Guten Tag,
"Verstehen" ist ein Wort, dem mehrere Begriffe entsprechen.
Das Wort stammt aus dem germanischen Rechtswesen und kam zu uns aus dem althochdeutschen
fir-stan. Das ist ein juristischer Begriff: nämlich in der Gerichtsversammlung
für einen anderen "einstehen" (z.B. für dessen Unschuld, rechtmäßige Ansprüche usw.) -
mit allen Konsequenzen; sich ganz real (nicht bloß mental, mit "Einfühlung" oder dergleichen) an dessen Stelle begeben. Ich finde das sehr bedenkenswert. Wie einfach wir es uns machen mit unserer intellektuellen Versteherei ohne alle Konsequenzen. "Fir-stan" ist was ganz anderes. Aber menschenmöglich.
Dann wird mit
"Verstehen" oft gemeint:
Einsicht in Kausalzusammenhänge. Wenn ich die Ursache eines Ereignisses zu kennen glaube, kann ich sagen, ich hätte das Ereignis "verstanden". O.k. - sicher eine sinnvolle Definition. Leider machen wir uns selten bewußt, daß der
Begriff "Kausalität" überaus schwierig ist. Nicht nur in der Philosophie sondern z.B. auch in der kindlichen Entwicklung. Der berühmte Entwicklungspsycholog Jean Piaget hat geniale Beobachtungssituationen geschaffen, die u.a. die stufenweise Erkennung von Ursächlichkeit zeigen. Sie
entwickelt sich spät; wenn die Kinder den Erwachsenen Wörter wie "weil" und "warum" nachplappern, hat das gar nichts mit Einsicht in Kausalität zu tun. Und, weil es hier ja um Angst gehen soll:
Ängste z.B. in der Stammesgeschichte überlebenswichtige, etwa Angst vor Kleintieren oder Abgründen,
treten etliche Jahre früher auf als "Verstehen" möglich (d.h. der Kausalitätsbegriff entwickelt) ist. Allein von daher ist es unplausibel, daß gegen in früher Kindheit grundgelegte Ängste Verstehen helfe. (Auch dann nicht, wenn die Patienten und vielleicht auch wir hier nachplappern, was für "verständnisvolle" Dinge in den populären Ratgebern stehen.)
Schließlich wird
"Verstehen" definiert als
Einfühlung (Empathie). Diese Fähigkeit variiert zwischen Menschen, sie kann sich entwickeln. Sie läßt sich sogar
physiologisch messen (z.B. über Hautwiderstand, Herzfrequenz, Muskeltonus, Atemmuster). Es ist dazu nicht notwendig, ein bestimmtes Leiden selber schon erlebt zu haben. Wir entwickeln u.U. Reaktionsmuster, die denen der real - z.B. von einer Panikattacke - Betroffenen
ähnlich sind. Das kann uns "zuviel" sein - dann ziehen wir uns zurück, decken das Unerträgliche mit wohlfeilen Vernünftigkeiten zu. Allerdings kann man lernen, sich dem Leid voll auszusetzen und durchlässig zu bleiben, so daß kein Stau auftritt. (Meditation hilft dabei nach meiner Erfahrung sehr.) - Empathie ist außerodentlich wichtig und wirksam: sie schafft eine
emotionale Verbindung, vielleicht Solidarität mit dem Leidenden
auf einer tieferen Ebene als auf der des vernünftigen Redens und kann dadurch zur Heilung beitragen. Es hilft eher nicht, das Leid zu verstehen im Sinn von Kausalität. Aber ich "verstehe" dann, daß Einsicht in Ursachenzusammenhänge dem Leidenden eben nicht hilft, daß es andere Herangehensweisen braucht. Das bringt noch keine Heilung (solang die relevanten "Herangehensweisen" nicht verfügbar sind) - aber ist schon ein Riesenschritt. Der in diesem Thread, so scheint mir, weitgehend vergeblich propagiert worden ist.
Es ist einfach:
Es geht darum, emotional (meinetwegen "mit dem Herzen") zu "verstehen", daß ich bestimmte Menschen, Verhaltensweisen, Ereignisse rational (im Sinn von Einsicht in Kausalität) eben NICHT "verstehen" kann. Und - entscheidend - auch nicht muß; es gibt Herangehensweisen, mit denen direkt die emotionalen und verhaltenssteuernden Hirnzentren beeinflußt werden können. (Was der Neocortex grundsätzlich nicht schaffen kann, so klug er auch denken mag.)
* * *
Das Ganze steht in einem weiten Zusammenhang. Menschliche Geschichte ist auch eine Geschichte fortwährender
Demütigung des Menschen. Schon in der Antike wurde ihm bewußt, daß er
nicht in der Mitte der Erde lebte. (Weil es eine Mitte nicht gibt.) Später: daß
die Erde nicht die Mitte des Kosmos ist sondern um die Sonne kreist. Noch später: daß auch unsere Sonne . . . Weiterhin: daß der
Mensch nicht so singulär ist sondern tierische Urahnen hat, dazu viele und weitgehende Ähnlichkeiten und physiologischer u.a. Hinsicht. Dazu: daß wir und
Unsterblichkeit oder Reinkarnation zwar ausfantasieren können, daß aber keinerlei Belege für deren Realität existieren. Und
"Freiheit" - die können wir noch nicht einmal richtig denken. Es "gibt" sie nicht.
Schließlich die Entdeckung, daß wir noch
nicht mal Herr im eigenen Haus sind. Auch schon vor Sigmund Freud gedacht, aber durch ihn stringent belegt und überzeugend verbreitet. (Daß seine Behandlungsmethoden unwirksam sind, hat damit nichts zu tun - er selber erwartete diesbezüglich neue Ansätze). Auf weiten Strecken unseres Lebens
sind wir nicht Steuerfrau / -mann des Schiffs, das wir gewohnheitsmäßig "Ich" nennen. Eher blinde Passagiere. Panikattacken sind nur ein besonders eklatantes Beispiel dafür. Aber nicht genug, daß wir nicht am Steuer sind: wir wissen noch nicht einmal, warum das Schiff in eine bestimmte Richtung fährt. Das nennt man seit ca. 30 Jahren in der Sozialpsychologie
"Introspektionsillusion": Es läßt sich zeigen, daß wir auf Fragen nach den Gründen unseres Verhaltens gar keinenn Zugang zu den realen Gründen haben, sondern stattdessen erzählen, was plausibel ist. ("Telling more than we can know", der Titel des klassischen Sammelreferats.)
Nun,
"Kränkung" könnte zu angemessener
Demut führen - würden wir erstere verarbeiten. Soweit wir dies nicht tun, führt sie zu
Gegenwehr. Nun, die Katholische Kirche hat die Ketzer hinrichten lassen.In den USA gibt es -politisch einflußreiche - Bewegungen, die den Schöpferglauben (incl. eigener Erschaffung des Menschen) wieder durchsetzen wollen.
Auf unserer Ebene manifestiert sich die Gegenwehr als oft mürrisches Insistieren auf dem - zu Unrecht so genannten -
gesunden Menschenverstand. Niveau der unteren Ratgeberliteratur. Ohne gesunden Menschenverstand funktioniert nämlich nicht mehr, was Heidegger
"Gerede" nannte (durch das wir verbale Versatzstücke für so ziemlich alles haben). Wir müßten sonst öfter mal buchstäblich
sprachlos, ratlos, mit offenem Mund, schaudernd und staunend vor Abgründen menschlichen Leidens stehen. Das wäre die optimale Voraussetzung dafür, sich auf
ganz neue Ansätze einzulassen. Die es im Fall der Therapie von Panik und Angst
bereits gibt, nachlesbar. Ich würde wetten, daß noch niemand die hier früher erwähnte Christoph-Dornier-Stiftung auch nur angeklickt hat - dort (incl. ein paar Links) wird moderne Verhaltenstherapie erläutert, beschrieben, evaluiert (viel besser, als etwa ich das könnte). Manche reagieren schon allergisch auf das Wort "Verhaltenstherapie" obwohl sie darüber weder gelesen noch Erfahrungen gemacht haben.
Die
Konsequenz: daß wir schwer Leidende eindecken mit vernünftigem Gerede, das ihnen absolut nicht hilft. Weil wir noch nicht einmal darüber informiert sind, daß es tatsächlich - wenig bekannte - "Königswege" gibt. Gäbe. (Das bei trivialen Alltagsängsten manchmal guter Rat - z.B. bezüglich Atmung, Aufmerksankeitssteuerung usw. hilft, ist unbestritten. Nur: das ist kein Modell für die schweren Formen. Die dann leider schwer erkennbar werden, weil sich häufig andere Leiden - v.a. Depression, auch agitierte, und Süchte - darüber legen.)
Alles Liebe wünscht
Windpferd