In Deutschland – und das gilt auch für das restliche Mitteleuropa (in UK und Skandinavien ist die Situation etwas anderes) – gelten die Umweltkrankheiten mit ihrem komplexen Krankheitsbild als rätselhaft und die Psychothese als diskutabel. Rechtlich herrscht die Psychothese.
Auf letzteres kommt es an. Um Wissenschaft geht es dabei nicht.
Die Wissenschaft hat die Fragen, die für eine sichere Erkenntnis ausreichen, bis Ende der 80er Jahre beantwortet und die häufigsten Umweltkrankheiten definiert (Diagnosekriterien). Diese sind auch anerkannt: sie sind in der Liste der Diagnosen der WHO, dem ICD-10 (International Classifikation of Deseases), aufgenommen. Die Ärzteinformation listet die Diagnosekriterien, Erscheinungsjahr und Autor und die Klassifikation im ICD. Damit enthält sie alle Daten für den Nachweis der Anerkennung.
Das Problem liegt darin, dass es keiner nutzt. Das Vorurteil ist stärker als nachprüfbare Fakten – und das zum eigenen Schaden!
Keine der Klassifikationen weist auf eine psychiatrische Krankheit hin.
In Deutschland wurde das alles verschlafen.
Erst seit Mitte der 90er-Jahre gibt es dazu eine Debatte und auch erst seit dieser Zeit gibt es die Psychothese („Ökochonder“ und Erlanger Studie, beide 1995). Die Umweltmediziner und die Selbsthilfegruppen glauben steif und fest, es sei ein wissenschaftliches Problem und wollen ausgerechnet die „überzeugen“, die die Psychothese erst erfunden haben, um das Rad zurückzudrehen.
So entsteht jede beliebige Verwirrung: Die einen Gutachten kennen den allgemein anerkannten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis nicht, die anderen wollen davon nichts wissen. Da kann man beliebig lang ohne Ergebnis diskutieren – wir tun das seit fast 20 Jahren. Das ist eine Debatte, die das Fundament ausklammert.
An dieser Stelle soll ein kurzer Aufriss der Wissenschaftsentwicklung in Sachen MCS zur Glaubhaftmachung eingefügt werden:
- 1948 entdeckte der Allergologe Theron D. Randolph die chemische Sensitivität. Er hat unermüdlich Anamnesen durchgeführt, Tests gemacht, die Patienten erneut befragt usw. usf.. Dabei fiel ihm 1948 das Ausbleiben allergischer Reaktionen auf, wenn die Testsubstanzen von wild gewachsenen Früchten stammten. Es waren also nicht die Früchte, sondern Spritzmittel im Niedrigdosisbereich.
- 1962 publizierte er erste Erkenntnisse.
- 1966 wies die Neurologin Muriel Kailin Reaktionen auf DDT deutlich unterhalb der Durchschnittsbelastung elektrophysikalisch nach. Das war der erste Doppelblind-Nachweis der chemischen Sensitivität.
- In den 70er-Jahren hat Miller die erste Therapie entwickelt (Miller 1977), die Provokations/Neutralisation-Therapie.
- In den 80er-Jahren kamen weitere Immuntherapien hinzu (TF, ALF).
- 1987 wurden Diagnosekriterien definiert (Cullen 1987, heute: Konsenskriterien 1999)
- 1992 hat die WHO MCS im ICD-10 (International Criteria of Diagnostics – 10. Auflage) unter Allergie rubriziert (T78.4). Damit ist MCS eine anerkannte organische Erkrankung durch äußere Einwirkung.
- 1992, 1994, 1995 und 1997 wurden die vier Bände des Standardwerkes „Chemical Sensitivity“ von Rea publiziert (3 000 Seiten)
- 1995: Die Psychothese gibt es erst seit Mitte der 90er Jahre, vorher war MCS 4 Jahrzehnte organisch bedingt. Für diese These gab es nie einen wissenschaftlichen Grund. Gemessen an der Literaturlage hätte sie nicht formuliert werden dürfen. Soweit Studien diese These „belegten“, so verwechseln sie Ursache und Wirkung: Psychische Defizite sind Frühsymptome von Neurotoxika.
- 1998 haben zwei Professoren des renommierten MIT den wissenschaftlichen Fundus zu MCS gesichtet und überprüft (Ashford & Miller 1998) und dessen Gültigkeit bestätigt.
- 2007 wurden von Pall die grundlegenden biochemischen Pathomechanismen aufgeklärt (Pall 2007).
Wie, wird der Leser nun fragen, kann dann ein ganz anderes Bild entstehen? Nun, ganz einfach, wenn beide Seiten, die heftig diskutieren, die Grundlagen nicht kennen.
Wer eine Wissenschaftsdebatte führt, hat schon verloren, denn damit räumt man ein, dass der völlig eindeutige allgemein anerkannte Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis gar nicht existiert. Und genau darin sind sich die Diskutanten einig.
Die umweltmedizinischen Gutachter machen den Fehler, dass sie glauben, MCS oder CFS über Laborparameter objektivieren zu können. Eine Objektivierung im juristischen Sinn erfolgt aber über die Diagnose und die ist immer klinisch definiert. Sie müssten nur die Diagnosekriterien hinschreiben und nachvollziehbar die Diagnose stellen; anschließend könnten sie immer noch zeigen, dass sie dem arbeitsmedizinischen Gutachter haushoch überlegen sind.
Und die Betroffenen? Die suchen im Internet nach neuen Publikationen. Damit suchen sie in der falschen Richtung. Das Anerkannte ist entscheidend, nicht er aktuelle wissenschaftliche Diskurs.
„Wer ist eigentlich Rea?“, werde ich manchmal gefragt. Tja, so entsteht eben ein falsches Bild, wenn die Aktivisten nicht einmal das gültige Standardwerk kennen, geschweige den Inhalt. Die Debatte hat seit 1995 das Thema verfehlt: es ging nie um wissenschaftliche Klärung, sondern um das Verstehen, was schon Jahrzehnte bekannt ist – „gesicherte Erkenntnis“.
Wen dieser Text skeptisch stimmt oder einfach mehr wissen möchte, der kann etwa in meinen Blogs bei CSN und bei dr-merz.com weiterführende Informationen finden. Dort habe ich aus verschiedener Perspektive beleuchtet, dass der Schlüssel für „Recht bekommen“ der „allgemein anerkannte Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis“ ist. Auf den muss man insistieren – dann hat die Psychothese keine Chance.
7 Kommentare in “Umweltkrankheiten sind allgemein anerkannte Krankheiten (WHO)”