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Auch Erwachsene können unter AD(H)S leiden.
von Dr. Martin Winkler, ADS-Spezialist, ADD-online
Aus: www.adhs.ch August 07
von Dr. Martin Winkler, ADS-Spezialist, ADD-online
Symptomatik im Erwachsenenalter
Unaufmerksamkeit mit und ohne Hyperaktivität
Als Leitsymptom im Erwachsenenalter imponiert häufig ein Gefühl bzw. eine auffällige Leistungsschwache, nicht alle Ziele zu erreichen, die man sich gesteckt hat.
Hierbei lassen sich als mögliche Ursachen zusammengefasst folgende Kernbereiche unterteilen:
Kognitive Auffälligkeiten
Probleme mit der Zeitstrukturierung und Selbstorganisation.
Fehlendes Zeitgefühl bzw. Problem zur Zeitstrukturierung: Leben nur im "Jetzt" oder "später" (also nie). Typisch sind Verspätungen, vergessene Termine für Treffen oder eine Hektik, Aufgaben in letzter Minute zu beenden.
Probleme, Vorhaben überhaupt anzufangen ("auf-die-lange-Bank-schieben").
Alltagsaufgaben (Steuererklärung, Haushalt, Behördengänge) werden nicht erledigt.
Übermässige Unordnung ("Krankheit der Stapel")
Übermässige Probleme, sich an Anweisungen / Regeln zu halten (z.B. Übertretungen im Strassenverkehr).
Desorganisation von Arbeitsabläufen besonders bei mehreren Aufgaben gleichzeitig.
Häufiger Arbeitsplatzwechsel / Kündigungen.
Gegebenenfalls "Überkompensation" durch extrem zwanghaft-perfektionistisches Verhalten.
Oder aber: Totaler Rückzug und Vermeidung (z.B. übermässiges Schlafbedürfnis bei Unfähigkeit zur eigenständigen Tagesstrukturierung).
Veränderte Daueraufmerksamkeitsspanne:
Konzentrations- und Leistungsfähigkeit sind besonders vom Interesse abhängig. Dabei kann einerseits eine fehlende Aufmerksamkeit, aber auch ein Hyperfokussieren auf eine Sache imponieren, so dass ein Versinken in eine Tätigkeit von besonderem Interesse besteht. Zumeist wird jedoch versucht, einen dieser beiden Extremzustände zu vermeiden. Hierbei fallen u.a. auf:
Inkonsistentes Arbeiten ("Könnte, wenn er nur wollte").
Unvollständiges Erledigen oder Vergessen von Aufgabenteilen, Abbrechen von Routineaufgaben ohne erkennbaren Anlass.
Fehlende Aufmerksamkeit / Tagträumerei bei geistiger Anstrengung oder in Gruppensituationen.
Betroffene Person scheint oft nicht zuzuhören, abwesend zu sein ("Borderline narcoleptic").
Verständnisschwierigkeiten für den Kontext, z.B. in der Schule oder bei Sitzungen.
Gelesenes bzw. der Gesamtinhalt wird nicht wirklich erfasst. Daraus resultierend: Leseunlust.
Störungen des Arbeitsgedächtnisses
Vergesslichkeit ("Alzheimer im frühen Stadium")
Betroffene Person erscheint mit Terminkalender, Notizbüchern, Zetteln, Karteikarten.
Flüchtigkeitsfehler bei leichten Aufgaben.
Verdrehen von Buchstaben, Telefonnummern.
Kann Erinnerungen nicht abrufen ("ich weiss es, kann es aber nicht sagen").
Ablenkbarkeit, vor allem in monotonen Situationen ("Habe den Faden verloren").
Hypersensitivität und Impulsivität
Hypersensitivität für verschiedene Sinnesqualitäten (Geruch, Berührung, Geschmack, Gehör, Tasten) bzw. emotionale Spannungen, dabei häufig intuitiv begabt, kreativ, hochintelligent.
Stimmungsschwankungen: Stimmungen und Leistungsfähigkeit sind stark von äusseren Bedingungen abhängig (enviormental dependency). Belebende Atmosphäre fördert, triste Bedingungen lähmen.
Überempfindlichkeit für emotionale Reaktionen / Temperamentausbrüche
Extremes Gefühlsleben ("roller coaster")
Geringe Stresstoleranz
Erhöhtes Anspannungsniveau (psychophysiologisches Arousal).
Verminderte Habituationsfähigkeit.
Gesteigerte vegetative Empfindlichkeit.
Bei Überforderung / Überreichung: "Nebelgefühl" / "Tunnelblick" bzw. ausgesprochen starkes Ruhebedürfnis (Hypersomnie, Rückzug, "Abschalten").
Neigung, sich chronisch Sorgen zu machen und Ruminationstendenz (Grübeleien).
Ständiges Unsicherheitsgefühl ("etwas ist nicht richtig").
Probleme, sich auf neue Situationen / Umgebungen einzustellen.
Impulsivität
Handeln ohne vorherige ausreichende Reflexion.
Verbale Entgleisungen / zynische Bemerkungen / Provokationen.
Verletzt sich leicht (Unfallneigung).
Tendenz zu aggressiven Impulsdurchbrüchen.
Impulskontrollstörungen z.B. beim Essen, Kaufrausch, Kleptomanie.
Suchtverhalten / hochgradige Stimulierungen ("Adrenalin-Kick")
Assoziation zu Suchterkrankungen (Alkohol, Cannabis, Kokain, Nikotin) im Sinne einer dysfunktionalen "Selbstmedikation" der ADHS.
Riskantes Verhalten (z.B. beim Autofahren, delinquentes Verhalten etc.)
Zwanghafte Verhaltensmuster.
"Klassische" Hyperaktivität
Ruhelosigkeit.
Bewegungsunruhe, Drang zu Laufen.
Betroffene Person kann nicht längere Zeit stillsitzen (Flugzeug, Dauerwelle, Zahnarzt, Esstisch, Krankenbett usw.).
Fingertrommeln, Spielen mit Stiften, Nesteln am Bart oder in den Haaren.
"WENDER-Zeichen": Beim Sitzen starkes rhythmisches Wippen mit den Füssen bzw. Beinen.
Unfähigkeit zur Entspannung
Ständige innere Getriebenheit ("steht unter Strom")
Starkes Unbehagen vor Ruhesituationen / Langeweile. Erzeugt oft kompensatorische "Flucht" in Aktivitäten, Arbeit.
Starker Rededrang / Abschweifen
Schwer zu strukturieren oder zu unterbrechen.
Weitere klinische Besonderheiten bei ADHS
"Paradoxe" Medikamenteneffekte
Aus den neurobiologischen Besonderheiten einer cerebralen Unteraktivität der hemmenden Strukturen resultieren auch scheinbar paradoxe Medikamentenwirkungen bei der ADHS. So werden durch sedierende Medikamente, die eigentlich einen beruhigenden Effekt haben sollen, z.T. erst Unruhe oder Ängste ausgelöst. Beispiele wären antriebsdämpfende Antidepressiva, Benzodiazepine (Valium etc.), und Neuroleptika. Hierbei können dosisabhängig eine verstärkte Unruhe, dissoziative Phänomene (Gefühllosigkeit, Lähmungen oder Fehlwahrnehmungen) oder Narkoseprobleme resultieren.
Exzessiver Konsum von Schokolade, Kaffee, Kola, Energydrinks, Nikotin
Aus den zuvor dargestellten neurobiologischen Besonderheiten wird deutlich, dass stimulierende Substanzen wie Schokolade, Coffein (enthalten auch in einigen Schmerztabletten!) zu einer Aktivierung der gestörten inhibitorischen Prozesse beitragen können. Dies kann einerseits zu einer "Unverträglichkeit" für diese Substanzen, andererseits aber bei vielen ADHS-Betroffenen zu einem sehr exzessivem Konsum führen, damit die Leistungsfähigkeit morgens oder z.B. vor Prüfungen überhaupt auf ein Minimum erhöht werden kann.
Schlafstörungen
Schlafstörungen (Insomnien bzw. Hypersomnien) gehören noch nicht zu den Diagnosekriterien der ADHS, sind jedoch in ihrer Form durchaus charakteristisch für dieses neurologische Krankheitsbild. Typischerweise fallen schon in der Kindheit Schlafstörungen (Einschlafstörungen, Schlafwandeln, Pavor nocturnus) auf. Im Erwachsenenalter geben die Patienten Einschlafstörungen, z.B. aufgrund eines "Gedankenspringens" an.
Dann wird häufig ein vorzeitiges Erwachen gegen 4 Uhr angegeben, wobei paradoxerweise danach eine ausgeprägte Morgenmüdigkeit (auch trotz ausreichender Schlafdauer) bestehen kann. Im EEG lassen sich dann Veränderungen im Übergang zu Schlafstadien mit vermehrter Delta- bzw. Theataaktivität besonders frontal nachweisen. Hierbei lassen sich diese Schlafstörungen auch gegenüber der Insomnie bei depressiven Störungen meist deutlich abgrenzen.
Andererseits fällt bei vielen ADHS-Patienten auch eine Hypersomnie von 10-12 Stunden auf. Dies besonders dann, wenn zuvor eine Überforderung aufgetreten ist, oder aber ein Anreiz (z.B. Arbeit) fehlt.
Die klinische Symptomatik der ADHS speziell bei Frauen
Die überwiegende Mehrzahl von Verlaufsuntersuchungen zur klinischen Symptomatik der ADHS im Erwachsenenalter beschränkte sich bisher auf die Nachbeobachtung von Jungen oder und Mädchen und ist auf geringe Fallzahlen begrenzt (Mannuzza, 1984). Bei Mädchen findet man besonders den sog. "unaufmerksamen Typus" der ADHS (Gaub, 1997). Schon formal gestaltet sich die Diagnose einer ADHS bei Mädchen derzeit jedoch noch ausgesprochen schwierig (Berry, 1985). Nach den geltenden Diagnosekriterien müssten hierzu klinische Symptome vor dem 7. Lebensjahr nachweisbar sein. Da jedoch aufgrund einer Oestrogenabhängigkeit des klinischen Erscheinungsbildes die Einschränkungen erst mit bzw. weit nach der Pubertät manifest werden können, werden die Symptome dann nicht mit der Diagnose ADHS in Verbindung gebracht (Fink, 1996).
Ablenkbarkeit, starke Tagträumereien, Impulsivität oder chronische dysphorische Stimmungen werden dann häufig allein als Symptome der Pubertät angesehen. Ein plötzlicher Leistungsverlust bzw. kognitive Einschränkungen eines bis dahin strebsamen und braven Mädchens bzw. ein radikale Änderungen im Verhalten (z.B. Drop-out in die Drogenszene) sollte immer auch an eine ADHS denken lassen. Als sehr charakteristisch gilt das vermehrte bzw. sehr heftige Auftreten von prämenstruellen Beschwerden im Sinne eines Prämenstruellen Syndroms (PMS) bzw. einer sog. Prämenstruellen dysphorischen Störung (PMDS). Dies sollte auch für die Diagnostik von im jugendlichen Alter auftretenden psychischen Störungen wie Angststörungen, Essstörungen oder Suchterkrankungen oder Impulskontrollstörungen gelten.
Dabei kann insbesondere auch die Abgrenzung hinsichtlich einer Bipolaren Störung, einer "agitierten" oder "atypischen" Depression oder einer Persönlichkeitsstörung schwierig sein. Häufig liegt dabei wahrscheinlich eine Komorbidität verschiedener Syndrome vor. Typisch wäre z.B. die Entwicklung von sozialen Ängsten bzw. Unsicherheiten durch die Grundstörung, die durch ein niedriges Selbstwertgefühl bzw. fehlende soziale Lernerfahrungen das Risiko für die spätere Entwicklung weiterer Störungen wie z.B. einer Panikstörung oder einer depressiven Störung erhöht.
Aus: www.adhs.ch August 07