Der Adler und das Huhn
Es gab einmal einen Politiker, der auch Volkserzieher war. Sein Name lautete James Aggrey. James Aggrey stammte aus dem kleinen westafrikanischen Land Ghana. Mochte er auch noch so erfolgreich sein, kaum jemand kannte ihn. Doch irgendwann einmal erzählte Aggrey eine wunderbare Geschichte, die schließlich um die ganze Welt ging. Sie machte ihren Verfasser zu einem berühmten Mann.
Mitte 1925 nahm Aggrey an einem Treffen führender Kräfte des Volkes teil. Man diskutierte über Wege zur Befreiung vom britischen Kolonialjoch. Die Meinungen gingen auseinander. Einige wollten zu den Waffen greifen. Andere setzten sich dafür ein, das Volk politisch zu organisieren. Auf diesem Weg wurde Kwame Nkrumah später dann ja auch erfolgreich. Eine dritte Gruppe schickte sich in den Status als Kolonie, dem ganz Afrika damals ja noch unterworfen war. Und schließlich gab es Leute, die sich von der Rhetorik der Engländer verführen ließen. Sie meinten, die Anwesenheit der Briten ermögliche es dem Volk, sich zu modernisieren und den Weg in die vermeintlich zivilisierte, moderne Welt zu finden.
Sensibel wie er war, verfolgte der Pädagoge James Aggrey jeden Beitrag. Doch bei einer bestimmten Wortmeldung wurde ihm klar, daß wichtige Führungskräfte nur die Sache der Briten unterstützten.
Kämen sie zum Zuge, würde die ganze Vergangenheit, würde die ganze Geschichte mit einemmal zum toten Buchstaben, und alle Träume von Befreiung wären dahin. Er hob den Arm und meldete sich seinerseits zu Wort. In aller Ruhe, wie nur Weise sie besitzen, und in feierlichem Ton erzählte er dann folgende Geschichte:
»Es war einmal ein Bauer. Im nahegelegenen Wald wollte er einen Vogel fangen, um ihn zu Hause im Käfig zu halten. Es gelang ihm, das Junge eines Adlers zu fangen. Zu Hause setzte er es in den Hühnerstall, zusammen mit dem ganzen Federvieh. Das Adlerjunge pickte Mais und fraß auch sonst, was Hühner so fressen - und das, obwohl doch der Adler der König der Vögel ist.
Fünf Jahre waren vergangen, als der Bauer Besuch von einem Naturkundler bekam. Während die beiden im Garten spazieren gingen, fiel dem Besucher auf: "Das da, der Vogel da ist doch kein Huhn! Das ist ja ein Adler!"
"Mag sein", erwiderte der Bauer, "in der Tat, der ist ein Adler. Aber ich habe ihn großgezogen, wie wenn er ein Huhn wäre. Nach all den Jahren ist er kein Adler mehr, jetzt ist er ein Huhn geworden, wie jede Henne sonst auch - selbst wenn er Flügel mit einer Spannweite von beinahe drei Metern hat."
"Nein", so der Ornithologe. "Der ist ein Adler und wird immer ein Adler bleiben. In ihm steckt das Herz eines Adlers, und das wird ihn treiben, hoch in den Himmel zu fliegen."
Also beschlossen die beiden, es auf einen Versuch ankommen zu lassen. Der Vogelfachmann nahm den Adler, hob ihn hoch und redete herausfordernd auf ihn ein:
"Weil du ein Adler bist, weil du dem Himmel gehörst und nicht der Erde, öffne deine Flügel und flieg!"
Doch der Adler blieb auf dem ausgestreckten Arm des Naturkundlers sitzen. Ein wenig verstört schaute er ringsum. Als sein Blick auf die Hühner auf dem Boden fiel und er sah, wie sie nach den Körnern scharrten, sprang er wieder zu ihnen hinab.
"Hab' ich's dir nicht gesagt", triumphierte der Bauer. "Der ist schlicht und einfach ein Huhn geworden!"
"Kann doch nicht sein!" hielt der Ornithologe dagegen. "Dein Huhn ist ein Adler und wird immer ein Adler bleiben. Wollen wir's noch mal versuchen, morgen?"
Am folgenden Tag stieg der Besucher mit dem Adler auf das Dach des Hauses. Flüsternd beschwor er ihn: "Adler, wenn du ein Adler bist, öffne deine Flügel und schwing dich in die Höhe!"
Doch sobald der Adler die Hennen unter sich sah, wie sie den weichen Boden scharrten, flog er wieder zu ihnen auf die Erde.
Den Bauern freute das, und erneut fühlte er sich bestätigt:
"Hab' ich dir's nicht gesagt! Das Vieh ist ein Huhn geworden!"
"Nein, nie und nimmer!" ließ der Fachmann nicht locker. "Der ist ein Adler, und immer wird er das Herz eines Adlers haben. Lass es uns noch ein letztes Mal versuchen! Morgen bringe ich ihn zum Fliegen."
Tags darauf standen beide, der Naturkundler und der Bauer, in aller Frühe auf. Sie nahmen den Adler und gingen mit ihm aus der Stadt hinaus. Sie gingen, bis kein Haus, in dem Menschen hätten wohnen können, mehr zu sehen war. Sie wandten sich dem Gebirge zu und stiegen auf den höchsten Gipfel. Die Morgensonne lag golden auf den Bergen. Angekommen, hob der Ornithologe den Adler in die Höhe und befahl ihm:
"Wenn du ein Adler bist, wenn du dem Himmel gehörst und nicht der Erde, ... mach deine Flügel auf und flieg davon!"
Der Adler schaute um sich. Er bebte am ganzen Körper, als ob neues Leben in ihn hineinströmte. Aber fliegen? Nein, nichts davon. Darauf faßte ihn der Mann ziemlich kräftig und hielt ihn genau der Sonne entgegen, so daß sich seine Augen füllen konnten mit dem Glanz der Sonne und der Weite des Horizonts.
Und in dem Augenblick öffnete er seine gewaltigen Flügel, krächzte das typische Kauu-Kauu des Adlers, reckte sich herrschaftlich und fing an, mit den Flügeln zu schlagen. Und da, siehe da! Er begann zu fliegen, in die Höhe zu fliegen, immer höher. Und er flog ... und flog ... immer weiter, bis sich seine Umrisse im Blau des Himmels verloren ...«
Soweit die Geschichte von James Aggrey. Abschließend rief der Volkspädagoge die Anwesenden auf:
»Brüder und Schwestern, Landsleute! Gott hat uns nach seinem Bild und Gleichnis geschaffen. Aber dann sind Leute gekommen, die uns das Denken von Hühnern eingeimpft haben. Und in der Tat, viele von uns meinen immer noch, wir wären Hühner. Aber was wir sind ... Adler sind wir! Deshalb, Gefährten und Gefährtinnen auf dem Weg, laßt uns die Flügel öffnen und uns in die Lüfte erheben! Laßt uns wie Adler fliegen! Nie mehr wollen wir uns mit deni Maiskörnern zufriedengeben, die man uns hinwirft, damit wir danach scharren und sie picken!«
Aus: Leonardo Boff, Der Adler und das Huhn. Wie der Mensch Mensch wird. Patmos Verlag, Düsseldorf 2000.