Themenstarter
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- 07.03.10
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Mein Name ist Jacqueline Otto und ich habe ein Buch mit dem Titel "Turboclean, Scholl und Ruah" über das Leben mit meiner Tochter Jasmin (welche mit nunmehr 7 Jahren noch kaum sprechen kann) geschrieben. Jasmin leidet unter einer schwerwiegenden, tiefgreifenden Epilepsie mit autistischen Zügen und verschiedenen Allergien, ausgelöst vermutlich durch eine Impfung im frühen Babyalter. Ich erzähle mit hoffentlich viel Liebe und Humor in kleinen Geschichten von Jasmins Weg, der mit steten Schwierigkeiten, sich im "normalen Leben" zurechtzufinden, verbunden ist. Mein Ziel ist es vor allem, mit diesem Buch Betroffene zu erreichen, die vielleicht einen ähnlichen schweren Weg zu beschreiten haben.
Ich würde mich freuen, wenn ich in diesem Formum mit Betroffenen in Kontakt kommen würde, denn dies war mein Hauptanliegen zum Schreiben des Buches. Gewinn werde ich mit dem Projekt keinen machen, dies war auch nicht mein Anliegen.
ISBN: 978-3-873-2350-3
Verlag: Books on Demand
Autorin: Jacqueline Otto
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Leseprobe:
Meine Tochter ist anders
Jasmin zeigte schon von Anfang an einige Auffälligkeiten, denen allerdings niemand so richtig Aufmerksamkeit schenkte. Wir, Jasmins Eltern, nicht, die Kinderärztin nicht und auch die Verwandtschaft nicht. Es war zum Beispiel unmöglich, Jasmin auf dem Boden spielen zu lassen. Ich kann mich an eine Situation erinnern, als es an der Tür klingelte, während ich Jasmin gerade wickelte. Auf dem Wickeltisch konnte ich sie nicht liegen lassen. Mitnehmen konnte ich sie auch nicht, denn es war Winter und Jasmin hatte ja fast nichts an. Also legte ich sie schnell auf den Boden, um zur Tür zu gehen. Augenblicklich, mit Berührung des Bodens, fing Jasmin so gellend an zu schreien, als würde es um ihr Leben gehen. Ich nahm sie sofort wieder hoch, weil ich dachte, ich hätte sie auf irgendetwas gelegt, ihr womöglich sogar weh getan. Aber da war nichts. Also legte ich sie wieder ab, ich wollte schließlich die Türe öffnen, daraufhin brüllte Jasmin sofort wieder los. Ich ließ sie diesmal liegen, um erst einmal an die Türe zu gehen, aber danach ging ich der Sache auf den Grund. Ich versuchte, sie in unserer Küche auf den Boden zu setzen, dann im Wohnzimmer, im Bad und zu guter Letzt auf ihrer Spieldecke, aber das war für Jasmin offensichtlich noch schlimmer als der blanke Boden. Der Ablauf war immer derselbe: Ich konnte mich zusammen mit Jasmin auf den Boden niederlassen – kein Problem, sobald ich sie jedoch von meinem Körper wegsetzen wollte, protestierte sie lauthals. Also stand für mich fest: Jasmin hat ein Problem mit Fußböden.
Das allein wäre ja für sich genommen noch nicht sonderlich problematisch gewesen, aber die Merkwürdigkeiten in Jasmins Verhalten mehrten sich, ohne dass sich uns ein plausibler Grund erschließen wollte. Sie entwickelte eine panische Angst vor Geräuschen, nicht nur vor ungewohnten oder lauten. Eine Spieluhr war und ist bis heute ein großer Horror für Jasmin. Ich weiß nicht, wie sie diese Geräusche wahrnimmt, wahrscheinlich scheint mir, dass sie sie als extrem laut empfindet und deshalb mit Schreck und Panik reagiert. Zu dieser Schlussfolgerung bin ich gekommen, da sie sehr viele ganz leise Geräusche, die ich kaum bemerke, wahrnimmt und mich explizit darauf hinweist. – Die bereits erwähnte Spieldecke war für Jasmin immer besonders schlimm. Es handelte sich dabei um eine runde Decke mit Schäfchen darauf. Die Ohren der Schäfchen waren mit einer Art Folie gefüllt, welche ganz leise knistert, ähnlich wie Alufolie. Selbst dieses kleine Knistern konnte Jasmin nicht ertragen, es brachte sie völlig aus der Fassung.
Heute denke ich, dass in diesem Fall das Unberechenbare des Geräusches viel zu Jasmins Panik beigetragen hat. Es ist nämlich noch heute so, dass sie Töne eher akzeptieren kann, wenn sie weiß, was sie bedeuten, wann und woher sie kommen. Wichtig hierbei ist, das Geräusch gewissermaßen unter Kontrolle zu haben. Der Standort der Spieluhr zum Beispiel darf nicht verändert werden und Jasmin lässt sich auf keinen Fall dazu bringen, zu ihr hinzugehen. Sie lässt sich inzwischen an neue Geräusche wie Spieluhren oder elektronische Bücher gewöhnen, wenn man einige Regeln beachtet. Neulich habe ich Jasmin aus genau diesem Grund ein elektronisches Cinderellabuch geschenkt. Ich greife jetzt zwar etwas vor, möchte Ihnen aber dennoch schildern, welch große Überwindung es Jasmin kostet, sich solchen für mich und sicher auch für Sie vollkommen normalen Dingen anzunähern. – Die Geschichte von Cinderella kannte Jasmin bereits aus einem normalen Buch und es ist wie bei allen Büchern: Jasmin liebt Bücher und so auch dieses, doch dazu später mehr. Als ich Jasmin an diesem Tag vom Kindergarten abgeholte, sagte ich ihr, dass eine Überraschung zu Hause auf sie warte. Mittlerweile hatte Jasmin gelernt, dass eine Überraschung von Mama nichts Bedrohliches bedeutet. Deshalb kann sie sich darauf freuen. Damit das auch so bliebe, erklärte ich ihr, nachdem sie das Überraschungsbuch in ihrem Zimmer gefunden hatte: Dies sei kein normales Buch, sondern eines, welches Musik mache. Ich sagte ihr auch, dass Cinderella hier selbst ihre Geschichte erzähle und nicht die Mama vorlesen müsse. Dann wies ich Jasmin noch ausdrücklich darauf hin, dass sie allein entscheide, wann das Buch Töne von sich gebe und wann nicht. Zu diesem Zweck zeigte ich ihr den Einschaltknopf. Jasmin reagierte, wie erwartet, sehr ängstlich.
Mittlerweile flüchtet sie sich bei Panikattacken nicht mehr in ihre Wutanfälle mit Schlagen und Beißen. Die Themen Wut und Autoaggressionen werden uns während unserer Reise durch Jasmins Welt immer wieder begegnen. Allerdings kommt dies zum jetzigen Zeitpunkt in vertrauter Umgebung kaum noch vor, wofür ich sehr dankbar bin. Jasmin hat nämlich einen anderen Weg gefunden, um mit ihrer Panik fertig zu werden: Sie hat gelernt, dass sie bei Mama sicher ist. Wir haben ihr dies spielerisch vermittelt, indem wir mit Papas Hilfe „Angstspiele” gespielt haben. Sicher erzähle ich Ihnen hier nichts Neues: Es gibt einen ganz bestimmten Punkt, bei welchem die Angst noch aufregend ist und nicht zur Panik führt. Der kitzelige Moment eben, in dem man weiß man ist in Sicherheit, aber sich doch etwas gruselt. Jeder Leser der jetzt noch immer nicht weiß, was ich meine, sei an einen guten Krimi oder spannenden Horrorfilm erinnert.
Jasmins Papa also musste sich für diesen Zweck hinter der Kinderzimmertür verstecken, dann plötzlich erscheinen und gruselige Geräusche von sich geben. Jasmin erschrak, war aber noch in diesem erwähnten „positiven” Bereich. Ich rief ihr zu: „Schnell, komm her zu Mama, hier bist du sicher.” Jasmin kam daraufhin zu mir gelaufen und versteckte sich hinter meinem Rücken. Ich sagte zu ihr: ”Gut gemacht, hier bist du sicher. Mama passt auf dich auf!” Wenn der Papa dann durch die Türe gestürmt kam, um Jasmin durchzukribbeln oder zu necken, rief ich schon von Weiten: „Du kannst nicht zu ihr, Papa, sie ist bei Mama und bei Mama ist sie sicher.” Der Papa hielt sich daran und verschwand wieder hinter seiner Tür. Selbst wenn er einmal frech zu werden versuchte, wurde er von mir erfolgreich „abgewehrt”. Wir spielten das Spiel sehr oft, was vor allem daran lag, dass Jasmin es stets einforderte, wenn der Papa nachmittags von der Arbeit nach Hause kam. Sie hatte also gelernt, sich bei mir in Sicherheit zu bringen, anstatt sich selbst weh zu tun. Diesen Schritt allerdings auch auf andere Bereiche des Lebens anzuwenden, welche ihr Angst einjagen – das hat sie ganz alleine getan und ich bin sehr stolz auf meinen kleinen Engel.
Zurück zum Cinderella-Buch bedeutete dies, dass sie sich ganz fest an mich drückte. Und das ist keineswegs normal, da Jasmin erst mit circa fünf Jahren begonnen hat, aktive Zuneigungsbekundungen zu zeigen und dann auch nur bei Mama und Papa. Ich sagte ihr auch in dieser Situation: „Natürlich, mein Schatz, bei der Mama bist du sicher. Und du weißt ja, dass die Mama dir nichts als Überraschung geben würde, was gefährlich für dich ist.” Jasmin nickte daraufhin ganz energisch, wollte aber nicht auf das Buch zugehen. Ich fragte sie, ob es ihr lieber wäre, das neue Buch erst einmal in das Regal zurückzustellen. Jasmin nickte erleichtert. Ich sagte ihr noch: „Das ist nicht schlimm, wenn du dich noch vor dem neuen Buch fürchtest, schließlich macht es Töne und du musst es ja erst kennenlernen.”
Damit ließ ich es für diesen Tag bewenden und wir widmeten uns einem anderen „ungefährlichen” Buch. Ich hoffte in diesem Moment, dass alles, was wir miteinander kommuniziert hatten, auch wirklich bei Jasmin angekommen war, denn manchmal nickt sie in für sie nicht überschaubaren Situationen einfach und im späteren Verlauf merkt man, dass sie gar nicht wusste, warum es ging. Dieses Verhalten fiel und fällt mir noch heute auf, wenn es sich um für Jasmin kritische Momente handelt. In diesem speziellen Fall sollte ich allerdings noch am selben Tag die Bestätigung bekommen, dass Jasmin alles verstanden hatte. Als nämlich der Papa von der Arbeit nach Hause kam, führte Jasmin ihn erst einmal zu dem Bücherregal, in welches wir das singende Buch hineingestellt hatten. Der Papa bestaunte es natürlich gebührend und wir erklärten ihm, dass er das Buch nicht herausnehmen könne (das wollte er nämlich gerade tun), weil Jasmin es noch nicht kennengelernt hatte. Papa hielt sich daran und verschwand erst einmal im Bad. Als er dann wieder ins Zimmer kam, musste Jasmin ihm noch den Anschaltknopf des Buches zeigen. Ich erklärte dem Papa natürlich noch, dass nur Jasmin bestimme, wann dieser Knopf betätigt würde. Jasmin nickte ganz freudig. Sie hatte die Dinge unter Kontrolle und sogar Papa musste sich daran halten. Für diesen Tag war das Thema erst einmal beendet. Am darauf folgenden Wochenende setzten wir die Übung fort. Es war ein verregneter Nachmittag und wir hatten viel Zeit zum Spielen. Das Wasser rann in Strömen über die Fensterscheibe und trommelte laut auf das Fensterbrett. Die richtige Zeit also, um einen schönen Büchernachmittag zu machen. Hier möchte ich noch einfügen, dass Jasmin ihren geregelten Tagesablauf braucht, jedoch mittlerweile gelernt hat, dass wir nicht jeden Tag zur selben Zeit spazieren gehen können. Sie weiß inzwischen, dass auch drinnen spielen Spaß bringt. Daher müssen wir bei schlechtem Wetter nicht unterwegs sein, worüber ich sehr froh bin. Dieses Thema soll uns später noch ausführlicher beschäftigen.
Der Papa nahm also das Cinderella-Buch aus dem Regal und – Jasmin wurde unruhig und sagte: „Ab.” Ich meinte daraufhin in vorwurfsvollem Ton: „Papa, das ist doch Jasmins Buch, Jasmin entscheidet, wann es angeschaltet wird.” Jasmin pflichtete mir mit einem eifrigen Nicken bei und Papa musste sich rechtfertigen. Er sagte so etwas wie: „Ich schalte es doch gar nicht an, ich blättere ja nur die Seiten um, da kommen doch gar keine Töne heraus.” Das verstand Jasmin. Papa durfte das Buch behalten. So ganz schien sie allerdings nicht auf Papas Zusage zu vertrauen, denn sie machte es sich auf meinem Schoß gemütlich und drückte sich fest an mich. Mittlerweile hatte sie sich angewöhnt, mir auf die Schulter zu klopfen, wenn sie von mir beschützt werden wollte. Ich reagierte natürlich wunschgemäß, wies sie aber auch darauf hin, dass Papa doch immer hielte, was er verspräche, und Jasmin doch nicht absichtlich ärgern würde. Jasmin nickte, blieb aber sitzen. Papa saß also etwa einen Meter entfernt von uns auf dem Boden und schaute das Cinderella-Buch an – an sich schon ein sehr interessanter Anblick, kann ich nur sagen. Das schien auch Jasmin zu meinen, denn sie beugte sich immer weiter vor, um auch etwas vom Inhalt des Buches mitzubekommen. Die Neugier siegte dann doch. Wir wiesen noch etliche Male darauf hin, dass Jasmin bestimmen konnte, wann der Knopf für die Geräusche gedrückt würde, und dann durfte das Buch zu Jasmin auf den Schoß kommen. Als wir es durchgeschaut und auch vorgelesen hatten, nahm es der Papa wieder an sich. Ihm musste es schon die ganze Zeit in den Fingern gejuckt haben, das Buch endlich einmal zu aktivieren, das sah selbst ein Blinder. Ich fragte Jasmin also, ob der Papa es einmal anschalten dürfte. Mittlerweile hatte Jasmin anscheinend so viel Vertrauen zu dem Buch gefasst, dass sie nickte. Der Papa konnte also endlich loslegen. Jasmin kroch zwar bei den ersten Tönen fast in mich hinein, ließ sich aber durch ein überzeugendes ”Du brauchst doch keine Angst zu haben, die Mama passt doch auf dich auf” beruhigen. Im Laufe des Nachmittags näherte Jasmin sich dem Buch so weit an, dass sie sogar selbst die einzelnen Knöpfe drückte und Spaß daran fand. Für andere Kinder ein kleiner Schritt, aber für Jasmin eine große Leistung. Mittlerweile wird das Buch noch immer mit Respekt, ich möchte fast sagen mit Ehrfurcht behandelt und ich muss Jasmin manchmal darauf hinweisen, dass sie doch keine Angst mehr hat, da sie es ja nun kennt und schon selbst alle Knöpfe gedrückt hat. Dann ist alles wieder in Ordnung. Selbstverständlicherweise ist das Buch auf die leiseste Stufe eingestellt und hat einen angenehmen Klang. Es ist nun nicht so, dass Jasmin Geräusche generell ablehnt. Es kommt hierbei immer auf die Art derselben an. Natürliche Töne von Gitarre, Klavier oder auch eine Singstimme liebt Jasmin nämlich geradezu. In der Vergangenheit mochte sie gerne dasselbe Lied immer wieder vorgesungen gekommen. Auch ihre Therapeuten, egal in welchen Bereich, fanden nur Zugang zu ihr, wenn sie für sie sangen, mit Musikinstrumenten spielten oder experimentieren. Dazu möchte ich noch erwähnen, dass Jasmin nicht viel sprechen kann und deswegen Logotherapie und aufgrund ihrer tapsigen Bewegungen Physiotherapie erhält. Therapeuten, die diesem musikalischen Ansatz nicht nachkommen können oder wollen, haben es dementsprechend schwer und müssen sich einen anderen Ansatzpunkt suchen. Zu diesem Thema sei noch bemerkt, dass mit der Gewöhnung an ein bestimmtes Geräusch nicht alle Töne aus dieser Kategorie abgedeckt sind. Das wäre wahrscheinlich zu einfach. Wenn Jasmin sich an das Cinderella-Buch gewöhnt hat, bedeutet das nicht, dass sie nunmehr alle Bücher, welche Töne produzieren, in Ordnung findet. Nein, so läuft das bei unserem süßen Bündel nicht ab. Wenn Gewöhnung, dann an jedes Geräuschbuch gesondert. Sie können sich sicher vorstellen, dass Jasmin nicht viele solcher Bücher besitzt. Auch heute ist sie noch bei jedem neuen Spielzeug ängstlich, es könnte ja unerwartet Töne oder Laute von sich geben. Früher, als Jasmin noch ein Baby war, lehnte sie allerdings jegliches Spielzeug kategorisch ab und obige Prozedur musste für jeden Gegenstand gesondert durchgeführt werden. Als einzige Ausnahme lassen sich normale Bücher nennen, bei denen nach einer gewissen Zeit eine Gewöhnung eingetreten ist. Kein Einschaltknopf bedeutet: Buch ist in Ordnung. Bei anderen Spielsachen tastet Jasmin sich immer vorsichtig heran. Man darf sie dann auch auf keinen Fall überrumpeln. Wenn man das macht, lehnt Jasmin das Spielzeug total ab und es führt kein Weg mehr heran. Man kann es dann genauso gut weiterverschenken. Sie nimmt es einfach nicht mehr. Am liebsten spielt Jasmin sowieso mit Dingen, die einfach so im Raum herumstehen, oder mit Sachen, die Mama oder Papa gehören. Diese Schwierigkeiten sind allerdings zu bewältigen. Es ist oft nervenaufreibend, das gebe ich zu, doch das ist nicht das Gravierendste im Umgang mit Jasmin. Die für uns schwerwiegendste Auffälligkeit an Jasmin ist, dass wir mit unserer Kleinen keine Besuche bei Verwandten, Bekannten etc. unternehmen können. Dazu gibt es ein Erlebnis, das sich mir diesbezüglich ins Gedächtnis gebrannt hat.
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Ich würde mich freuen, wenn ich in diesem Formum mit Betroffenen in Kontakt kommen würde, denn dies war mein Hauptanliegen zum Schreiben des Buches. Gewinn werde ich mit dem Projekt keinen machen, dies war auch nicht mein Anliegen.
ISBN: 978-3-873-2350-3
Verlag: Books on Demand
Autorin: Jacqueline Otto
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Leseprobe:
Meine Tochter ist anders
Jasmin zeigte schon von Anfang an einige Auffälligkeiten, denen allerdings niemand so richtig Aufmerksamkeit schenkte. Wir, Jasmins Eltern, nicht, die Kinderärztin nicht und auch die Verwandtschaft nicht. Es war zum Beispiel unmöglich, Jasmin auf dem Boden spielen zu lassen. Ich kann mich an eine Situation erinnern, als es an der Tür klingelte, während ich Jasmin gerade wickelte. Auf dem Wickeltisch konnte ich sie nicht liegen lassen. Mitnehmen konnte ich sie auch nicht, denn es war Winter und Jasmin hatte ja fast nichts an. Also legte ich sie schnell auf den Boden, um zur Tür zu gehen. Augenblicklich, mit Berührung des Bodens, fing Jasmin so gellend an zu schreien, als würde es um ihr Leben gehen. Ich nahm sie sofort wieder hoch, weil ich dachte, ich hätte sie auf irgendetwas gelegt, ihr womöglich sogar weh getan. Aber da war nichts. Also legte ich sie wieder ab, ich wollte schließlich die Türe öffnen, daraufhin brüllte Jasmin sofort wieder los. Ich ließ sie diesmal liegen, um erst einmal an die Türe zu gehen, aber danach ging ich der Sache auf den Grund. Ich versuchte, sie in unserer Küche auf den Boden zu setzen, dann im Wohnzimmer, im Bad und zu guter Letzt auf ihrer Spieldecke, aber das war für Jasmin offensichtlich noch schlimmer als der blanke Boden. Der Ablauf war immer derselbe: Ich konnte mich zusammen mit Jasmin auf den Boden niederlassen – kein Problem, sobald ich sie jedoch von meinem Körper wegsetzen wollte, protestierte sie lauthals. Also stand für mich fest: Jasmin hat ein Problem mit Fußböden.
Das allein wäre ja für sich genommen noch nicht sonderlich problematisch gewesen, aber die Merkwürdigkeiten in Jasmins Verhalten mehrten sich, ohne dass sich uns ein plausibler Grund erschließen wollte. Sie entwickelte eine panische Angst vor Geräuschen, nicht nur vor ungewohnten oder lauten. Eine Spieluhr war und ist bis heute ein großer Horror für Jasmin. Ich weiß nicht, wie sie diese Geräusche wahrnimmt, wahrscheinlich scheint mir, dass sie sie als extrem laut empfindet und deshalb mit Schreck und Panik reagiert. Zu dieser Schlussfolgerung bin ich gekommen, da sie sehr viele ganz leise Geräusche, die ich kaum bemerke, wahrnimmt und mich explizit darauf hinweist. – Die bereits erwähnte Spieldecke war für Jasmin immer besonders schlimm. Es handelte sich dabei um eine runde Decke mit Schäfchen darauf. Die Ohren der Schäfchen waren mit einer Art Folie gefüllt, welche ganz leise knistert, ähnlich wie Alufolie. Selbst dieses kleine Knistern konnte Jasmin nicht ertragen, es brachte sie völlig aus der Fassung.
Heute denke ich, dass in diesem Fall das Unberechenbare des Geräusches viel zu Jasmins Panik beigetragen hat. Es ist nämlich noch heute so, dass sie Töne eher akzeptieren kann, wenn sie weiß, was sie bedeuten, wann und woher sie kommen. Wichtig hierbei ist, das Geräusch gewissermaßen unter Kontrolle zu haben. Der Standort der Spieluhr zum Beispiel darf nicht verändert werden und Jasmin lässt sich auf keinen Fall dazu bringen, zu ihr hinzugehen. Sie lässt sich inzwischen an neue Geräusche wie Spieluhren oder elektronische Bücher gewöhnen, wenn man einige Regeln beachtet. Neulich habe ich Jasmin aus genau diesem Grund ein elektronisches Cinderellabuch geschenkt. Ich greife jetzt zwar etwas vor, möchte Ihnen aber dennoch schildern, welch große Überwindung es Jasmin kostet, sich solchen für mich und sicher auch für Sie vollkommen normalen Dingen anzunähern. – Die Geschichte von Cinderella kannte Jasmin bereits aus einem normalen Buch und es ist wie bei allen Büchern: Jasmin liebt Bücher und so auch dieses, doch dazu später mehr. Als ich Jasmin an diesem Tag vom Kindergarten abgeholte, sagte ich ihr, dass eine Überraschung zu Hause auf sie warte. Mittlerweile hatte Jasmin gelernt, dass eine Überraschung von Mama nichts Bedrohliches bedeutet. Deshalb kann sie sich darauf freuen. Damit das auch so bliebe, erklärte ich ihr, nachdem sie das Überraschungsbuch in ihrem Zimmer gefunden hatte: Dies sei kein normales Buch, sondern eines, welches Musik mache. Ich sagte ihr auch, dass Cinderella hier selbst ihre Geschichte erzähle und nicht die Mama vorlesen müsse. Dann wies ich Jasmin noch ausdrücklich darauf hin, dass sie allein entscheide, wann das Buch Töne von sich gebe und wann nicht. Zu diesem Zweck zeigte ich ihr den Einschaltknopf. Jasmin reagierte, wie erwartet, sehr ängstlich.
Mittlerweile flüchtet sie sich bei Panikattacken nicht mehr in ihre Wutanfälle mit Schlagen und Beißen. Die Themen Wut und Autoaggressionen werden uns während unserer Reise durch Jasmins Welt immer wieder begegnen. Allerdings kommt dies zum jetzigen Zeitpunkt in vertrauter Umgebung kaum noch vor, wofür ich sehr dankbar bin. Jasmin hat nämlich einen anderen Weg gefunden, um mit ihrer Panik fertig zu werden: Sie hat gelernt, dass sie bei Mama sicher ist. Wir haben ihr dies spielerisch vermittelt, indem wir mit Papas Hilfe „Angstspiele” gespielt haben. Sicher erzähle ich Ihnen hier nichts Neues: Es gibt einen ganz bestimmten Punkt, bei welchem die Angst noch aufregend ist und nicht zur Panik führt. Der kitzelige Moment eben, in dem man weiß man ist in Sicherheit, aber sich doch etwas gruselt. Jeder Leser der jetzt noch immer nicht weiß, was ich meine, sei an einen guten Krimi oder spannenden Horrorfilm erinnert.
Jasmins Papa also musste sich für diesen Zweck hinter der Kinderzimmertür verstecken, dann plötzlich erscheinen und gruselige Geräusche von sich geben. Jasmin erschrak, war aber noch in diesem erwähnten „positiven” Bereich. Ich rief ihr zu: „Schnell, komm her zu Mama, hier bist du sicher.” Jasmin kam daraufhin zu mir gelaufen und versteckte sich hinter meinem Rücken. Ich sagte zu ihr: ”Gut gemacht, hier bist du sicher. Mama passt auf dich auf!” Wenn der Papa dann durch die Türe gestürmt kam, um Jasmin durchzukribbeln oder zu necken, rief ich schon von Weiten: „Du kannst nicht zu ihr, Papa, sie ist bei Mama und bei Mama ist sie sicher.” Der Papa hielt sich daran und verschwand wieder hinter seiner Tür. Selbst wenn er einmal frech zu werden versuchte, wurde er von mir erfolgreich „abgewehrt”. Wir spielten das Spiel sehr oft, was vor allem daran lag, dass Jasmin es stets einforderte, wenn der Papa nachmittags von der Arbeit nach Hause kam. Sie hatte also gelernt, sich bei mir in Sicherheit zu bringen, anstatt sich selbst weh zu tun. Diesen Schritt allerdings auch auf andere Bereiche des Lebens anzuwenden, welche ihr Angst einjagen – das hat sie ganz alleine getan und ich bin sehr stolz auf meinen kleinen Engel.
Zurück zum Cinderella-Buch bedeutete dies, dass sie sich ganz fest an mich drückte. Und das ist keineswegs normal, da Jasmin erst mit circa fünf Jahren begonnen hat, aktive Zuneigungsbekundungen zu zeigen und dann auch nur bei Mama und Papa. Ich sagte ihr auch in dieser Situation: „Natürlich, mein Schatz, bei der Mama bist du sicher. Und du weißt ja, dass die Mama dir nichts als Überraschung geben würde, was gefährlich für dich ist.” Jasmin nickte daraufhin ganz energisch, wollte aber nicht auf das Buch zugehen. Ich fragte sie, ob es ihr lieber wäre, das neue Buch erst einmal in das Regal zurückzustellen. Jasmin nickte erleichtert. Ich sagte ihr noch: „Das ist nicht schlimm, wenn du dich noch vor dem neuen Buch fürchtest, schließlich macht es Töne und du musst es ja erst kennenlernen.”
Damit ließ ich es für diesen Tag bewenden und wir widmeten uns einem anderen „ungefährlichen” Buch. Ich hoffte in diesem Moment, dass alles, was wir miteinander kommuniziert hatten, auch wirklich bei Jasmin angekommen war, denn manchmal nickt sie in für sie nicht überschaubaren Situationen einfach und im späteren Verlauf merkt man, dass sie gar nicht wusste, warum es ging. Dieses Verhalten fiel und fällt mir noch heute auf, wenn es sich um für Jasmin kritische Momente handelt. In diesem speziellen Fall sollte ich allerdings noch am selben Tag die Bestätigung bekommen, dass Jasmin alles verstanden hatte. Als nämlich der Papa von der Arbeit nach Hause kam, führte Jasmin ihn erst einmal zu dem Bücherregal, in welches wir das singende Buch hineingestellt hatten. Der Papa bestaunte es natürlich gebührend und wir erklärten ihm, dass er das Buch nicht herausnehmen könne (das wollte er nämlich gerade tun), weil Jasmin es noch nicht kennengelernt hatte. Papa hielt sich daran und verschwand erst einmal im Bad. Als er dann wieder ins Zimmer kam, musste Jasmin ihm noch den Anschaltknopf des Buches zeigen. Ich erklärte dem Papa natürlich noch, dass nur Jasmin bestimme, wann dieser Knopf betätigt würde. Jasmin nickte ganz freudig. Sie hatte die Dinge unter Kontrolle und sogar Papa musste sich daran halten. Für diesen Tag war das Thema erst einmal beendet. Am darauf folgenden Wochenende setzten wir die Übung fort. Es war ein verregneter Nachmittag und wir hatten viel Zeit zum Spielen. Das Wasser rann in Strömen über die Fensterscheibe und trommelte laut auf das Fensterbrett. Die richtige Zeit also, um einen schönen Büchernachmittag zu machen. Hier möchte ich noch einfügen, dass Jasmin ihren geregelten Tagesablauf braucht, jedoch mittlerweile gelernt hat, dass wir nicht jeden Tag zur selben Zeit spazieren gehen können. Sie weiß inzwischen, dass auch drinnen spielen Spaß bringt. Daher müssen wir bei schlechtem Wetter nicht unterwegs sein, worüber ich sehr froh bin. Dieses Thema soll uns später noch ausführlicher beschäftigen.
Der Papa nahm also das Cinderella-Buch aus dem Regal und – Jasmin wurde unruhig und sagte: „Ab.” Ich meinte daraufhin in vorwurfsvollem Ton: „Papa, das ist doch Jasmins Buch, Jasmin entscheidet, wann es angeschaltet wird.” Jasmin pflichtete mir mit einem eifrigen Nicken bei und Papa musste sich rechtfertigen. Er sagte so etwas wie: „Ich schalte es doch gar nicht an, ich blättere ja nur die Seiten um, da kommen doch gar keine Töne heraus.” Das verstand Jasmin. Papa durfte das Buch behalten. So ganz schien sie allerdings nicht auf Papas Zusage zu vertrauen, denn sie machte es sich auf meinem Schoß gemütlich und drückte sich fest an mich. Mittlerweile hatte sie sich angewöhnt, mir auf die Schulter zu klopfen, wenn sie von mir beschützt werden wollte. Ich reagierte natürlich wunschgemäß, wies sie aber auch darauf hin, dass Papa doch immer hielte, was er verspräche, und Jasmin doch nicht absichtlich ärgern würde. Jasmin nickte, blieb aber sitzen. Papa saß also etwa einen Meter entfernt von uns auf dem Boden und schaute das Cinderella-Buch an – an sich schon ein sehr interessanter Anblick, kann ich nur sagen. Das schien auch Jasmin zu meinen, denn sie beugte sich immer weiter vor, um auch etwas vom Inhalt des Buches mitzubekommen. Die Neugier siegte dann doch. Wir wiesen noch etliche Male darauf hin, dass Jasmin bestimmen konnte, wann der Knopf für die Geräusche gedrückt würde, und dann durfte das Buch zu Jasmin auf den Schoß kommen. Als wir es durchgeschaut und auch vorgelesen hatten, nahm es der Papa wieder an sich. Ihm musste es schon die ganze Zeit in den Fingern gejuckt haben, das Buch endlich einmal zu aktivieren, das sah selbst ein Blinder. Ich fragte Jasmin also, ob der Papa es einmal anschalten dürfte. Mittlerweile hatte Jasmin anscheinend so viel Vertrauen zu dem Buch gefasst, dass sie nickte. Der Papa konnte also endlich loslegen. Jasmin kroch zwar bei den ersten Tönen fast in mich hinein, ließ sich aber durch ein überzeugendes ”Du brauchst doch keine Angst zu haben, die Mama passt doch auf dich auf” beruhigen. Im Laufe des Nachmittags näherte Jasmin sich dem Buch so weit an, dass sie sogar selbst die einzelnen Knöpfe drückte und Spaß daran fand. Für andere Kinder ein kleiner Schritt, aber für Jasmin eine große Leistung. Mittlerweile wird das Buch noch immer mit Respekt, ich möchte fast sagen mit Ehrfurcht behandelt und ich muss Jasmin manchmal darauf hinweisen, dass sie doch keine Angst mehr hat, da sie es ja nun kennt und schon selbst alle Knöpfe gedrückt hat. Dann ist alles wieder in Ordnung. Selbstverständlicherweise ist das Buch auf die leiseste Stufe eingestellt und hat einen angenehmen Klang. Es ist nun nicht so, dass Jasmin Geräusche generell ablehnt. Es kommt hierbei immer auf die Art derselben an. Natürliche Töne von Gitarre, Klavier oder auch eine Singstimme liebt Jasmin nämlich geradezu. In der Vergangenheit mochte sie gerne dasselbe Lied immer wieder vorgesungen gekommen. Auch ihre Therapeuten, egal in welchen Bereich, fanden nur Zugang zu ihr, wenn sie für sie sangen, mit Musikinstrumenten spielten oder experimentieren. Dazu möchte ich noch erwähnen, dass Jasmin nicht viel sprechen kann und deswegen Logotherapie und aufgrund ihrer tapsigen Bewegungen Physiotherapie erhält. Therapeuten, die diesem musikalischen Ansatz nicht nachkommen können oder wollen, haben es dementsprechend schwer und müssen sich einen anderen Ansatzpunkt suchen. Zu diesem Thema sei noch bemerkt, dass mit der Gewöhnung an ein bestimmtes Geräusch nicht alle Töne aus dieser Kategorie abgedeckt sind. Das wäre wahrscheinlich zu einfach. Wenn Jasmin sich an das Cinderella-Buch gewöhnt hat, bedeutet das nicht, dass sie nunmehr alle Bücher, welche Töne produzieren, in Ordnung findet. Nein, so läuft das bei unserem süßen Bündel nicht ab. Wenn Gewöhnung, dann an jedes Geräuschbuch gesondert. Sie können sich sicher vorstellen, dass Jasmin nicht viele solcher Bücher besitzt. Auch heute ist sie noch bei jedem neuen Spielzeug ängstlich, es könnte ja unerwartet Töne oder Laute von sich geben. Früher, als Jasmin noch ein Baby war, lehnte sie allerdings jegliches Spielzeug kategorisch ab und obige Prozedur musste für jeden Gegenstand gesondert durchgeführt werden. Als einzige Ausnahme lassen sich normale Bücher nennen, bei denen nach einer gewissen Zeit eine Gewöhnung eingetreten ist. Kein Einschaltknopf bedeutet: Buch ist in Ordnung. Bei anderen Spielsachen tastet Jasmin sich immer vorsichtig heran. Man darf sie dann auch auf keinen Fall überrumpeln. Wenn man das macht, lehnt Jasmin das Spielzeug total ab und es führt kein Weg mehr heran. Man kann es dann genauso gut weiterverschenken. Sie nimmt es einfach nicht mehr. Am liebsten spielt Jasmin sowieso mit Dingen, die einfach so im Raum herumstehen, oder mit Sachen, die Mama oder Papa gehören. Diese Schwierigkeiten sind allerdings zu bewältigen. Es ist oft nervenaufreibend, das gebe ich zu, doch das ist nicht das Gravierendste im Umgang mit Jasmin. Die für uns schwerwiegendste Auffälligkeit an Jasmin ist, dass wir mit unserer Kleinen keine Besuche bei Verwandten, Bekannten etc. unternehmen können. Dazu gibt es ein Erlebnis, das sich mir diesbezüglich ins Gedächtnis gebrannt hat.
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