Hallo Ihr Getreuen und Ihr Ungetreuen,
hab hier nur etwas quer gelesen. Hab den leisen aber deutlichen Verdacht, daß diese Diskussion etwas viel
Wichtigeres verdeckt, nämlich:
wie wahrhaftig sind wir unseren PartnerInnen und unseren sonstigen wichtigen Bezugspersonen gegenüber?
Wahrhaftig: das heißt nicht nur, explizite Lügen vermeiden. Es umfaßt auch
alle Verschweigungen von Inhalten, die für die / den andere

wichtig wären.
Man braucht nicht zu philosophieren über die Begriffe "Wahrheit" und "Wichtigkeit" (das wäre Ausweichen): Im Zweifel ist all jenes wichtig,
was mitzuteilen mir schwer fällt, was mir peinlich ist, wofür ich Rechtfertigungen suchen muß, um es zu verschweigen.
"Telling the microscopic truth" - eine der zentralen Voraussetzungen für das Lebendigbleiben einer Verbindung (nach Gay & Kathlyn Hendricks). Und zur "Wahrheit" (nach denselben Autoren): Meine Wahrheit ist all das, was NUR ich wissen kann: nämlich
meine Gedanken,
meine Gefühle,
meine Handlungen.
Beispiel: Umfragen zufolge (z.B. David Schnarch)
fantasieren ca. 75 - 80 % der Männer und ca. 65 - 70 % der Frauen während des sexuellen Zusammenseins, sie seien mir einer / einem anderen zusammen und / oder es würden andere sexuelle Interaktionen als die tatsächlichen stattfinden.
(Mitgeteilt werden diese Wachfantasien praktisch nur in Paartherapien unter erheblichem Leidensdruck. Die moralische Entrüstung von A über B wird häufig sehr behindert durch A's Realisierung, daß sie / er genauso . . .)
Bin ich "treu", wenn ich mich - rein physisch in den Armen meiner Gefährtin - faktisch
wegbeame, weiß der Himmel, wohin? Und wenn ich das mache: Ist mir dann wirklich ganz klar, was ich meiner Gefährtin damit antu? Daß ich sie u.U. jahrelang in der Illusion lasse, ich sei "natürlich ganz" bei ihr (was wir ja gern mit vielen Küssen beteuern), während wir de facto irgendwo sind?
Die große Mehrzahl der scheiternden oder vertrocknenden Verbindungen
verenden am Mangel rückhaltloser Kommunikation (d.h. an der Feigheit, die mich hindert - unilateral und ohne Sicherheitsnetz - die nackte Wahrheit zu sagen über mich. Die freilich in der Regel die Partnerin nicht entzückt).
Egal wie man (Un-)Treue definieren mag (da gibt es sehr kreative Möglichkeiten des Mogelns) - die Art der "Sexualforschung"
, wie sie hier anscheinend betrieben wird, kratzt sehr sanft an der äußersten Oberfläche dessen, was existentiell von Bedeutung wäre. Hinterläßt keine Spuren im Lack. Soll sie ja wohl auch nicht?
(Es ist ohne weiteres möglich, lebenslang niemals zu stehlen - und gleichzeitig anderen bis zu ihrer Verarmung vorzuenthalten, was ihnen zustünde. Das wissen wir aber.)
Immer wieder absurd - und leider ein Zeichen sträflicher Ignoranz - die
Bezugnahme aufs liebe Vieh, das halt in der Regel nicht "treu" ist, einige Spezies aber doch. Wir sind
von selbigem so fundamental verschieden in zahlreichen für Partnerschaft zentral bedeutsamen Eigenschaften, daß sich da alle Analogieschlüsse verbieten. Angefangen von der Aufrichtung, die Blickkontakt während des sexuellen Zusammensein ermöglicht. (Ermöglichen würde, löschte nicht die Mehrheit der Paare rechtzeitig das Licht.) Bis zur ganzjährig gegebenen Libido der Frau. Bis zur Fähigkeit, eigenen Handlungen und solchen der Parnerin Bedeutung zuzuschreiben und zu der Fähigkeit (die einen hochkomplexen Kortex voraussetzt), überhaupt die Begriffe "Selbst" oder "Ich" zu denken, ohne die es sinnlos ist, von Treue zu reden. Merkwürdig, daß das Vieh immer wieder aufgetrieben wird. Suchen wir Alibis?
"May we all learn to love well" - der letzte Satz von Schnarch's Standardwerk ("Passionate Marriage").
In diesem Sinne: gute Nacht!
Windpferd