Ich bin auf ein Essay (2021) von Eva Horn, Kultur- und Literaturwissenschaftlerin mit Professur an der Uni Wien zufällig gestoßen. Ausschlaggebend für ihr Essay war eine Mail eines Freundes auf ihre Frage, wie es ihm im Lockdown (in London) so gehe. Seine Antwort war:
Liebe Eva,
alles bestens. Ich hab sowieso nie an diese Geschichte geglaubt. Ich hab seit 2016 Kontakt mit einer Gruppe, die den ganzen Nonsense hinter dieser Hexenjagd gegen Trump entlarvt. Erst waren wir gegen Trump wie alle anderen auch, und dann haben wir das eigentliche Problem gefunden. Alles, was die Linke gegen Trump vorbringt, hat sie selbst doch schon längst gemacht! Oder macht es gerade. Ich verstehe deine Haltung zu diesem Thema oder zum sogenannten ‚Klimawandel‘ oder was sonst an den Universitäten so für progressiv gehalten wird. Die ‚Black Lives Matter‘-Bewegung ist marxistisch wie ihre Gründerin Patrisse Cullors zugibt. Ich hab nie eine Maske getragen und weigere mich, bei diesem Unsinn mitzumachen. Das ist etwas, vor dem ich seit Jahren gewarnt habe und es heißt ‚Agenda 21‘. Aber die sogenannten Intellektuellen werden sich da nie dranwagen. Wenn sie es täten, würden sie ja ihre tollen Dauerstellen verlieren oder sowas. Kurz gesagt ist das ein großes Gebräu von Schwachsinn, das große Tiere wie Bill und Melinda Gates zusammengerührt haben. Die sind ja aus Indien rausgeflogen, weil sie Hunderttausende von Leuten getötet oder verstümmelt haben. Und da gibt’s noch sehr viel mehr.
Aber wirst Du darüber schreiben? Sicher nicht! Wie alle anderen Lemminge hast du vorschnell ein Urteil gefällt und einen gewählten Präsidenten einem Impeachment‑Verfahren unterzogen in einem Land, das dich nichts angeht. Warum??? Na ja, viel Glück. Die Lehre aus der Geschichte kommt vor der Konditionierung durch die Medien und durch blinden Hass. Ich hoffe, du kapiersts, bevor die Geschichte sich wiederholt.
Ich vermisse deinen Witz und fantastischen Humor.
Sie dachte zuerst, jemand hätte das Konto ihres Freundes gehackt und war einfach sprachlos. Wie konnte eine einfache freundliche Geste mit der Frage, wie geht's dir, so einen wirren monologischen Ausbruch verursachen, verbunden mit dieser giftigen Invektive?
In Gesprächen fiel ihr auf, dass sich immer mehr die Frage aufdrängt, in welcher Wirklichkeit lebt mein Gegenüber, in welcher ich, auf welchen Quellen und Infos beruhen diese Meinungen. Und wie kann man über eine Sache überhaupt angemessen diskutieren, wenn diese Welten weit auseinander liegen?
So divers und kontrovers eine Gesellschaft sein mag, muss sie doch, um überhaupt streiten zu können, einen Konsens darüber haben, was als wirklich anerkannt wird und was nicht. Das mag auf den ersten Blick banal klingen. Es ist ja nicht so, dass einige Teile der Gesellschaft etwa die Existenz der Schwerkraft leugnen, andere nicht. Aber seien wir ehrlich: Außer der Schwerkraft scheint es heute kaum mehr einen Sachverhalt zu geben, der nicht von der einen oder anderen Seite bestritten würde. Hier nur einige Beispiele:
„COVID-19 ist nicht mehr als eine Grippe.“
„Die ganze Pandemie ist eine aufgeblasene Krise, die dazu dient, einen Polizeistaat durchzusetzen und die Freiheit der Bevölkerung zu beschränken. Das Virus wurde absichtlich in die Welt gesetzt.“
„Die Maßnahmen gegen COVID-19 sind überflüssig und dienen in Wirklichkeit ganz anderen Zwecken.“
„Bei den Impfungen sollen den Menschen heimlich Mikrochips implantiert werden.“
„Außerdem machen Impfungen krank. Wie übrigens auch Handystrahlen, Wasseradern oder Elektrosmog.“
„Klimawandel ist nichts als die Wichtigtuerei von einigen wenigen Klimaforschern.“Einen wissenschaftlichen Konsens über globale Erwärmung gibt es gar nicht. Die Flüchtlingsströme nach Europa sind ein groß angelegter Versuch, die ansässige Bevölkerung auszutauschen und die abendländische Kultur abzuschaffen.“
„Am Ende steht dann die Islamisierung Europas. Militär und Geheimdienste bilden einen Staat im Staate, der die offizielle Politik der Regierung manipuliert oder unterläuft.“
„Traditionelle Medien wie Zeitungen oder Fernsehen sind längst gleichgeschaltet und verbreiten nur noch ‚Fake News‘, die der Regierung oder den internationalen Eliten in die Hände spielen.“
Und so weiter und so weiter...
Sie schreibt, das sei aber nicht erst seit Corona so.
Diese Kakophonie von Hypothesen und Verdächtigungen, kleinen Ängsten und massiven Verschwörungstheorien ist kein Produkt der Corona-Demonstrationen. Seit 20 Jahren kann man das zunehmende Zerbröseln einer geteilten Wirklichkeit beobachten.
Und ein fundamentales Mißtrauen gegenüber etabliertem Wissen. Sie erwähnt auch Wodarg, Bhakdi und Homburg und meint, dass es natürlich auch berechtigte Fragen von Skeptikern gibt. Das Problem ist aber:
Das Problem mit dieser Form der Skepsis ist die Mischung: Neben sinnvoller Kritik an der offiziellen Experteneinschätzung stehen wirre Spekulationen, ausdrückliche Unwahrheiten und befremdliche Schlussfolgerungen.
Und dass die Adressaten nicht andere Wissenschaftler und Forscher sind, sondern die Öffentlichkeit durch Bücher, Podcasts, Interviews usw. und vermeiden die Qualitätssicherung in der Wissenschaft.
Das ist ein breites Publikum von besorgten Bürgerinnen und Bürgern, die sich nicht selten schon durch einen Doktortitel und jede Menge medizinisches Vokabular beeindrucken lassen. Auch wenn jemand gar kein Fachmann ist. Die Debatte, die dadurch entsteht, mag auf Laien wirken wie eine wissenschaftliche Diskussion. Aber sie ist es mitnichten. Wissenschaftliche Beleg- und Überprüfungsverfahren werden dabei lässig umgangen. Oder sie werden als Mechanismen einer angeblichen Diskurspolizei verworfen, die ja angeblich nur den wissenschaftlichen Mainstream zulasse.
Beobachtet sei auch ein seit Jahren bekanntes Muster in der Argumentationsstrategie der selbsternannten Experten, die keine Fachexpertise hatten. Nebelkerzen, Cherry-Picking, Bullshitting sind genau die Strategien, die sie selber benutzen, aber anderen vorwerfen. Es geht nicht darum, wissenschaftliche Methoden tatsächlich zu diskutieren oder verbessern zu wollen.
Dabei spielt natürlich auch der sich wechselnde Kenntnisstand der Wissenschaft den Skeptikern in die Hände.
Diese Fluidität von Wissenschaft hat nun in der Öffentlichkeit zu einem sehr seltsamen Effekt geführt. Den selbsternannten Skeptikern, ihren Youtube-Vorträgen und süffigen Polemiken ist es zu danken, dass sich mittlerweile fast jeder mit oder ohne Fachkompetenz als Forscher und Experte fühlen kann. Allgemeinärztinnen, Physiotherapeuten, Lehrerinnen und Internet-affine Teenager bilden sich munter ihre ganz eigene Meinung. Und zwar durch Forschung im Internet. Vordergründig sieht dies aus wie eine Demokratisierung von Wissenschaft: Jeder und jede kann mitmachen. De facto ist es aber nur eine andere Spielart der Besserwisserei. „Just google it.“ Das ist das Mantra von Skeptikern wie Verschwörungstheoretikerinnen geworden. Wer mag, kann sich eine andere als die offizielle Wahrheit zusammenrecherchieren. Damit die Sache nicht langweilig wird, hilft es, dass soziale Medien wie Facebook oder Twitter Fake-News und Sensationsmeldungen sechsmal so häufig wie normale Neuigkeiten verbreiten. Und die Suchalgorithmen spielen einem dabei bei jeder Suche das zu, was die eigenen Präferenzen zu bestätigen scheint. Auch kognitiv verarbeiten wir Informationen, die unsere Einstellungen bestätigen, leichter als solche, die ihnen zuwiderlaufen. Man findet also, was man sucht, wird bestätigt, und die Ergebnisse sind aufregend. Die Besserwisserei der googlenden Laien ermöglicht ein Forscherleben wie aus dem Bilderbuch.
Auf den ersten Blick wirkt das sympathisch und selbstbestimmt. „Selber denken“ ist ja mal der Schlachtruf der Aufklärung gewesen. Und der „Querdenker“ ist noch heute der Inbegriff des kritischen Geists. Leider ist es nun auch der Name einer Corona‑Skeptiker-Bewegung aus Stuttgart. Die Besserwisserei erscheint den Beteiligten als Emanzipation und geistige Unabhängigkeit, deshalb wimmelt es auf der Website der Querdenker von ehrwürdigen Vokabeln wie „Freiheit“ und „Demokratie“. Aber um Emanzipation geht es dabei nicht.
So divers und kontrovers eine Gesellschaft sein mag, muss sie doch, um überhaupt streiten zu können, eines teilen: Einen Konsens darüber, was als wirklich anerkannt wird und was nicht, schreibt Eva Horn in einem Essay der "Berliner Zeitung". Für den Deutschlandfunk hat sie ihn weitergedacht.
www.deutschlandfunk.de
Bruno Latour meint dazu:
Der Wissenschaftssoziologe Bruno Latour hat bemerkt, dass das kritische Denken seit Anfang des Jahrtausends dazu tendiert, Fakten im Dienst politischer Agenden aufzulösen. Einst, so Latour, hatte Kritik darin bestanden, scheinbar naturgegebene Sachverhalte als soziale oder politische Konstrukte oder Streitsachen zu entlarven. Heute scheint es umgekehrt darum zu gehen, wissenschaftliche Fakten durch eine Kakophonie von selbstgebasteltem Dissens zu liquidieren, um sie in reine Streitsachen zu überführen. Wissenschaft ist damit politisch geworden, eine Zone des Kampfes zwischen der etablierten Forschung und jenen „alternativen Fakten“, die die Besserwisser zusammentragen. In dieser Politisierung von Wissen löst sich mit den Mechanismen der Wissenssicherung auch die Faktizität selbst auf. Es scheint keine Kriterien mehr zu geben, um Fakten von Meinungen, Gefühlen oder Interpretationen zu unterscheiden. Etliche sich um Corona rankende Verschwörungstheorien zeigen anschaulich, wie diese Art der Politisierung das Feld der Debatte immer weiter auflöst, bis eine Diskussion unmöglich wird. In der Besserwisserei verschwimmen damit wichtige Differenzen wie die zwischen Experten und Laien, zwischen Fachdiskussion und medialem Gezeter, zwischen Fakten und alternativen Fakten, die keine sind.
Die Gefahr der Erosion von Wissen und Wirklichkeit geht auch über in eine Erosion des Politischen.
Denn auch politischer Dissens ist nur möglich auf der Basis einer geteilten Wirklichkeit. Wer an gänzlich andere Wirklichkeiten glaubt, oder sich um die Wahrheit der eigenen Behauptungen nicht schert, mit dem ist keine Diskussion mehr möglich. Auch eine zerstrittene Gesellschaft hat noch eine Einheit, die Einheit des Dissenses. Wenn diese Einheit aufgekündigt und aus unvereinbaren Wirklichkeiten heraus gesprochen wird, bleibt am Ende nichts, worüber man noch streiten kann.