Früh am Morgen. Allein, hinter einem durchscheinenden Wandschirm sit-zend, vergegenwärtige ich die Beziehung zu meiner Mutter bis zum Alter von vier Jahren. Drei Fragen: 1) „Was hat sie mir Gutes getan?“ -- 2) „Was habe ich ihr Gutes getan?“ -- 3) „Welche Schwierigkeiten habe ich ihr gemacht?“ -- Nach ein bis zwei Stunden erscheint der Anleiter, hört kurz eine Stichprobe meiner Erinnerungen, dankt, verneigt sich, geht. Mitunter erinnert er an die Instruktionen oder gibt Ermutigung. In den folgenden Zeitabschnitten gehe ich weiter zum Alter vier bis sieben, sieben bis zehn . . . bis zur Gegenwart. Danach Vater, Geschwister, Lehrer, Partnerinnen, Kinder usw. Die Beziehung mit der Mutter wird mindestens zweimal durchgearbeitet. Dies geht täglich vom Aufwachen bis zum Ein-schlafen, mindestens sieben Tage lang. Der Anleiter bringt die Mahlzeiten. Kein Kontakt mit anderen. Jedoch ist die Gegenwart der anderen – jeder hinter seinem Wandschirm im selben Raum – spürbar.
Leichter Akzent auf der dritten Frage. (Die vierte – leicht zu erraten! – bleibt außer Betracht.) Im Brennpunkt das eigene Verhalten, nicht die Absichten. Dieses wird nie bewertet oder interpretiert (z.B. als Schuld, Verdienst). Erinnerungen werden einfach angesehen, gefühlt – und als Stufe zu weiterer Vergegenwärtigung benutzt. Für Beziehungen, die noch bestehen, gibt es in der letzten Periode eine vierte Frage: „Was will ich ändern?“ Es werden nur Erinnerungen an einzelne konkrete Verhaltensweisen in Betracht gezogen, keine Verallgemeinerungen. „Sei nicht stolz, wenn du dich an die Vergangenheit erinnern kannst; sei nicht deprimiert, wenn nicht. Praktiziere einfach Naikan mit ganzem Herzen!“
Zu Beginn fließen die Erinnerungen quälend spärlich. Etwa vom dritten Tag an gibt es eine wahre Flut. Überwältigendes Bewusstsein meiner alltäglichen Unachtsamkeit, Destruktivität, Kommunikationslosigkeit, Lieblosigkeit. Die Gewohnheit der Selbstbewertung, Selbstkritik führen nahe an Verzweiflung. Ich bin versucht, abzubrechen – wie viele. Die letzten beiden Tage: Schmelzen, Entspannung, Fließen – Wertschätzung der Beziehungen, wie sie eben waren; Dankbarkeit. Die Verbindungen reichen tiefer als meine verwirrten Handlungen. Eine begrifflich kaum erklärbare Wandlung. Am Ende gemeinsames Festessen: die Gesichter weich, leuchtend.
Das ist Naikan („Innenschau“), eine in Japan verbreitete Psychotherapie und nicht-religiöse, kontemplative Praxis, die der Zen-Tradition ent-stammt.
Im Lauf der Jahre praktizierte ich Naikan insgesamt zwei Monate lang (einmal als Assistent des Anleiters). Wozu ist es gut? 1) „Reue und Bekennen“ sind befreiend – Entschuldigen, Tadeln, Ignorieren waren das nie. -- 2) Verallgemeinerungen, Selbstverdammung sind schmerzhaft, jedoch blockierend, eine Form des Ausweichens, eine Sackgasse. -- 3) „Spirituelle“ Ausreden („Ist doch nur Denken!“) werden bloßgelegt: die relative Realität muß auf der relativen Ebene bereinigt werden. Darum hatte ich mich mit „fortgeschrittenen“ Praktiken herumgemogelt. -- 4) Die Intensität der Erfahrung („Ausbrennen“) führt dazu, daß die betrachteten Muster weniger wahrscheinlich werden. Sehr zu empfehlen vor dem Beginn neuer Lebensabschnitte. Auch, wenn das Leben zur Neige geht. -- 5) Naikan stellt mich bloß und kommt teuer: manchmal „muß“ ich anschließend bislang Verschwiegenes mitteilen oder „vergessene“ Schulden erstatten – und bin glücklich, wenn das noch möglich ist. -- 6) Starker Transfer in den Alltag: die Naikan-Fragen tauchen immer wieder spontan auf: Ich kann den Folgen meines Handelns nicht entgehen.
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