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hallo,
der text ist zwar ein wenig lang, doch vielleicht interessiert es jemanden von euch.
viele liebe grüsse von shelley :wave:
https://www.nzzfolio.ch/www/d80bd71b-b264-4db4-afd0-277884b93470/showarticle/ed2fa6d2-0145-46ac-af7c-559ecd988904.aspx
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NZZ Folio 12/00 - Thema: Spielzeug Inhaltsverzeichnis
Spielen ohne Zeug
Ein Kindergarten-Experiment scheidet die Geister.
Von Cornelia Kazis
Die Frau ist aufgebracht. «Warum muss das denn so radikal sein? So übertrieben?» Sie verdreht die Augen und verlässt den Raum. Ungern lässt sie ihren Sohn zurück. Es ist nass und kalt und Montag, der 16. Oktober, kurz nach acht Uhr. Was die Frau so ärgert, soll nun für den Rest des Jahres so bleiben. Bis Weihnachten wird ihr kleiner Niklas im Kindergarten ohne Spielzeug auskommen müssen. So jedenfalls sieht es das Projekt «Spielzeugfreier Kindergarten» vor.
«Ich sehe nicht ein, warum die von der Suva Broschüren zur Unfallverhütung in die Haushalte schicken, wenn die Kinder im Kindergarten Stühle aufeinander stapeln dürfen, um auf die Schränke zu kommen und sich dort in Kartonschachteln einzurichten.»
Frau Adler, so heisst die Frau, ist Niklas? Mutter. Sie ist entschlossen, ihn aus dem Kindergarten zu nehmen, wenn sie merkt, dass die Sache aus dem Ruder läuft und ihren Fünfjährigen überfordert. Aber vorerst will sie abwarten. Und einmal, an irgendeinem Morgen, wird sie sich die Sache genauer anschauen wollen. Unangemeldet, wohlverstanden.
«Anregend für die Phantasie soll das sein? Warum dürfen sie denn keine Farbstifte haben? Keine Schnüre? Kein Papier? Da wird doch die ganze Verantwortung für das Spielen und Lernen an Fünf- und Sechsjährige abgegeben! Das ist doch eine Überforderung.»
Seit dem Informationsabend für Eltern ist Frau Adler gegen das Projekt. Da wird auf dem Rücken der Kleinen experimentiert, meint sie und sieht auch nicht ein, weshalb Suchtprävention so früh und so krass sein muss. Und was Spielsachen mit Sucht zu tun haben sollen, ist ihr eigentlich auch nicht klar.
Frau Adler ist nicht allein mit ihrer Meinung. «Hanebüchener Pädagogenfurz!», «Schlechter Scherz für arme Kinder», «Absurdes Experiment», «Kinder als Versuchsopfer», «Blanker Unsinn» und «Schickt die Projektverantwortlichen auf eine einsame Insel!»: So lauteten die Überschriften von Zeitungsartikeln und Leserbriefen zu den Versuchen in Basel und Solothurn. Aber es gibt auch viele begeisterte Stimmen, die bedauern, dass es nur wenige solche Kindergärten gibt - in Basel sind es derzeit zwei - und dass die Spielzeugfreiheit auf zwölf Wochen beschränkt ist.
Das Projekt wird in Basel vom zuständigen Rektorat und von der Abteilung Jugend, Familie und Prävention des Justizdepartements organisiert. Verantwortlich in Sachen Schule und Suchtprävention ist Benno Gassmann, ein drahtiger Mann mit angegrauten Locken, kleiner Brille und farbenfrohem Pulli. «Für mich ist das ein sehr überzeugendes Projekt für die Kindergartenstufe», sagt er, «ich kenne nichts Besseres.» Als Fachmann ist ihm ein Punkt in der oft schwabbelig geführten Diskussion rund um Prävention wichtig: «Sie muss früh beginnen, und sie muss nachhaltig wirken.»
Der Slogan heisst «Suchtprävention durch Lebenskompetenzförderung». Benno Gassmann deutscht aus: «Die Kinder brauchen Schutzfaktoren gegen schädigendes Verhalten. Das sind Dinge wie Beziehungsfähigkeit, Standfestigkeit, Gefühlssicherheit, sprachliche Beweglichkeit, Konfliktfähigkeit, Frustrationstoleranz, Durchsetzungsvermögen und Selbstbewusstsein. Das sind Schutzfaktoren nicht nur gegen Süchte, sondern auch gegen Gewalt.»
Der spielzeugfreie Kindergarten - ein Wunderding mit Schutzfaktor 100? Der erste Tag nach den Herbstferien in Sabine Kromers Kindergarten an der Hirzbrunnenschanze, mitten in einem Reihenhäuschenquartier, zwei Katzensprünge vom Badischen Bahnhof entfernt, zwischen Basels Stadtrand und Riehens Noblesse. Beginn der Spiele ohne Zeug.
Die Tische sind blank, die Regale leer, die Wände kahl. Nicht plötzlich, sondern in langsamer Aktion in den Tagen vor den Ferien ab- und ausgeräumt von den Kindern selbst. In einer Runde am Boden sitzend, wurde beratschlagt, was im grossen Kasten im Keller einen Winterschlaf machen und was in die Ferien geschickt werden soll. Am letzten Tag kamen die Kinder aus dem Nachbarkindergarten mit Tüten und Taschen und holten Sandwanne und Dinosaurierpuzzle, Balancierscheibe und Kreisel, die liegende Acht und ein Instrument und dies und das zu sich in die Ferien. Kein trauriger Moment. Die Bereicherten schienen keineswegs froher als die Verzichtenden.
Nun sind manche Kinder schon da. Niklas Adler, Luiz und Deniz sind eifrig dabei, aus Stühlen eine Hütte zu bauen. Raffael verkriecht sich in einer Computerschachtel auf dem Schrank und beobachtet das Ganze erst einmal. Cenia und ihre grosse Schwester York stehen noch etwas verloren herum. Berivan, ein kleines Mädchen mit dunklen Augen, setzt sich zu mir und sagt: «Berivan auch schreiben will in Buch.» Sie übt das grosse B von Berivan immer und immer wieder. Dann das grosse E. Immer bekommt es zu viele Beine. Mal fünf. Mal vier. «Schreiben schwer Berivan», sagt sie und bleibt neben mir sitzen. Salome schiebt zwei Stühle zusammen, holt sich Tücher und Schleier und macht sich ein Bett. Berivan will auch rein. Darf aber nicht. Die Prinzessin auf der Erbse will allein sein. Gut, akzeptiert. Noch einmal ein E mit fünf Beinen.
Raffael hat eine Idee. Wie wär's mit einer Rutschbahn vom Schrank herunter? Gabriel und Orlando sind begeistert. Nur, wie soll die halten? Die drei blonden Hämpflinge machen einen Plan. Die Konstruktion ist schweisstreibend: ein erster Tisch an den Schrank, ein zweiter Tisch auf den ersten, ein Stuhl auf den zweiten Tisch, dann die lange Bank als Diagonale vom Boden bis zum zweiten Tisch. Eine steile Abfahrt mit harter Landung. Der pausbäckige Raffael reibt sich den Po. «Ihr braucht noch Kissen», mischt sich York ein und holt Schaumgummikeile aus dem Keller. «Gute Idee, York», lobt Gabriel, «willst du auch mitspielen?» York will.
Es ist Viertel vor Neun. Nichts ist mehr an Ort und Stelle. Aber alle Kinder sind da. Sabine Kromer hat unbemerkt Notizen in ihr Buch gemacht und ruft nun mit sanfter Stimme alle in den Kreis. Im Nu sitzen sie still beisammen. Die Regeln werden besprochen. Die Älteren erinnern sich noch: Erstens muss man Frau Kromer nicht fragen, ob man dies oder jenes spielen darf, zweitens soll niemand weh haben, drittens soll nichts zerstört werden, und viertens ist Frau Kromer immer da, wenn jemand Rat oder Hilfe braucht.
Sabine Kromer ist seit neun Jahren Kindergärtnerin. Das Ansehen der sanften jungen Frau mit der Glockenstimme und den vollen Lippen ist hoch. Sie sei sehr phantasievoll und speziell, attestieren ihr selbst Eltern, die dem Projekt skeptisch gegenüberstehen. Auch Frau Adler. Sabine Kromer wagt die spielzeugfreie Phase bereits zum dritten Mal. Warum? «Weil weniger mehr ist», sagt sie, und: «Weil viele Kinder eigentlich nicht mehr spielen können. Sie wechseln von einer Spielsache zur anderen, ohne sich in etwas zu vertiefen, sind rastlos und eigentlich oft unerfüllt.» Die Kindergärtnerin beobachtet, dass sich das nach dem dreimonatigen Spielzeugverzicht bessert, dass die Kinder sich länger konzentrieren, deutlich mehr und besser miteinander sprechen und mehr gemeinsam unternehmen.
«Am schwierigsten für mich ist, mich so stark zurückzunehmen und darauf zu vertrauen, dass mit dem Spielen aus dem Nichts etwas entsteht. Bis jetzt hat das immer funktioniert. Das Schönste ist zu erleben, wie gross die Fähigkeiten der kleinen Kinder sind, selber Lösungen für ihre Probleme zu finden, wenn man ihnen Zeit lässt. Wir funken in der Regel zu schnell dazwischen.» Während des Projekts spielt die Kindergärtnerin eine andere Rolle. Sie ist nicht mehr Animatorin, sondern Beobachterin, nicht mehr Wissende, sondern Assistentin forschender Kinder.
Der spielzeugfreie Kindergarten - ein Neuaufguss von Summerhill? Am zweiten Tag entdeckt Jonas während der Pause draussen im Garten einen hellgrünen Grashüpfer. Er ist tot. York meint, sie habe ihn gestern noch lebendig gesehen. Woran mag er nur gestorben sein?, fragen sich ein paar Kinder. Erfroren, zertreten, ertrunken in der Pfütze, verhungert oder sonst etwas? Ein ernsthaftes Gespräch entspinnt sich.
Jonas will den Grashüpfer mit dem Besen wegwischen. «Sollen wir ihn nicht beerden?», fragt Salome. Gute Idee. Berivan holt ein Blatt. Niklas bringt einen Stein. Nun stehen alle Kinder um den winzigen Leichnam herum. «Wir könnten ihn neben dem Frosch vom letzten Sommer begraben», schlägt Gabriel vor. Alle sind einverstanden. Die Heuschrecke wird sorgfältig aufs Herbstblatt gehievt und in den Vorgarten getragen. Dorthin, wo der tote Frosch ruht. Jonas hat irgendwo eine rostige Schaufel aufgetrieben und beginnt am nassschweren Lehm zu kratzen. «Das schaffst du schon», ermutigt ihn Gabriel, «die Heuschrecke ist dünn und braucht kein tiefes Loch.» Alle stehen um den kleinen Totengräber.
Salome und Celine basteln mit zwei Stecklein und einem Grashalm ein winziges Kreuz. Orlando findet unter dem Busch des Nachbarhauses ein altes, verrottetes Gummihündchen und kürt seinen Fund zum Grabstein. Oh, ja, finden alle. Sorgsam wird der Grashüpfer in die kleine Lehmkuhle gelegt und zugeerdet, wie Talia sagt. Das Kreuz wird befestigt und das Gummihündchen dazugelegt. York verspricht, die Heuschrecke jeden Tag zu besuchen. Die Beerdigung ist vorbei.
Die Zeremonie hat eine halbe Stunde gedauert. Dafür war Zeit. Kein verplanter Spielraum, kein didaktisch raffiniertes Animationsprogramm, keine Lektionsvorbereitung, kein für heute angesetztes Lernziel hat diese Momente der Achtsamkeit vereitelt. Ein Spiel mit Nichts. Ein Spiel aus dem Nichts. Ein Spiel für alle. Ein Spiel?
Die Idee des spielzeugfreien Kindergartens ist 1993 von Elke Schubert und Rainer Strick von der Aktion Jugendschutz München ins Leben gerufen worden und hat in Österreich und in der Schweiz schnell Schule gemacht. Edith Bieri, Heilpädagogin, Kindergärtnerin, Gemeinderätin und Dozentin an verschiedenen Schweizer Fachhochschulen, ist Projektleiterin für die Schweiz und hat die Idee aus Deutschland 1994 der InForm-Fachstelle für Suchtprävention und Gesundheitsförderung in Solothurn vorgestellt. Von dort sowie auch von der Stiftung für Gesundheitsförderung Radix und dem Bundesamt für Gesundheitsförderung erhielt sie umgehend die finanzielle und fachliche Unterstützung, um das Projekt in ihrem Kanton zu starten.
«Als Pädagogin habe ich die Erfahrung gemacht, dass wir nicht immer über das Verhalten von Kindern nörgeln sollten, sondern Verhältnisse schaffen müssen, die neues und anderes Verhalten aufbauen», sagt die unerschrockene, jugendlich wirkende Schweizer Pionierin. Sie hat keine Angst vor Widerstand, weil sie auch versteht, woraus er sich nährt. «Wenn wir das Projekt unter dem Namen <Höhlenbewohner> laufen lassen würden, würde niemand aufmucken. Wir würden das Projekt genau gleich umsetzen, aber die Diskussion auf der Eltern- und Erwachsenenebene fände nicht statt. Aber die wollen wir. Denn der Konsum wird in erster Linie von uns Erwachsenen vorgegeben.» Unterdessen wird im Kanton Solothurn nicht mehr auf Spielzeug verzichtet. Das Projekt ist etwas versandet.
Wie macht Edith Bieri Skeptikern wie Frau Adler klar, was der Verzicht auf Spielsachen mit dem Vermeiden von Sucht zu tun hat? «Im Vordergrund steht die Frage nach dem <Immer-mehr-haben-wollen-Müssen> und ihre Folgen für den kindlichen Alltag. Wenn man ein Bedürfnis hat, das nicht schnell und einfach befriedigt wird, dann entstehen Kreativität, Phantasie und schöpferische Kraft. Die wichtigsten Voraussetzungen für ein suchtfreies Leben sind Lebenskompetenzen, die es einem ermöglichen, die Probleme des Lebens anzugehen und nicht vor ihnen davonzulaufen.»
Standhalten also. Da ist Langeweile inbegriffen und Frust auch. Immer wieder mal. Aber auch der eigene Weg aus der Gräue hinaus. Ohne Stoff. Ohne Konsumgut. Ohne Spielzeug.
Im Kindergarten bahnt sich etwas Ungutes an. Drei kleine Machos sitzen auf dem Schrank und befehlen der fünfjährigen Salome, die Tücher aufzuräumen. Dann erst könne sie mitspielen. Salome gehorcht grossäugig und stumm. Aber die Tücher sind zu viel für einen allein. Salome schaut traurig um sich. Niemand hilft. Und die Kindergärtnerin sieht es nicht. Noch nicht.
Dann finden sich die Kinder zu einer der zwei allmorgendlichen «Wie geht es mir gerade?»-Runden ein, im «Stübchen», wie sie sagen. Das Ritual ist wichtig, alle kommen. Alle ausser Salome. Nun bemerkt Sabine Kromer, was los ist.
«Warum kommst du nicht zu uns?»
«Ich muss noch aufräumen.»
«Möchtest du aufräumen?» Salome nickt mit tränenblinden Augen. Alle sind still. Niemand lacht. Niemand wird ungeduldig. Niemand scheint sich zu langweilen.
«Wer sagt denn, dass du das alles aufräumen musst?», fragt Frau Kromer ruhig. Salome zeigt auf den Schrank. Da sitzen die drei mit verschränkten Ärmchen.
«Warum muss Salome alleine aufräumen?»
Raffael, völlig verschwitzt vom wilden Spiel, antwortet: «Weil ich nicht gerne aufräume.»
«Weil sie gesagt hat, sie mache das für uns», sagt Orlando, und Luiz sagt: «Weil wir hier spielen wollen.» «Aha», sagt die Kindergärtnerin, «und wie ist das für dich, Salome?»
«Ich will auch mitspielen.»
«Möchtest du Hilfe beim Aufräumen?»
Salome nickt.
«Wer mag Salome helfen?»
Viele Kinder wollen. Auch Raffael auf dem Schrank. Das Mädchen wählt zwei Helfer aus. Die Tücher sind schnell verräumt. Danach wird darüber geredet, wie man sich Hilfe holen kann, bevor es ganz schwierig wird. Viele Ideen kommen zusammen. Alle beteiligen sich am Gespräch. Nur Berivan, die einzige Fremdsprachige in der Gruppe, sagt nichts. Sie streichelt Salome übers Haar.
Wie geht es den anderen? Talia geht es gut und Cenia auch. York hat Spass gehabt. Gabriel möchte, dass es Salome auch wieder gut geht. Luiz war es zu laut. Das macht ihn ganz müde. Frau Kromer notiert das und verspricht, dass sie im nächsten Stübchengespräch darüber reden werden, was da zu tun wäre. Orlando hat Schmerzen am Ohr und bekommt Salbe darauf. Lukas hat ein bisschen Hunger. Und Jonas ein bisschen Durst. Und Salome geht es jetzt wieder ganz gut.
Die Befindlichkeitsrunde dauerte zwanzig Minuten. Eine lange Stillsitzzeit für Short-Cuts-gewohnte Kinder. Eine lange Spielpause. Und ein kleines, fast beiläufiges Exempel für Gefühlssicherheit, Empathietraining, Konfliktorientiertheit, Problemlösungsfähigkeit und kommunikative Kompetenz. Die fünfzehn Fünf- und Sechsjährigen haben offenkundig nicht nur gehört, was gesagt wurde, sondern auch verstanden, was gemeint war.
Für Elke Schubert und Rainer Strick, die deutschen Gründereltern des Projektes «Spielzeugfreier Kindergarten» und Mitherausgeber des Buches «Ohne Spielzeug», ist die veränderte Kindheit ausschlaggebend für ihre Arbeit. «Heute ist es unabdingbar, dass sich die Verantwortlichen am präventiven Ziel der Lebenskompetenzförderung orientieren und den veränderten Bedingungen von kindlichen Lebenswelten ausreichend Beachtung schenken.»
Zur veränderten Kindheit zählen die beiden Fachleute das Rund-um-die-Uhr-Medienangebot für Kinder und die Tatsache, dass die Kleinen von der Wirtschaft als Konsumenten schwer und sehr erfolgreich umworben werden. Tamagotchi, Furby und Pokémon haben Milliardenberge versetzt, und die nächsten Verführungsobjekte liegen schon lange in den weihnächtlich dekorierten Verkaufsregalen.
Zudem fällt für die beiden Experten die Verplanung der kindlichen Freizeit ins Gewicht: «Wie viel ungeplante Zeit können wir noch zulassen? Die Freizeit ist mehr und mehr geprägt von der Entwertung des Alltäglichen. Nur noch das Besondere, der Kick, das Sensationelle gilt als erstrebenswert. Die rastlose Suche danach lässt gerade Kindern wenig Freiräume für Langeweile, für Musse, für das freie Spiel der Phantasie. Vor allem bleibt ihnen wenig Raum für eigene elementare und nicht von den Erwachsenen geprägte Erfahrungen.»
Dazu kommt die Veränderung der Familienstrukturen. «Die Erziehung verschiebt sich mehr und mehr von der Familie weg hin zu den Erziehungsinstitutionen. Das heisst, dass diesen auch immer stärker die Aufgabe zukommt, Erfahrungsräume für die Kinder zu ermöglichen», wird konstatiert.
Der spielzeugfreie Kindergarten, Ausdruck von Kulturpessimismus?
Anna Winner, Psycholinguistin und Fachfrau auf dem Gebiet der Kleinkindpädagogik, hat eine Begleitstudie zur Suchtprävention im Kindergarten verfasst. Darin kommt die deutsche Expertin zu Schlussfolgerungen, die Frau Adler beruhigen könnten: «Das Projekt bietet gute Chancen, die Lebenskompetenzen von Kindern im Kindergarten zu stärken. Entgegen den Erwartungen von Eltern und Erzieherinnen werden dabei nicht nur die sozialen Fähigkeiten der Kinder, sondern gerade auch die kognitiven Kompetenzen gefördert. Das Handlungsvermögen der Kinder wird auf vielen Gebieten erweitert.»
Voraussetzung ist allerdings, dass das Spielen ohne Zeug kein einmaliger Spuk ist, sondern wiederholt wird. Für die Kinder an der Hirzbrunnenschanze heisst das, dass sie in den zwei Jahren zweimal drei Monate mit dem Mobiliar, ein paar Tüchern, Kissen, Stecken, Laub und Steinen auskommen müssen oder dürfen. Ein halbes Jahr also. Ein Viertel ihrer Kindergartenzeit.
Frau Winner verspricht in ihrer Studie nicht nur Suchtvorbeugung: «Das Projekt reicht durch die umfassende Stärkung der Lebenskompetenzen über den Suchtpräventionsansatz hinaus. Es beeinflusst das Konfliktlösungsverhalten der Kinder und dient so auch der Gewaltprävention.»
All das ist Berivan, Gabriel, Talia, Jonas, Lucas, Luiz, Deniz, York, Salome, Niklas und ihren Mitspielenden ziemlich egal. Sie spielen Tiger, Bär und Affenkäfig, bauen sich Hütten und Geisterbahnen, streiten um den Stecken mit dem Knorpel dran, weil der wie ein Gewehr aussieht, verkrümeln sich in Schmusenestern, kichern und zeigen einander so dies und das. Und es scheint, als sei für sie nur halb so wild, was für viele Erwachsene aussergewöhnlich ist. Das jedenfalls ergibt auch Winners Studie: «Die Kinder empfinden die Zeit nur als spielzeugfrei, keineswegs aber als spielfrei.»
Was die Eltern betrifft, wartet die Schweizer Projektverantwortliche Edith Bieri mit einem spektakulären Resultat auf. Sie hat einer Gruppe von Eltern vor und nach dem Projekt per Fragebogen auf den Zahn gefühlt und dabei herausgefunden: «Vorher fanden 9 Prozent das Projekt sehr gut, 36 Prozent gut, 46 mittel und 9 nicht ausreichend. Nachher dachten 55 Prozent der Eltern sehr gut und 45 Prozent gut über das Projekt.»
Könnte ja sein, dass auch Frau Adler ihre Meinung ändert. Vielleicht, wenn sie eines Morgens ihren unangemeldeten Besuch macht und erlebt, wie ihr Niklas die Stühlchen mit Tüchern aneinander bindet und zu einem Zug umfunktioniert, um dann später andere auf seine Reise mitzunehmen und der Mama auf der Fahrt nach Amerika strahlend zuzuwinken. Vielleicht trifft Frau Adler eines Tages Frau Huoni vor dem Supermarkt, die froh ist, dass ihr Gabriel die spielzeugfreie Kindergartenzeit schon zum zweiten Mal erlebt und die es manchmal sehr schwierig findet, im alltäglichen Meer von Reizüberflutung, Güterschwemme und Stressfaktoren mit ihren beiden Kindern zurechtzukommen.
Und vielleicht wird Frau Huoni Frau Adler auch erzählen, dass sie als kleines Mädchen aus Blättern Puppenteller und aus Tannennadeln Puppenbesteck gemacht hat und sich dabei stundenlang verweilte. Und dass das ein Glück war. Ganz umsonst. Und doch wieder nicht.
Cornelia Kazis ist Redaktorin bei Radio DRS; sie lebt in Basel.
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