Denkst du oder wirst du gedacht?

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Danke sunny, es erspart mir meine Antwort an gerold.:)

Das Zitat lautet so: Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen"... und ich glaube, das haben wir.
 
Wuhu,
naja, genauer lautet es so, da gehört noch was davor und danach:
uni-muenster.de/FNZ-Online/wissen/aufklaerung/quellen/kant.htm
Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.
Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung freigesprochen (naturaliter majorennes), dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt u.s.w., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen.
Daß der bei weitem größte Teil der Menschen (darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit außer dem, daß er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte: dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben. Nachdem sie ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben und sorgfältig verhüteten, daß diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen, darin sie sie einsperreten, wagen durften, so zeigen sie ihnen nachher die Gefahr, die ihnen drohet, wenn sie es versuchen, allein zu gehen. Nun ist diese Gefahr zwar eben so groß nicht, denn sie würden durch einigemal Fallen wohl endlich gehen lernen; allein ein Beispiel von der Art macht doch schüchtern und schreckt gemeiniglich von allen ferneren Versuchen ab.
Es ist also für jeden einzelnen Menschen schwer, sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten. Er hat sie sogar liebgewonnen und ist vorderhand wirklich unfähig, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, weil man ihn niemals den Versuch davon machen ließ. Satzungen und Formeln, diese mechanischen Werkzeuge eines vernünftigen Gebrauchs oder vielmehr Mißbrauchs seiner Naturgaben, sind die Fußschellen einer immerwährenden Unmündigkeit. Wer sie auch abwürfe, würde dennoch auch über den schmalsten Graben einen nur unsicheren Sprung tun, weil er zu dergleichen freier Bewegung nicht gewöhnt ist. Daher gibt es nur wenige, denen es gelungen ist, durch eigene Bearbeitung ihres Geistes sich aus der Unmündigkeit herauszuwickeln und dennoch einen sicheren Gang zu tun.
Daß aber ein Publikum sich selbst aufkläre, ist eher möglich; ja es ist, wenn man ihm nur Freiheit läßt, beinahe unausbleiblich. Denn da werden sich immer einige Selbstdenkende, sogar unter den eingesetzten Vormündern des großen Haufens, finden, welche, nachdem sie das Joch der Unmündigkeit selbst abgeworfen haben, den Geist einer vernünftigen Schätzung des eigenen Werts und des Berufs jedes Menschen, selbst zu denken, um sich verbreiten werden. Besonders ist hierbei: daß das Publikum, welches zuvor von ihnen unter diese Joch gebracht worden, sie hernach selbst zwingt, darunter zu bleiben, wenn es von einigen seiner Vormünder, die selbst aller Aufklärung unfähig sind, dazu aufgewiegelt worden; so schädlich ist es, Vorurteile zu pflanzen, weil sie sich zuletzt an denen selbst rächen, die, oder deren Vorgänger, ihre Urheber gewesen sind. Daher kann ein Publikum nur langsam zur Aufklärung gelangen.
Durch eine Revolution wird vielleicht wohl ein Abfall von persönlichem Despotism und gewinnsüchtiger oder herrschsüchtiger Bedrückung, aber niemals wahre Reform der Denkungsart zustande kommen; sondern neue Vorurteile werden, ebensowohl als die alten, zum Leitbande des gedankenlosen großen Haufens dienen.
Zu dieser Aufklärung aber wird nichts erfordert als Freiheit; und zwar die unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heißen mag, nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen. Nun höre ich aber von allen Seiten rufen: räsoniert nicht! Der Offizier sagt: räsoniert nicht, sondern exerziert! Der Finanzrat: räsoniert nicht, sondern bezahlt! Der Geistliche: räsoniert nicht, sondern glaubt! (Nur ein einziger Herr in der Welt sagt: räsoniert, soviel ihr wollt und worüber ihr wollt; aber gehorcht!) Hier ist überall Einschränkung der Freiheit. Welche Einschränkung aber ist der Aufklärung hinderlich? welche nicht, sondern ihr wohl gar beförderlich? – Ich antworte; der öffentliche Gebrauch seiner Vernunft muß jederzeit frei sein, und der allein kann Aufklärung unter Menschen zustande bringen; der Privatgebrauch derselben aber darf öfters sehr enge eingeschränkt sein, ohne doch darum den Fortschritt der Aufklärung sonderlich zu hindern.
Ich verstehen aber unter dem öffentlichen Gebrauche seiner eigenen Vernunft denjenigen, den jemand als Gelehrter von ihr vor dem ganzen Publikum der Leserwelt macht. Den Privatgebrauch nenne ich denjenigen, den er in einem gewissen ihm anvertrauten bürgerlichen Posten oder Amte von seiner Vernunft machen darf. Nun ist zu manchen Geschäften, die in das Interesse des gemeinen Wesens laufen, ein gewisser Mechanism notwenig, vermittelst dessen einige Glieder des gemeinen Wesens sich bloß passiv verhalten müssen, um durch eine künstliche Einhelligkeit von der Regierung zu öffentlichen Zwecken gerichtet oder wenigstens von der Zerstörung dieser Zwecke abgehalten zu werden. Hier ist es nun freilich nicht erlaubt zu räsonieren; sondern man muß gehorchen.
Sofern sich aber dieser Teil der Maschine zugleich als Glied eines ganzen gemeinen Wesens, ja sogar der Weltbürgergesellschaft ansieht, mithin in der Qualität eines Gelehrten, der sich an ein Publikum im eigentlichen Verstande durch Schriften wendet, kann er allerdings räsonieren, ohne daß dadurch die Geschäfte leiden, zu den er zum Teile als passives Glied angesetzt ist. [...]“
Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? in: Berlinische Monatsschrift, Dezember 1784, 481-494, zitiert nach: Immanuel Kant, Was ist Aufklärung? Ausgewählte kleiner Schriften, hrsg. von Horst D. Brandt. Hamburg 1999, 20-22.
 
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Diesen Text als Antwort auf die von ihm gestellte Frage "Was ist Aufklärung?" habe ich hier aufrufbereit und hätte diesen hier einstellen können, jedoch habe ich mich bewußt zurückgehalten, um an dieser Stelle lediglich dessen Kernaussage wiederzugeben.
 
ohne wirklich umfassende infos nützt einem auch der beste verstand nichts.
außerdem ist der nicht angeboren, sondern entsteht erst durch anleitung, z.b. durch die eltern, die lehrer usw.
Hier widerspreche ich massiv: Weder in meinem Elternhaus noch bei den Lehrern des Gymnasiums habe ich diesbezüglich etwas mitbekommen, sondern erst beim Studium zunächst an einer TH bei den Vorlesungen, Übungen und Klausuren "Höhere Mathematik" sowie in langen Gesprächen mit Kommilitonen, weiter an einem anderen Hochschulort in der Philosophievorlesung sowie in einem von einem Jesuiten veranstalteten Seminar: Erst nach dem Abitur habe ich während meines Studiums wirklich präzises Denken gelernt, und dieses bedurfte härtester Arbeit - alles andere war Verdummung und Verblödung.
 
Sehr werde ich mich hüten, mich einem "Meister" anzuvertrauen, sondern ziehe es allezeit vor, mich umfassend meines Verstandes zu bedienen, um eigenverantwortlich zu handeln.
 
Eure Thematik an sich finde ich aber schon interessant. Sollten wir die Beiträge unter dem Motto - Denkst du oder wirst du gedacht? o. ä. - in eine andere Rubrik, "Nachdenken" fände ich passend, auslagern?
Daran wäre ich auch interessiert. Die Thematik wird aber immer wieder in anderen Threads auftauchen. Dieses Forum regt ja dazu an, andere Wege zu suchen. Ich habe mir jedenfalls nun Immanuel Kants gesammelte Werke als E-Book geladen. (Kindle, 0,99€) Er scheint moderner zu sein, als ich in Erinnerung an öde Schulstunden vor ca. 65 Jahren dachte. Vielleicht bin ich mit den Jahrzehnten klüger geworden 😊
 
Er scheint moderner zu sein, als ich in Erinnerung an öde Schulstunden vor ca. 65 Jahren dachte. Vielleicht bin ich mit den Jahrzehnten klüger geworden
Vorhin habe ich mich erneut beim Frühstück mit meiner Frau über das oben angesprochene Problem unterhalten: Der geisteswissenschaftlche Unterricht des Gymnasiums, vor allem in Deutsch, Geschichte und Gemeinschaftskunde, das ich vor Jahrzehnten besucht habe, war größtenteils schlecht. Das, worüber dort hätte unter allen Umständen gesprochen werden sollen, wurde nicht gesagt, dies möglicherweise auch deshalb, weil die Lehrer selbst nicht den vollen Durchblick gehabt haben. - Auch diesbezüglich hat es eine "gute alte Zeit" nie gegeben.
 
Gerne nehme ich die Einladung an und bringe bei dieser Gelegenheit ein, was mir noch in der Vor-Corona-Zeit ein im hiesigen Klinikum tätiger Arzt bei einem zufälligen Treffen beim Samstags-Wochenmarkt gesagt hat: Die meisten Patienten geben nach dem Betreten des Hauses bei der Anmeldung nicht nur ihr Kärtchen, sondern auch ihren Verstand ab.
 
Dann wünsche ich dir hier Gerold, weiterhin einen bereichernden Austausch mit vielen denkenden Menschen, die nie andere für sich denken lassen, während ich vollkommen tiefenentspannt die Sonne im Garten genieße und meinen Verstand erst einmal an die Schuppentür gehängt habe.:)

Viele Gartengrüße von Wildaster 🌷
 
während ich vollkommen tiefenentspannt die Sonne im Garten genieße und meinen Verstand erst einmal an die Schuppentür gehängt habe.:)
Das sollte man natürlich immer mal tun. Es gibt ja auch noch das Bauchgefühl, Vorahnung, Empathie. Aber in unserer Zeit werden alle Techniken der Meinungsmanipulation angewandt
https://de.wikipedia.org/wiki/Techniken_der_Propaganda_und_Meinungsmanipulation
um die Bevölkerung auf dem gewünschten Kurs zu halten. Mehr denn je müssen wir gewappnet sein.
 
Ja, liebe Locke, dem kann ich nur zustimmen.😊

Ich würde niemals einem Arzt vertrauen, der solch eine Bemerkung über seine Patienten trifft, wie Gerold schrieb und ja, was gibt es dazu noch zu sagen als - Götter in weiß!

Gott sei Dank habe ich nach jahrelangem Kampf gute Ärzte um mich.

Liebe Grüße von Wildaster☀️🌺🌼🌸
 
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Hier muß ich noch weiter ausholen: Eingangs stand meine Frage an diverse Ärzte, wie groß der Anteil der Patienten ist, die bereit sind, ihr Leben zufolge einer gegebenen Diagnose durchgreifend zu ändern. Alle befragten Ärzte, seien dies solche für Allgemeinmedizin oder Fachärzte in einem Klinikum, haben mir übereinstimmend geantwortet, daß hierzu nur ein verschwindend geringer Teil der Patienten bereit ist.
Wenn ich mich so umschaue, gilt dies nicht nur für die Medizin, sondern für so ziemlich alle Fragen des mathematisch-naturwissenschaftlich-technischen Bereichs, indem den weitaus meisten Mitmenschen das zugehörige elementare Grundwissen abgeht und diese Naturgesetze durch Ideologien ersetzen, z. B. um die Menschheit zu retten; in diesem Zusammenhang denke ich nicht nur an die "Erneuerbare Energie", sondern auch an den "menschengemachten Klimawandel".
Hierzu kommt ein Weiteres: Ein Großteil der Mitmenschen weigert sich nicht nur, Naturgesetze zur Kenntnis zu nehmen, sondern darüber hinaus, selbst wenn man ihnen diese erklärt und sie diese auch verstanden haben, hieraus die Konsequenzen zu ziehen und entsprechend ihr jeweiliges konkretes Handeln im Alltag auszurichten.
 
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Hier muß ich noch weiter ausholen: Eingangs stand meine Frage an diverse Ärzte, wie groß der Anteil der Patienten ist, die bereit sind, ihr Leben zufolge einer gegebenen Diagnose durchgreifend zu ändern. Alle befragten Ärzte, seien dies solche für Allgemeinmedizin oder Fachärzte in einem Klinikum, haben mir übereinstimmend geantwortet, daß hierzu nur ein verschwindend geringer Teil der Patienten bereit ist.
Eigentlich gerold, beweist genau dieses Forum, dass es nicht so ist und auch sooo viele Beispiele aus meinem Bekanntenkreis.

Grüße von Wildaster
 
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