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Doch Hunderttausenden von Kindern brachten Ferien in den 1950er, 1960er und 1970er Jahren Erfahrungen, die sie besser nie gemacht hätten. Sie wurden, wie man damals sagte „verschickt“.
Sommers wie winters nahmen staatliche, konfessionelle und private Erholungsheime für Wochen oder Monate Kleinkinder undSchulkinder auf, um Eltern zu entlasten. Möglichst keine Abschiedsszenen, war die Devise, einfach umdrehen und weggehen. Und bloß keine Anrufe, „das weckt nur Heimweh“. Vor allem aber tat meist das Heim weh.
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Je jünger das Kind, desto traumatischer waren die Dark Holidays. Etwa für Arne. Er war sieben und ist abends im Schlafsaal herumgeturnt. Deshalb zerrten ihn zwei Schwestern mit Häubchen und Schürzen in die Waschküche eines Kinderheims an der Nordseeküste. Sie schoben Arne in eine Ecke des Raums und streuten Waschpulver im Halbkreis um seine bloßen Füße, eine breite, weiße Pulverschicht. Ohne sich zu regen sollte er dort bis zum Morgen ausharren: „Wir sehen jeden Schritt im Pulver. Dafür setzt es was!“ Dann ließen sie ihn im Pyjama im Dunkeln stehen. Verzweifelt versuchte das Kind, nicht vor Übermüdung zusammenzusacken.
Anders als dauerhafte Unterbringung im Erziehungsheim galt ein Aufenthalt im Erholungsheim nicht als stigmatisierend. Man gönnte den fleißigen Eltern im Wirtschaftswunder ihre Pause, endlich mal zu zweit, ob am Baggersee oder am Tegernsee. Solange sollten die Kinder in der guten Meeresluft oder im schönen Schwarzwald „zu Kräften kommen“. Kosten für Verschickungsheime, wie für die Kinder aus dem smogreichen Ruhrgebiet, wurden häufig von Krankenkassen getragen. Solche Heime zu unterhalten bot lukratives Saisongeschäft. Die pädagogische Praxis in den Erholungsheimen unterschied sich indes kaum von der inzwischen berüchtigten Praxis der Erziehungsheime, und da wie dort stammte das Personal teils aus früheren NS-Institutionen.
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Kinder wurden eingesperrt an Betten gefesselt oder auf Nahrungsentzug gesetzt
Kinder wurden zum Aufessen gezwungen, mussten Erbrochenes essen oder wurden auf Nahrungsentzug gesetzt. Sie wurden an Betten gefesselt, geschlagen, eingesperrt, gemaßregelt, beschämt, brühend heiß oder eiskalt abgeduscht. In Schlafräumen waren Geschwister getrennt, ebenso Mädchen und Jungen. Dem Heimregime entkam keiner, so wenig wie dem Geruch von Grießbrei, Milchsuppe und Hagebuttentee.
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Etwa 800 000 Kinder in Deutschland sind nach dem Zweiten Weltkrieg in Heimen großgeworden, ein bis zwei Millionen dürften bis in die 1970er Jahre Wochen oder Monate in Verschickungsheimen verbracht haben. Alle, die Kinder in Heimen betreuten brachten Praktiken der Reglementierung Minderjähriger aus dem eigenen Hintergrund an ihren Arbeitsplatz mit. Auf die Weise konnten sich in solchen Erziehungszonen Brutalitäten multiplizieren und potenzieren. Zu den Sanktionsformen, die Kinder aus ihren Elternhäusern kannten, kam in den kollektiven Bewahranstalten, neben Entfremdung und Isolation, die Überrumpelung durch neue Formen der Gewaltanwendung hinzu.
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Wunsch und Wille des Kindes. Waren demütigende Praktiken früher in Heimen die Regel, sind sie heute die Ausnahme. Foto: Ralf Hirschberger/Zentralbild dpa
Manfred Kappeler
Es war die Hölle, sagen viele im Rückblick. Freilich war es nicht immerzu und nicht überall so. Die Erfahrungen sind verknüpft mit mehreren Faktoren wie dem Lebensalter und der Dauer der Verschickung. Dass Zwang und Gewalt endemisch waren, steht gleichwohl außer Zweifel. Ende 2018 läuft das Projekt in Baden-Württemberg aus. Es hinterlässt eine Gewissheit: Bedarf für weitere Recherchen besteht hier in der gesamten Republik.
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