Sprecherin:
Im Anfang, so weiß es die griechische Mythologie, war „Chaos“, der Urstoff, dann entstand die Erde und sofort auch Eros, der den klaren Verstand zusammenbrechen lässt, aber dafür sorgt, dass Unvereinbares, voneinander Geschiedenes in Eins fällt. Eros war der, der das Durcheinanderwürfeln, das „Diaballein“ in die Welt brachte - der anfängliche Diabolos, den erst die Christen in ihrer Weltfremdheit verteufelten. Bereits er, der anfängliche Eros-Diabolos, strebte nach dem, was viel, viel später dem Collagen-Künstler Kurt Schwitters vorschwebte: alles mit allem in Beziehung zu bringen - und was später „Glasperlenspiele“ heißen sollte.
Sprecher:
Dass es mit der Kunst eines Tages so weit kommen könnte, da die „Hervorbringung“ - die alten Griechen sprachen von Poiesis - von „Werken“ aus Mangel an „Kreativität“ zur „Kunst der Zusammenstellung“ von bereits vorhandenen Erzeugnissen werden könnte: das hat nicht erst Peter Sloterdijk in seiner Salzburger Festspielrede von 2001 zur Sprache gebracht. Schon 1943 ist ihm darin Hermann Hesse mit seinem „Glasperlenspiel“ zuvorgekommen. In der ästhetischen Provinz „Kastalien“, irgendwo im Abendland gelegen, übt eine höchst verfeinerte Elite, ein „Orden“, die Kunst des Glasperlenspielens; und diese Kunst, deren Ende ebenfalls vorhersehbar ist, könnte man als eine Art praktizierter Anteilnahme an der Kulturgeschichte bezeichnen. Ein „Meister“ des Spiels weckt im Lauf einer „Aufführung“ Erinnerungen an Produkte kreativer Zeiten; und die jeweilige Kombination der Erinnerungen oder Zitate macht den Charakter des einzelnen Spiels aus. Es handelt sich bei dem „Spiel“ um eine Art von Musizieren, das sich über Tage und Wochen hinziehen kann, aus „Kontemplation“ hervorgeht und „Kontemplation“ bewirkt. Der zeitweilige „Magister ludi“ Josef Knecht sagt es so:
Zitator:
„Wir halten die klassische Musik für den Extrakt und Inbegriff unsrer Kultur, weil sie ihre deutlichste, bezeichnendste Gebärde und Äußerung ist. Wir besitzen in dieser Musik das Erbe der Antike und des Christentums, einen Geist heiterer und tapferer Frömmigkeit, eine unübertrefflich ritterliche Moral. Denn eine Moral letzten Endes bedeutet jede klassische Kulturgebärde, ein zur Gebärde zusammengezogenes Vorbild des menschlichen Verhaltens. ... Immer ist die menschliche Haltung, deren Ausdruck die klassische Musik ist, dieselbe, immer beruht sie auf derselben Art von Überlegenheit über den Zufall. Die Gebärde der klassischen Musik bedeutet: Wissen um die Tragik des Menschentums, Bejahen des Menschengeschicks, Tapferkeit, Heiterkeit! So soll es auch in unsern Glasperlenspielen klingen, und in unserm ganzen Leben, Tun und Leiden.“
Sprecher:
Ursprünglich, so erfährt der Leser, sei das Spiel „die Spezialunterhaltung bald der Mathematiker, bald der Philologen oder Musiker“ gewesen, dann aber sei es zum „Inbegriff des Geistigen und Musischen geworden, zum sublimen Kult“, zu einer Höchstform des „magischen Theaters““.
Sprecherin:
Zunehmend wurde das „Spiel“ zu einer gewissermaßen religiösen Übung, zu einer „erlesenen, symbolhaften Form des Suchens nach den Vollkommenheiten“, zu einem „Sichannähern an den ... in sich einigen Geist“, zu einer „Art Weltsprache der Geistigen“, „nahezu gleichbedeutend mit Gottesdienst, während es sich jeder eigenen Theologie enthielt“. Aber es ging sozusagen ums „Ganze“, wie jener Josef Knecht zu verstehen gab:
Zitator:
„Ich begriff plötzlich, dass in der Sprache oder doch mindestens im Geist des Glasperlenspiels tatsächlich alles allbedeutend sei, daß jedes Symbol und jede Kombination von Symbolen nicht hierhin oder dorthin, nicht zu einzelnen Beispielen, Experimenten und Beweisen führe, sondern ins Zentrum, ins Geheimnis und Innerste der Welt, in das Urwissen ... nichts anderes als ein unmittelbarer Weg ins Innere des Weltgeheimnisses, wo im Hin und Wider zwischen Ein- und Ausatmen, zwischen Himmel und Erde, zwischen Yin und Yang sich ewig das Heilige vollzieht.“
Sprecherin:
Doch das erreichte Heilige war auch noch kein Letztes. Der Spielmeister Josef Knecht durchschaut die Abgehobenheit seiner Kunst, die einen um die Freiheit bringen kann, er verlässt den Orden der elitären Künste und mischt sich in die Welt. Auch in der, so mag man hinzusetzen, lässt sich mit vollem Ernst spielen, eine Spielkunst betreiben, die ihre Formen aus der Substanz des Alltäglichen gewinnt. Und es könnte sein, dass einer, der elitär sein möchte, das Spiel der Kunst wie die Kunst des Spiels schon nicht mehr begriffen hat.