittel der homöopathischen Materia medica im Kopf hat,
wird gleich die Ähnlichkeit zu Sepia erkannt haben.
Tatsächlich wird Sepia bei der geschilderten Konstellation [12] oft blindlings verordnet, obwohl doch - das zeigt im übrigen auch das Repertorium - zumindest Nat-c. vor der Hand ebenfalls als sehr ähnlich erscheinen muß.
Auch andere Symptome sprechen für beide Mittel. So deckt Nat-c. wie Sepia das Abwärtsdrängen im Uterus, die Abneigung gegen Milch beziehungsweise Diarrhoe durch Milch, etc.
Natürlich gibt es auch unterscheidende Merkmale und Symptome, die das eine Mittel aufweist, das andere aber nicht.
Dennoch: die Verordnung aufgrund der genannten psychischen Symptome führt – sei es aus Bequemlichkeit, sei es aus Zeitnot – beinahe stets zu Sepia, selten oder nie zu Natreium carbonicum.
Man darf jedoch vermuten, daß so mancher vermeintliche Sepia-Fall auch mit Natrium carbonicum zur Genesung kommen beziehungsweise sogar schneller geheilt werden könnte.
Das genannte Beispiel verdeutlicht die Notwendigkeit eines eingehenden Studiums der homöopathischen Materia medica und die Wichtigkeit einer Verabschiedung von „Lieblingsmitteln", die schon Hahnemann eine Warnung wert waren.[13]
Um nicht mißverstanden zu werden: Auch ich verordne Sepia wesentlich häufiger als Natrium carbonicum, vielleicht sogar häufiger als jedes andere Mittel.
Ein Vergleich zweier Arzneimittel, wie er oben gemacht wurde, ist ausserdem nur mit Einschränkung aussagekräftig. So hat die Praxis gezeigt, daß die aufgelistete Symptomenkombination in Sepia-Fällen sehr oft zugegen ist, während es sein mag, daß sie bei Nat-c.-Fällen seltener auftritt.
Mancher Praktiker wird Natrium carbonicum ohnehin nicht für ein „kleines" Mittel halten. Aber so ist das eben: Die individuelle praktische Erfahrung trägt dazu bei, daß das Mittel X dem einen selten, dem anderen häufiger angezeigt zu sein scheint.