Hallo Freesie,
freu mich über Deine Entgegnung (#7) - gerade weil Du zum großen Teil widersprichst. Aber Du tust dies auf eine Weise, die Kommunikation nicht abbricht sondern ermutigt.
Ich hab im Augenblick nicht genug Zeit und Kraft, Dir mit der notwendigen Ausführlichkeit zu antworten. (Das kommt aber noch.) So bloß zu einzelnen Punkten.
Einig sind wir wohl hinsichtlich der großen Möglichkeiten, wie wir durch willentlich steuerbare seelische Prozesse unser Wohlergehen beeinflussen können. An erster Stelle durch Aufmerksamkeit. Die ist ja für jeden bis zu einem gewissen Grad kontrollierbar - mehr Kontrolle (weniger Abschweifen) ist mit einiger Mühe erlernbar. Unzählige Beispiele - viele davon kommen aus asiatischen Traditionen, in denen eine hohe Kultur der Introspektion existiert. (Die Europäer haben halt seit Jahrhunderten Kriege führen und rechthaberisch philosophieren müssen.)
Beispiele: wenn ich mich körperlich hängen lasse, entsteht in 10 Minuten eine depressive Verstimmung. Wenn ich mich militaristisch überstrecke, entsteht Aggression. Bei entspannter Aufrichtung gibt es u.U. grundloses Lächeln. - Ich kann sogar willentlich echt lächeln (was in der Regel als Widerspruch gilt): ich brauche mich bloß auf die Punkte eineinhalb fingerbreit oberhalb + seitlich der Mundwinkel zu konzentrieren. (Ausprobieren, evtl. bißchen üben!) Oder ich kann meine Achtsamkeit entspannt auf den Atem richten, ohne den irgendwie zu manipulieren - das ist erstmal langweilig und dann gibt es eine Menge von Entdeckungen. Oder, wenn ich an Durchschlafstörungen leide, kann ich mich vorm Einschlafen auf die wichtigsten Nierenpunkte konzentrieren (N1 beiderseits, an den Fußsohlen 1 Fingerbreit proximal von den Grundgelenken der 2. Zehen, dazu auf den Punkt exakt in der Mitte des Damms). Usw.
Ich kann durch willentliches Verhalten meine Gefühle gegenüber anderen verändern. Wenn ich jemandem helfe, mag ich ihn nachher lieber. (Das Umgekehrte gibt es auch, aber es ist nicht die einzige Möglichkeit.) Ich kann im Kopf alle Schandtaten des anderen auflisten - nach einer kleinen Weile werde ich haßerfüllt sein. Es ist nicht einfach nur so, daß ich bete, weil ich glaube; mein Glaube wächst, wenn ich bete. Es ist nicht so, daß ich Gesangsunterricht brauche, um singen zu können (obwohl der oft nicht schaden könnte) - ich kann, indem ich eben krächze, die Brüchigkeit meiner Stimme zu lieben und zu entwickeln lernen.
Vielleicht fühle ich mich morgens viel zu müde, eine halbe Stunde aerobes Kreislauftraining (und manchmal sehr anaerobes Intervalltraining) zu machen - aber wenn ich's trotzdem tu, bin ich darauf weniger müde, weniger depri, wacher, die Endorphine fließen und das Blut sowieso. Vielleicht halte ich es für völlig unmöglich, meiner Gefährtin mal die wirkliche Wahrheit zu sagen über Dinge, die ich ihr seit Jahren verheimlicht habe (und ich habe recht: es IST unmöglich) - aber, wenn ich ihr trotzdem sage, was ansteht, dann passiert jedenfalls etwas: sie wirft mich raus (wie verdient) oder die Verbindung kann sich erneuern (was für ein Geschenk!) - in jedem Fall hat die Stagnation ein Ende.
Wir "erfinden" uns buchstäblich selber (und nebenbei auch einander). Es ist einfach - man muß es nur machen.
Nur: das geht alles ohne Selbsttäuschung, ohne Iliusion. Vor allem ohne dies Sich-Hingeben an Illusionen. Dieses entspricht nicht der Menschenwürde. Der Natur des Menschen entspricht es, die Wahrheit wissen zu wollen - und auch den anderen nicht zu täuschen. Die würde auch die Beziehungen zwischen Menschen ruinieren. Man stelle sich vor, Ärzte würden routinemäßig Placebos verordnen. (Und in der Folge auch Lehrer, Anwälte, Eltern, Freunde ...) Damit wäre Sprache vergiftet. Eine Art systemischer Autismus.
Also: der Placebo-Effekt gibt Hinweise auf die Macht unseres Denkens - aber seine Verwendung ist ethisch nicht vertretbar. Wir können lernen, die Macht unseres Denkens (besser: unserer Aufmerksamkeitssteuerung) ohne Täuschung (ohne Suggestion und Autosuggestion) segensreich zu trainieren und anzuwenden.
Am I making any sense?
Du meinst eingangs, die Wissenschaft sei noch nicht so weit, das "Geheimnis" zu erklären. Gut, in Zukunft mag es ungeahnte Entwicklungen geben. Aber seit fast einem halben Jahrhundert sind die 4 "Wechselwirkungen" beschrieben: Elektromagnetismus und Gravitation. (Dazu noch 2 weitere, die nur im subatomaren Bereich wirken.) Alle sind meßbar und berechenbar. Keine davon ermöglicht es, Wirkungen nicht vorhandener Substanzen - die man durch gewaltiges Verdünnen zum Verschwinden gebracht hat - vorherzusagen oder zu erklären. Rund um die Welt hocken zahllose Physiker in den Startlöchern; jedem ist ein Nobelpreis sicher, der eine 5. Wechselwirkung nachweist und beschreibt.
Also, ich glaube, es läge nahe, zuerst mal das "Geheimnis" wirklich in seiner Existenz hieb- und stichfest nachzuweisen, zweifelsfrei auch für Ungläubige. Bei allem Respekt vor Deinem Erleben: dieses reicht einfach nicht zum Nachweis. (Schau, ich bin schon ein Gegenbeispiel: Ich habe häufig - gläubig oder halb gläubig - Homöopathika eingenommen, aber nie eine Wirkung bemerkt.)
Und dann noch zu Deinem Verwunderung am Schluß: wie man denn an Gott glauben könne, aber an Homöopathie nicht? Find ich interessant. Ich glaub, die Antwort kann man finden, indem man sich vergegenwärtigt, wie und worüber denn Jesus gesprochen hat. Bei ihm ging es - würde ich sagen - um Leben und Tod, um den rechten Weg, um letzte Entscheidungen. Unmöglich hätte er so reden können über die Wirkung winziger Zückerkügelchen auf Schnupfen, Bauchweh oder sonstwas.
Abgesehen davon, daß das Wort "Glauben" mehrdeutig ist. Im Bereich der Fakten bedeutet es "Für-wahr-Halten". Im Bereich des religiösen Glaubens meint es - wie Kierkegaard formuliert hat, der vielleicht bedeutendste Theolog überhaupt - so viel wie "die eigene Existenz gründen auf ...". Also eine ganz andere Dimension.
Alles Liebe,
Windpferd