Der Stickoxid-Peroxinitrit-Zyklus

Kategorien: Stress

… ein biochemischer Teufelskreis – das neue Krankheitsmodell von Dr. Martin Pall als Erklärung für das chronische Müdigkeitssyndrom (CFS), Fibromyalgie (FM), Multiple Chemikaliensensitivität (MCS), posttraumatische Belastungsstörung (PTSD) und andere «ungeklärte Krankheiten»

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Dr. Martin L. Pall, PhD, Professor für Biochemie und Grundlagenwissenschaften der Medizin an der Washington State University, hat weltweit in der Wissenschaft Aufmerksamkeit erregt mit einem neuen Krankheitsmodell. Dieses könnte dazu beitragen, eine ganze Gruppe von chronischen Erkrankungen nicht nur zu erklären, sondern auch erfolgreich zu behandeln. Da es sich um einen ganz neuen Blickwinkel handelt, ist auch von einem neuen Krankheitsparadigma (Paradigma von gr.-lat. Beispiel, Muster) die Rede. Vorgestellt hat Dr. Pall seinen Ansatz auch in einem Buch mit dem Titel «Explaining ‹Unexplained Illnesses'» (deutsch: «Erklärung ‹unerklärter Krankheiten'»).

 

Als Beispiele für Erkrankungen, die sich durch das neue Krankheitsmodell erklären lassen, nennt Pall

  • CFS (chronisches Müdigkeitssyndrom)
  • FM (Fibromyalgie)
  • MCS (multiple Chemikalienempfindlichkeit)
  • PTSD (posttraumatische Belastungsstörung)

Diese Erkrankungen haben Schnittstellen, die etliche Forschergruppen zu der Annahme eines gemeinsamen ursächlichen Mechanismus führten. Pall präsentiert eine Theorie zur Ursache dieser Krankheiten, die auf einer umfangreichen Auswertung vorhandener wissenschaftlicher Quellen basiert und durch eine große Anzahl klinischer und experimenteller Beobachtungen gestützt wird. Die Komplexität dieser Krankheiten und viele damit verbundene Rätsel können nach seiner Aussage gut mit seiner Theorie erklärt werden. Im schlimmsten Fall gebe uns die Theorie einen prüfbaren Rahmen für weiteres «Hypothesen-getriebenes» Experimentieren, schreibt Pall in der Einleitung seines Buches.

Palls Krankheitsmodell

Kernstück des Krankheitsmodells von Pall ist die These, dass durch – unter Umständen nur kurzfristige – «Stressoren» ein biochemischer Teufelskreis oder Circulus vitiosus (von lat. «schädlicher Kreis», auch als medizinischer Fachausdruck verwendet im Sinne von gleichzeitig bestehenden Krankheitsprozessen, die sich gegenseitig ungünstig beeinflussen) ausgelöst werden kann, das heißt ein biochemischer Mechanismus, der sich selbst unterhält oder sogar steigert.

Stressoren

Die Stressoren, die den genannten biochemischen Mechanismus auslösen können, umfassen nach Pall

  • bakterielle und virale Infektionen (bei CFS und FM)
  • die Exposition gegenüber bestimmten Arten von Pestiziden oder organischen Lösungsmitteln (bei MCS)
  • physische Traumata (bei FM oder PTSD)
  • schweren psychologischer Stress (bei PTSD und allen anderen genannten Syndromen)

Es handelt sich demnach um psychische und physische Belastungsfaktoren verschiedenster Art. Aufgrund deren Verbreitung ist anzunehmen, dass häufig nicht ein einzelner Faktor, sondern eine Kombination als Auslöser auftritt. Auch die Häufigkeit chronischer Erkrankungen könnte so erklärt werden.

Der biochemische Teufelskreis

Jeder der genannten Stressoren kann im Körper die Stickoxid-Werte erhöhen. Angeregt durch diese Tatsache entwickelte Pall die These, dass Stickoxide wahrscheinlich bei der anfänglichen Entstehung von chronischen Erkrankungen eine Rolle spielen. Zusammen mit seinem aggressiven Folgeprodukt Peroxinitrit erzeugt Stickoxid einen biochemischen Teufelskreis, der nach Pall letztlich die Erkrankungen verursacht. Er bezeichnet diesen Mechanismus als Stickoxid-Peroxinitrit-Zyklus, oder – unter Verwendung der Strukturformeln – NO/ONOO-Zyklus. Durch die Aussprache «no, oh no!», lassen sich sowohl die verhängnisvollen Auswirkungen des Zusammenspiels dieser beiden Stoffe ausdrücken – eingeschlossen die Tatsache, dass Peroxinitrit der aggressivere der beiden Stoffe ist – als auch der Zustand der betroffenen Menschen. Ein verwandter Begriff ist der nitrosative Stress, der jedoch den Aspekt des Teufelskreises bzw. der Verselbständigung des Prozesses bisher nicht in der Weise betont, wie es in Palls Modell der Fall ist.

Zum NO/ONOO-Zyklus gehören u.a. folgende Variablen:

  • Die Aktivität des Transkriptionsfaktors NF-Kappa B. Dieser aktiviert die Gene für inflammatorische (Entzündungsprozesse fördernde) Zytokine (bestimmte Substanzen, die während der Immunantwort freigesetzt werden) und ein Gen, auf dem die iNOS (induzierbare Stickoxidsynthase, eines der NO-bildenden Enzyme des Organismus, siehe Nitrosativer Stress) kodiert ist
  • die Werte für Hyperoxid
  • die Werte für Kalzium im Zytoplasma der Zellen
  • die Werte von zwei Rezeptorsystemen, die hauptsächlich auf das Nervensystem wirken, die Vanilloid-Rezeptoren (Schmerzfaserrezeptoren) und die NMDA-Rezeptoren (Untertyp der auf erregende Aminosäuren ansprechenden Glutamat-Rezeptoren).

Verschiedene Arten von Ursachen chronischer Erkrankung

Palls Krankheitsmodell unterscheidet demnach zwei Arten von Ursachen chronischer Erkrankung:

  • eine anfängliche Ursache in Form eines oder mehrerer Stressoren
  • eine fortlaufende Ursache, dem Mechanismus des NO/ONOO-Zyklus

Folglich gibt es auch mehrere Ansatzpunkte für eine Therapie und dies unterscheidet Palls Krankheitsmodell wesentlich von der üblichen Herangehensweise der offiziellen Medizin. Zu beachten ist dabei sicherlich, dass im Zeitverlauf immer wieder Stressoren auftreten können, die den Prozess erneut in Gang setzen.

Die fünf beschreibenden Prinzipien des Krankheitsmodells

Fünf Prinzipien können Palls Krankheitsmodell beschreiben:

  • Stressoren als Auslöser: Auslöser von NO/ONOO-Zyklus-Erkrankungen sind Stressoren, die zu erhöhten Werten von Stickoxid oder anderen Komponenten des Zyklus im Körper führen.
  • Chronifizierung durch den NO/ONOO-Zyklus: Die Chronifizierung des Krankheitszustandes wird vom NO/ONOO-Zyklus verursacht. Die Betroffenen weisen entsprechend erhöhte Werte für verschiedene Komponenten des Zyklus auf.
  • Entstehung der Symptome durch die Komponenten des NO/ONOO-Zyklus: Die Krankheitssymptome werden von den Komponenten des Zyklus hervorgerufen.
  • Lokalität des Mechanismus: Der zugrunde liegende Mechanismus tritt lokal auf. Das beruht auf der Tatsache, dass die drei zentralen chemischen Komponenten des NO/ONOO-Zyklus – Stickoxid, Peroxinitrit und Hyperoxid – in biologischen Geweben alle relativ kurze Halbwertszeiten haben, so dass der Weg vom Ort der Produktion zum Ort der Zerstörung nicht sehr weit ist. Die Mechanismen des Zyklus laufen auf der Ebene einzelner Körperzellen ab. Folge ist, dass der NO/ONOO-Zyklus individuell unterschiedliche Gewebe beeinträchtigt und eine Vielfalt von Symptomkombinationen entstehen kann – bisher eines der größten Rätsel bei dieser Gruppe von Erkrankungen.
  • Behandlung: Die Krankheiten sollten behandelt werden, indem die biochemischen Mechanismen des NO/ONOO-Zyklus herabreguliert werden, indem also an der Ursache angesetzt wird.

Therapie

Der schwierigste Aspekt bei der Behandlung ist die Komplexität des Zyklus. Dieser beinhaltet mindestens 22 verschiedene Mechanismen, bei denen ein Element des Zyklus zu einer Erhöhung eines anderen führt.

Als Folge der Angriffe des Peroxinitrits auf Proteine und andere Bestandteile der Mitochondrien führt der Zyklus zu einer herabgesetzten Fähigkeit, Energie in Form von Adenosintriphosphat (Abk. ATP) zu produzieren. ATP ist die universelle Form unmittelbar verfügbarer Energie in den Zellen und wichtiger Regulator energieliefernder Prozesse, sozusagen das «Batteriemolekül» bzw. der «Brennstoff» des Körpers.

Es gibt nach Pall eine ganze Reihe Substanzen, von denen angenommen wird, dass sie die biochemischen Prozesse des NO/ONOO-Zyklus herunterregeln. In klinischen Studien zeigten 12 oder 13 Gruppen von Substanzen signifikante Besserungen bei CFS, FM oder MCS. Einige weitere Substanzen sind möglicherweise wirksam, dazu existieren jedoch bisher weniger Belege. Einzelne Substanzen bringen nach Pall nur mäßige Besserungen. Komplexe Behandlungsprotokolle mit 14 oder mehr der wahrscheinlich wirksamen Substanzen, die von fünf Ärzten (Dr. Paul Cheney, Dr. Garth Nicolson, Dr. Neboysa Petrovic, Dr. Jacob Teitelbaum, Dr. Grace Ziem) erprobt wurden, scheinen erheblich wirksamer zu sein. Die meisten Substanzen sind dabei Nahrungsergänzungen, hinzu kommen einige traditionelle Arzneimittel und pflanzliche Stoffe. In Zusammenarbeit mit den genannten Ärzten entwickelte Pall ein eigenes Behandlungsprotokoll ausschließlich aus rezeptfreien Nahrungsergänzungen. Er betont allerdings, er habe einen Doktor der Philosophie und keinen der Medizin und keiner seiner Vorschläge sei als medizinischer Ratschlag zu verstehen oder werde als Behandlung oder Heilmittel für irgendeine Erkrankung verkauft.

Palls Ansatz als neues Paradigma

Krankheitsmodell und Behandlungsansatz Palls unterscheiden sich deutlich von der Herangehensweise der heutigen offiziellen Medizin. Er selbst bezeichnet seinen Ansatz als entgegengesetzt zum derzeit vorherrschenden medizinischen Ansatz, der bei den meisten chronischen Erkrankungen versage und häufig nicht einmal ein langsameres Fortschreiten erreichen könne. Die Erfahrungen der genannten fünf „rzte lassen nach Palls Einschätzung darauf schließen, dass möglicherweise bei CFS, FM, MCS und PTSD gute klinische Erfolge zu erreichen sind. Pall schlägt daher vor, den NO/ONOO-Zyklus als das zehnte Paradigma menschlicher Erkrankungen anzusehen, in Ergänzung zu den neun weithin akzeptierten Krankheitsparadigmen.

Weitere «heiße Kandidaten» für die Gruppe der NO/ONOO-Zyklus- Erkrankungen sind nach Pall u.a. Multiple Sklerose, Tinnitus, Alzheimer, Parkinson, Amytrophe Lateralsklerose, Asthma und das Spektrum der autistischen Erkrankungen. Bei diesen Krankheiten ist jeweils in unterschiedlichen Geweben der NO/ONOO-Zyklus beteiligt. Da dieser inflammatorische (entzündliche) biochemische Abläufe enthält, die denen bei Entzündungen ähneln, wäre es nicht überraschend, wenn der NO/ONOO-Zyklus viele dieser Erkrankungen erklären könnte.

Quellen

  1. Informationsportal zum Chronic Fatigue Syndrom / Myalgische Enzephalopathie CFS/ME: Die Theorie vom Stickoxid-Zyklus: Kann sie CFS, FM und andere «ungeklärte» Krankheiten erklären? Interview mit Martin L. Pall, PhD (Artikel des Monats August 07, Teil 1; deutsche Übersetzung eines Interviews, in dem Dr. Pall seine Theorie speziell für die Leser der Website in für Laien verständlichen Worten erklärt)
  2. Pall, Dr. (PhD) Martin L.: Explaining ‹Unexplained Illnesses›: Disease Paradigm for Chronic Fatigue Syndrome, Multiple Chemical Sensitivity, Fibromyalgia, Posttraumatic Stress Disorder, Gulf War Syndrome and Others (bisher nur in englischer Sprache)
  3. Wikipedia Adenosintriphosphat (ATP)

Siehe auch

Relevante Wiki-Artikel

Relevante Foren-Beiträge

Literatur

  • Pall, Dr. (PhD) Martin L.: Explaining ‹Unexplained Illnesses›: Disease Paradigm for Chronic Fatigue Syndrome, Multiple Chemical Sensitivity, Fibromyalgia, Posttraumatic Stress Disorder, Gulf War Syndrome and Others (bisher nur in englischer Sprache).

Weblinks

Autor: Kate, letzte Aktualisierung (Links): 07.2023

 

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