Was ist Tinnitus?
Tinnitus ist der medizinische Fachausdruck für alle Arten von Geräuschen im Ohr oder Kopf die man unter Ohrgeräusche, Ohrenklingeln oder Ohrensausen kennt, unabhängig von deren Ursache. Es sind gehörte Wahrnehmungen (Hörereignisse), denen keine tatsächliche akustische Schallquelle aus der Umwelt entspricht und die keinen Informationswert für den Betroffenen besitzen. Es leitet sich ab von tinnire, was klingen oder klirren bedeutet.
Wieso kann Tinnitus eine psychische Belastung sein?
Tinnitus-Betroffene leiden unter Hörwahrnehmungen einer außergewöhnlichen Art. So hören sie z.B. ein Klingeln, Rauschen, Brummen, Pfeifen, Sausen, Summen und ähnliche Geräusche. Im medizinischen Sinne bezeichnet Tinnitus eine Hörwahrnehmung ohne vorhandene Schallquelle in der Umgebung. Daher wird der Tinnitus auch als „Phantomgeräusch“ beschrieben.
Tinnitus, wie auch der Hörsturz wird der Gruppe Psychosomatischer Störungen zugeordnet. Tinnitus ist ein körperliches Symptom, dessen Ursachen und aufrechterhaltende Faktoren sehr häufig im psychischen Bereich angesiedelt sind.
Völlig unabhängig von der Ursache, kann das Ohrgeräusch selbst jedoch auch eine starke seelische Belastung darstellen: Tinnitus ist Stress!
Welche psychischen Faktoren tragen zu Tinnitus bei?
Da wir in einer Zeit der Reizüberflutung, häufiger Veränderungen und des Multitaskings leben, bietet der ganz normale Alltag ausreichend Dauerstress und dieser kann, in Summation zur Entstehung und Aufrechterhaltung von Tinnitus beitragen.
Man weiß, dass die körperliche Reaktion auf Belastungen oft erst zeitversetzt nach 18 – 24 Monaten auftritt. Auch treten solche Reaktionen dann in Zeiten der Entspannung und Erholung auf, wo man eigentlich gar nicht damit rechnet.
Es ist zu beobachten, dass Menschen die mit einer körperlichen Antwort auf seelische Herausforderungen reagieren, sehr wohl – und leider zu gut – Belastungen aushalten. Sie können oder wollen Anzeichen von Belastungen nicht erkennen. Einstellungen wie „Geht noch, geht noch. Muss doch gehen. Andere schaffen das doch auch!“ sind bei Menschen mit psychosomatischen Erkrankungen, wie Tinnitus häufig zu finden.
So wie Burnout, zählt auch Tinnitus zu den Tapferkeitsmedaillen mit denen Menschen auf dem Schlachtfeld unserer Leistungsgesellschaft ausgezeichnet werden!
Wie kann Psychologie bei Tinnitus helfen?
Hauptziele jeder psychologischen Strategie oder Intervention sind, die körperliche und seelische Anspannung zu reduzieren, Stressoren zu erforschen, die Einstellung zum Ohrgeräusch zu verändern und die Aufmerksamkeit zu steuern trainieren – Ziel ist es zum eigenen Experten im Umgang mit dem Ohrgeräusch zu werden.
Jeder Mensch der von Tinnitus heimgesucht wird, sollte eine psychologische Tinnitus – Erstberatung erhalten. Aus meiner langjährigen beruflichen Arbeit an einer HNO-Abteilung weiß ich, dass diese psychologische Interventionsform sehr hilfreich für alle Betroffenen ist und Folgebelastungen reduziert. Je eher dieses Counselling stattfindet und je bessere psychische Ressourcen der Patient aufweist, umso eher führen Interventionen zum gewünschten Erfolg.
Bei einer Gruppe der Tinnitusbetroffenen besteht bereits vor dem Auftreten des Tinnitus ein psychisches Problem, welches sich durch das Ohrgeräusch dann verschlechtern kann.
Wie kann ich meinen Tinnitus managen?
Eine konstruktive Auseinandersetzung mit dem Ohrgeräusch ist wichtig um zu erkennen, wann das Ohrgeräusch leiser, lauter oder gar unhörbar wird (Situationen, Tätigkeiten, Tageszeiten,…). Es gilt auch zu erforschen, ob und bei welchen Umgebungsgeräuschen oder Klängen man den Tinnitus „vergisst“ oder er leiser wahrgenommen wird, sowie Aktivitäten gesucht und ausgeübt werden sollen, die vom Ohrgeräusch ablenken können.
Zu lernen oder wiederzuentdecken mit allen Sinnen zu leben und sich regelmäßig Genussmomente zu verschaffen, die Empfindungen von Freude und Glück mit sich bringen, sind zentraler Punkt bei der Bewältigung der Belastungen durch ein Ohrgeräusch.
Soll ich mich wirklich entspannen?
Entspannungstechniken jeder Art bringen Erfolg – jedoch nur dann, wenn Betroffene diese freiwillig und mit einer gewissen Freude durchführen. Daher ist es nicht wichtig sich eine ganz bestimmte Entspannungstechnik anzueignen, sondern vom Tinnitus Betroffene sollen sich dazu aufgefordert fühlen sich Entspannungstools zu suchen die ihnen zusagen.
Schnupperstunden, die bei den meisten Institutionen, die solche Techniken anbieten, möglich sind, helfen zur richtigen Entscheidung zu kommen. Ob das die progressive Muskelentspannung nach Jacobson ist, Autogenes Training, Yoga oder Asiatische Techniken ist nur vom Bedürfnis der betroffenen Person abhängig. Aber auch Bewegung und sportliche Aktivitäten ohne Leistungsanspruch, fördern Entspannung und Wohlbefinden.
Wie kann ich mir Klänge des Wohlbefindens schaffen?
Die Empfehlung ist „Ruhe suchen – Stille meiden“, da in der Stille das Ohrgeräusch intensiver wahrgenommen wird. Angenehme natürliche Umgebungsgeräusche bringen eine gute Ablenkung und fordern zum genussvollen Lauschen nach außen auf.
Ob ein Bach oder Regen plätschert, ob das Meer rauscht, Vögel zwitschern oder nur ein gleichmäßig pulsierender Rhythmus hilft, das Ohrgeräusch in den Hintergrund der Wahrnehmung zu stellen, die Vorlieben sind individuell. Es ist jedoch belegt, dass Klänge und Geräusche der Natur fast von jedem Menschen als angenehm wahrgenommen werden. Musik hingegen kann als Hintergrundgeräusch nervös machen. In jedem Fall sollten Klänge die man bewusst an seine Ohren lässt, von genussvoller Natur sein!
Wieso soll ich Genuss trainieren, wenn’s in meinem Ohr klingelt?
Voraussetzung für Genuss, ist Achtsamkeit: Das bedeutet die ganze Aufmerksamkeit auf den aktuellen Moment zu richten, denn erst dann sind wir uns bewusst, dass wir etwas Bestimmtes tun. Diese nach außen gerichtete Aufmerksamkeit hilft dabei, den Tinnitus mit der Zeit zu überhören und zu vergessen.
Ich lade Sie zu einem Achtsamkeits- und Genusstrainingsexperiment ein:
Versuchen Sie zu spüren, ob Sie angenehm stehen oder sitzen und nehmen Sie, soweit es möglich ist, eine angenehme Position ein.
Erkunden Sie nun mit Ihren Augen den Raum. Was nehmen Sie wahr, was Sie als angenehm empfinden? Vielleicht sind es die Möbel, Farben, die Aussicht? Nehmen Sie einen Geruch wahr? Wenn ja, ist er angenehm? Was hören Sie in diesem Raum?
Es kann auch genussvoll sein, sich aktiv „einzuhorchen“ und Horchexperimente zu wagen:
Wie hört sich folgendes an:
Apfelschälen? Papier zerreißen? Klingt es gleich wie Zeitung zerreißen? Wasser aus dem Waschbeckenhahn und der Badewannenarmatur? Mildes und prickelndes Mineralwasser beim Einschenken?
Es gibt Geräusche, die man im Alltag gerne selbst erzeugt, wie Kaugummiblasen zerplatzen, Papier zerreißen, Kaffee oder Tee umrühren, Briefe ratschend öffnen, in einen Apfel beißen, pfeifen oder singen und vieles mehr.
Städte, Orte, Landschaften, produzieren Klangkonzerte und solche sind immer auch im eigenen Lebensraum zu entdecken. Sie zu suchen und zu finden, ist eine nie endende, genussbringende Horchaufgabe.
So viele Facetten das Hören aufweist, diesen stehen das Sehen, Schmecken, Riechen, und Tasten in ihrer Vielfalt um nichts nach! Mit offenen Sinnen, staunend durch die Welt zu schreiten, aktiviert und bringt ungeahnte Genussmomente.
Euthyme, also genussbringende Verhaltensweisen, bedeuten Freude, Lachen, Wohlfühlen, Glücksmomente, Entspannung, Tagträumen und vieles mehr (täglich) erleben zu können. Genießen können ist im Bereich der Gesundheitserhaltung für jeden Menschen wichtig!
Als genussvoller Input dient dazu das Buch „Mit allen Sinnen leben. Tägliches Genusstraining“. Autorin Beate Handler, erschienen im Goldegg Verlag, erhältlich im Buchhandel. Es ist ein Sach- und Fachberatungsbuch, das aus purer Lust an der Thematik zu lesen ist, oder auch als bibliotherapeutische Lektüre dienen kann.
Ein Kommentar in “Genuss trotz Tinnitus”