Der ist der Glücklichste, der sich keine Gedanken über das Glück macht, meinte einst Seneca. Die Menschen sind verrückt nach Glück. Aber brauchen wir wirklich „Glück“ fürs Leben? Macht Glück gesund? Könnte es sein, dass Menschen unglücklich werden, nur weil sie glauben, glücklich sein zu müssen? Was ist Glück? Was bedeutet Glück für mich? Welches brauche ich? Beim genaueren Hinsehen zeigt sich, dass nicht etwa nur eines, sondern mehrere „Glücke“ im Spiel sind, die auseinander zu halten sinnvoll sein könnte.
1. Das Zufallsglück
Da ist zuallererst das Zufallsglück, das das ganze Leben hindurch Bedeutung hat: Menschen wünschen sich etwas, das ihnen unvermutet zufällt und günstig für sie ausfällt. Jemandem „Glück“ zu wünschen, ist immer mit einer solchen Hoffnung verbunden. „Da hast du aber nochmal Glück gehabt“, heißt soviel wie: Der Zufall war dir wohlgesonnen. Und dies gerade auch dann, wenn etwas schlecht oder sogar schlimm ausgegangen ist: Dass es nicht per Zufall noch schlimmer gekommen ist, war wirklich Glück, „Glück im Unglück“. Positiv soll es auch im negativsten Fall noch sein.
Schicksalhafte Fügungen
Offen ist die Frage und wird es wohl bleiben, ob diese glücklichen oder unglücklichen Zufälle „Sinn haben“, ob sie einer Vorherbestimmung oder Vorsehung folgen. Handelt es sich um eine „schicksalhafte“ Fügung? Aber wer oder was „schickt“ und fügt? Immerhin weisen die Zufälle nicht selten erstaunliche Regelmäßigkeiten auf, ganz so, als würden sie einem „Masterplan“ folgen, sowohl auf glücklicher wie auf unglücklicher Seite.
Dass ein, zwei Glücksfälle Eigendynamik gewinnen können und weitere anziehen; dass umgekehrt, wenn man kein Glück hat, „auch noch Pech dazu kommt“: Das lässt auf ein Aufschaukelungsgesetz schließen, dem die Zufälle folgen, und jedes Mal glaubt der Betroffene, dass es nun für immer so bleiben wird. Kaskaden von Zufällen zeichnen zuweilen Linien ins Leben, die von verblüffender Logik sind, entsprechen dabei mal dem, was ein Mensch sich selbst vorgestellt hat, mal stehen sie dem mit einiger Konsequenz entgegen.
Der Mensch kann sich öffnen oder verschließen für den Zufall einer Begegnung, einer Erfahrung, einer Information. Im Inneren seiner selbst wie im Äußeren seiner Lebensführung kann er das Schmetterlingsnetz bereithalten, in dem ein Zufall sich verfangen kann, oder die Wand errichten, an der jeder Zufall abprallt.
Dem Glück eine Chance geben
Eine forciert offene, eine offensive Haltung im Umgang mit dem Zufall bestünde zudem darin, das Glück zu kitzeln, ihm eine Chance zu geben: Wer auf den Zufall einer Begegnung, Erfahrung, Information hofft, tut gut daran, dies Anderen mitzuteilen; auch das Internet lässt sich dafür nutzen. Die Wahrscheinlichkeit, dass von irgendwoher etwas zufällt, ist dann jedenfalls deutlich größer, als wenn die Hoffnung im eigenen Inneren verschlossen bleibt.
Wer nie Lotto spielt, hat keine Aussichten auf einen Lottogewinn. Sollte aber wirklich ein ansehnlicher Gewinn ins Haus stehen, ist damit noch lange nicht gesagt, dass er auch gut bewältigt wird: Das Leben wird nicht automatisch schon besser gemeistert mit einem unverhofften Zufallsglück, das zwar die äußeren Bedingungen des Lebens verbessert, aber die innere Bereitschaft, am Leben zu arbeiten, eher verschlechtert. Das Zufallsglück macht also nicht unbedingt auch glücklich. Es kann sich im Laufe der Zeit sogar als Unglück erweisen, ein Unglück umgekehrt als Glück. Von noch größerer Bedeutung für den modernen Menschen ist freilich ein zweites Glück.
2. Das Wohlfühlglück
Suchen Menschen in moderner Zeit nach Glück, so verstehen sie darunter meist, dass es ihnen gut geht, dass sie gesund sind, sich wohl fühlen, Spaß haben, angenehme Erfahrungen machen, Lüste empfinden, Erfolg haben, kurz: all das erleben, was als „positiv“ gilt.
Menschen suchen ihr Glück vorzugsweise in der „guten Stimmung“, und wenn es dann doch zu einer Verstimmung kommt, müssen sie sich von dieser lästigen Störung alsbald wieder „befreien“.
Kaum eine philosophische Auffassung hat sich je dermaßen durchgesetzt wie die moderne Glücksformel. Die moderne Spaß- und Erlebnisgesellschaft wäre ohne Streben nach Glück in diesem Sinne gar nicht denkbar gewesen. Nicht dass es in irgendeiner Weise verwerflich sein könnte, Lüste zu empfinden und von Schmerzen frei zu sein. Das Problem ist nur: Diese Art von Glück hält nie lange vor. Es hält glückliche Augenblicke bereit, für die der Einzelne sich offen halten und die er auch selbst präparieren kann; Augenblicke, die sich suchen und finden lassen und die so schön sind, dass sie „verweilen“ sollen.
Glück ist messbar
Den jeweiligen Pegelstand dieses Glücks können Neurobiologen messen: Da geht es um Endorphine, sprachliche Kurzform für endogene Morphine, körpereigene Drogen also, die preiswert zu haben sind, aber ähnliche Probleme wie alle Drogen mit sich bringen: Zu häufiger Gebrauch schwächt die Wirkung ab, sodass die Dosis gesteigert werden muss; zu große Regelmäßigkeit befördert die Abhängigkeit.
Verschiedene „Glückshormone“ wie etwa Serotonin und Dopamin werden in den „Belohnungszentren“ des Gehirns ausgeschüttet und befördern die angeregte Kommunikation zwischen den Nervenzellen. Davon leiten Glücksforscher ihre Behauptung ab, Glück sei, wenn die Chemie im Gehirn stimme.
Wie es um die Maximierung der Lust bestellt ist, kann jeder im Grunde jeden Tag in Erfahrung bringen: Ein Essen schmeckt sehr gut? Nach der dritten Portion verkehrt sich das Wohlgefühl in ein Unwohlgefühl. Der Wein ist exzellent? Aber der Genuss wächst keineswegs mit der Zahl der Gläser. Das Gespräch ist spannend? Aber irgendwann macht sich dennoch Erschöpfung breit. Was eben noch so lustvoll erschien, verliert plötzlich an Interesse. Die Maximierung der Lust wirkt kontraproduktiv, denn auf sie folgt die Maximierung der Unlust. Robbie Williams, der Superstar der Popwelt, der immer „gut drauf“ war bei einer Tasse Espresso, brachte es, um das tolle Gefühl auf Dauer zu stellen, auf 36 Tassen pro Tag, bevor er professionelle Hilfe in Anspruch nehmen musste. Den permanenten Rausch gibt es nur um den Preis vollkommener Erschöpfung.
Glück als Dauerlust macht unglücklich
Sinnvoll ist daher nicht die Maximierung, das höchste Maß, sondern die Optimierung, um das beste Maß zu finden, das allein gesund ist, das aber für jeden anders ausfällt und nur auf dem Weg von Versuch und Irrtum in Erfahrung zu bringen ist. In keinem Fall kann es um eine anhaltende Lust gehen. Das Wohlfühlglück macht nicht in jedem Fall glücklich. Das Glück in einer Art von Dauerlust zu suchen, erscheint sogar als der sicherste Weg, unglücklich zu werden, denn die Lust dauert partout nicht.
Was ist mit den Momenten „danach“, mit den Zeiten „dazwischen“? Moderne Menschen sind nicht darauf vorbereitet, dass es diese „Auszeiten“ gibt, diese Flauten; sie tun sich schwer mit den tristen, grauen, alltäglichen Zeiten, in denen die Lust sich erst wieder erholen muss. Bei allen Anderen scheint das Leben ein einziger Brüller zu sein, insbesondere die Schönen, Reichen, Berühmten scheinen das permanente Wohlgefühl gepachtet zu haben, nur bei einem selbst gelingt das nicht.
In Wahrheit entwickeln viele eine Meisterschaft darin, andere Zeiten vor fremden Augen zu verbergen, so gut es nur geht. Anstatt sie als sinnvollen Bestandteil des Lebens zu akzeptieren, das sich regeneriert, wird versucht, so rasch wie möglich neue Reize, neue Anlässe zur Lust aufzuspüren, die jeweilige Dosis zu steigern, sogar noch den Schmerz zu suchen und ihn sich vielleicht selbst zuzufügen, wenn das allein noch „einen Kick“, also Endorphine verspricht.
Ein Problem des Wohlfühlglücks ist die allzu große Erwartungshaltung: Je „positiver“ die Erwartung an das Leben, desto schwieriger wird es, mit einer „negativen“ Realität leben zu können. Und ein schier unlösbares Problem ist die Erwartung, dass sich etwas Schönes genau so, also identisch wiederholen lasse.
Minimierung von Schmerz
Das andere Problem des Wohlfühlglücks ist die „Minimierung von Schmerz“, die auf den Versuch zu dessen Eliminierung hinausläuft: Schmerzen sollen gar nicht erst vorkommen, sie sollen verschwinden aus dem menschlichen Leben. Sie ausschalten zu wollen, kann jedoch nicht nur zum Verlust der Kontrasterfahrung führen, die die Lust erst fühlbar macht, sondern zum völligen Verlust der Orientierung im Leben.
Schmerzen sind der Stachel, der immer aufs Neue zum Nachdenken über das gesamte Leben nötigt; Schmerzen zwingen die Sorge herbei, die ein Selbst wieder auf den Weg zu bringen vermag. Das leisten leider nicht die Lüste, das leistet am ehesten der „Leidensdruck“.
Dass das Leben Höhen und Tiefen kennt, dass auf jede Party ein Chill-out folgt, weiß auch der moderne Mensch, aber in seinen Augen kommt eigentlich nur den Höhen ein Recht auf Existenz zu, die Tiefen haben es verwirkt, ihnen droht die Höchststrafe der Moderne, die „Abschaffung“ und „Entsorgung“. Lassen Ängste, Traurigkeit, Depressionen und andere Anlässe für Tiefen sich nicht verdrängen, so ist nach Auffassung des modernen Menschen alles dafür zu tun, wieder „aus dem Tief herauszukommen“ – am besten, da es eilt, mit Hilfe rasch wirkender Medikamente.
Eine Ursache von Krankheit
Menschen können krank werden nicht nur aufgrund innerer und äußerer Ursachen, sondern auch aufgrund von Begriffen, die einen so hohen Maßstab des Lebens festlegen, dass das Leben daran nur noch scheitern kann. Der moderne Begriff von Glück ist ein solcher Maßstab, der Menschen systematisch ins Unglück treibt. Was für ein Glück, dass es noch andere Auffassungen vom Glück gibt!
3. Das Glück der Fülle
Glück geht nicht darin auf, nur eine Seite des Lebens, nämlich die des Angenehmen, Lustvollen und „Positiven“ anzuerkennen und allein zu betonen. Das größere Glück, das Glück der Fülle, umfasst immer auch die andere Seite, das Unangenehme, Schmerzliche und „Negative“, mit dem zurechtzukommen ist. Niemand sucht dieses Andere, aber auszuschließen ist es nicht. Im besten Fall ist es zu mäßigen, und die beste Voraussetzung dafür ist, das Andere des Lebens in seinem Recht auf Existenz grundsätzlich anzuerkennen.
Ist es nicht die Polarität, die Gegensätzlichkeit und Widersprüchlichkeit, die sich in allen Dingen und Erfahrungen zeigt? Das moderne Welt- und Menschenbild ging davon aus, dass alles „positiv“ sein kann, aber es ist nun mal so, dass es „negative“ Dinge gibt, die nicht verschwinden, unabhängig davon, wie viele Schönheitsoperationen unternommen, Medikamente erfunden, politische Maßnahmen ergriffen werden.
Balance in der Polarität des Lebens finden
Hartnäckig fordert das Leben seine Polarität ein, etwa beim modernen Versuch zur Ausschaltung von Lebensrisiken, mit der Folge, dass Menschen willentlich nach riskanten Unternehmungen („Abenteuerurlaub“) suchen, da ein Grundmaß an Risiko offenkundig nicht unterschritten werden kann. Sodass der Einzelne sich fragen könnte: Ist es mir möglich, die Polarität des Lebens zu akzeptieren, nicht in jeder ihrer Erscheinungsformen, aber in ihrer Grundstruktur?
Kann ich einverstanden sein mit dem gesamten Leben? Wie lebe ich mit dem Negativen an mir selbst und in meinem Leben? Erscheint das Leben in all seiner Polarität dennoch von Grund auf schön und bejahenswert? Dann kann ich mich eingebettet wissen in einen größeren Zusammenhang, in dem das Eine wie das Andere Platz hat. Mit einer Dankbarkeit gegenüber dem Leben und einer Freude, die nicht darauf beruht, nur die „positive“ Seite des Lebens wahrhaben zu wollen: Eine gesunde Lebenshaltung.
Das erfüllte Leben ist dann gleichsam das Atmen zwischen den Polen des Positiven und Negativen: Mit dem, was gut tut, neuen Atem zu schöpfen, gerade in einer problematischen Zeit, in der das Leben eng wird – und auf einer Höhe des Lebens darauf vorbereitet zu sein, dass es noch andere Zeiten geben wird. Die gesamte Weite der Erfahrungen zwischen Gegensätzen vermittelt erst den Eindruck, wirklich zu leben und das Leben voll und ganz zu spüren.
Dies ist das eigentliche Glück
Das Glück der Fülle macht glücklich, es ist das eigentlich philosophische Glück, umfassender und dauerhafter als alles Zufallsglück und Wohlfühlglück, nicht abhängig von günstigen oder ungünstigen Zufällen, von den momentanen Schwankungen zwischen Wohlgefühl und Unwohlsein, vielmehr die immer aufs Neue zu findende Balance in aller Polarität des Lebens, nicht unbedingt im jeweiligen Augenblick, sondern durch das gesamte Leben hindurch: Nicht nur Gelingen, auch Misslingen; nicht nur Erfolg, auch Misserfolg; nicht nur Lust, auch Schmerz; nicht nur Gesundheit, auch Krankheit; nicht nur Fröhlichsein, auch Traurigsein; nicht nur Zufriedensein, auch Unzufriedensein. Nicht nur erfüllte, sondern auch leere Tage, denn hundert Tage, die als leer und langweilig empfunden werden, sind vollkommen gerechtfertigt für einen einzigen der überbordenden Fülle.
Den entscheidenden Schritt zu diesem Glück macht ein Mensch mit der Festlegung seiner Haltung selbst. Dann kann er mit dem Leben mitfließen. Das Selbst überlässt sich ganz und gar einer Sache, einer Situation, einem anderen Menschen, gibt sich in Passivität oder Aktivität selbstvergessen dem Leben hin, vollkommen erfüllt von den reichen inneren Ressourcen des Fühlens und Denkens, die dabei frei werden.
Keines der genannten „Glücke“ ist verzichtbar, das dritte Glück aber, das einzige, das dauerhaft sein kann, gilt es in modernen, vom Angenehmen verwöhnten Zeiten erst wieder zu entdecken. Zufallsglück und Wohlfühlglück beruhen auf vereinzelten Erfahrungen, kleinen und größeren Episoden, sodass von einem episodischen Glück die Rede sein kann, das zufällig geschieht und sich gelegentlich zeigt.
Wer von diesem Glück etwas Spektakuläres erwartet, wird wohl enttäuscht sein: Es ist nichts Besonderes. Schwer zu erreichen ist es vor allem dadurch, dass immerzu nach dem Besonderen und Spektakulären gesucht wird. Nicht immer ist das zugehörige umfassende Bewusstsein im jeweiligen Moment präsent, daher ist das Glück der Fülle zuweilen erst in der Erinnerung erfahrbar: Mit dem Blick aus der Distanz, für den sich das Leben zum Zusammenhang fügt, mit all den lichten Stellen und Schattierungen, die den Reichtum eines erfüllten Lebens zwischen Geburt und Tod ausmachen.
Heitere Gelassenheit als Schlüssel
Die Heiterkeit ist eine geistige Haltung, die der Fröhlichkeit ebenso viel Bedeutung zumisst wie der Traurigkeit. Die Gelassenheit ermöglicht das Gewährenlassen auch des Abgründigen und Widersprüchlichen, der Angst im Kontrast zum Freisein von ihr, des Schmerzes im Kontrast zur Lust, des Leids im Kontrast zur Freude, des Todes im Kontrast zum Leben. Sich der grundlegenden Tragik von Leben und Welt nicht zu entziehen, darin jedoch auch nicht unterzugehen: So entsteht die Heiterkeit, die mit der Gelassenheit zur „heiteren Gelassenheit“ verschmilzt.
Heitere Gelassenheit ist das Bewusstsein davon, dass in allem, was ist, auch noch etwas anderes möglich ist; dass Höhen und Tiefen sich abwechseln wie Tag und Nacht, wie Ein- und Ausatmen; dass dies der Takt des Lebens ist, das aus der Polarität in allen Dingen seine Spannung bezieht. So kann es zum symmetrischen Leben kommen, dessen Ausdruck Harmonie sein mag, jedoch eine, die voller Spannung ist, bis hin zu einem Glück, das unvereinbare Gegensätze in sich zusammenspannt. Es schließt auch die Kontrasterfahrung der Verzweiflung nicht aus, durch die das Leben immer wieder hindurch muss. Aber es verhindert die verzweifelte Verzweiflung, die auf Dauer jeden Halt im Leben unterminiert. Dieses Glück umfasst sogar das Unglücklichsein.
4. Das Glück des Unglücklichseins
Das ist die Paradoxie des Glücks der Fülle: Dass ein Glücklichsein möglich ist, bei dem das Unglücklichsein nicht ausgeschlossen werden muss, sondern mit einbezogen werden kann. Die am meisten verbreitete Form des Unglücklichseins ist ein Traurigsein namens Melancholie: Nicht nur als situatives, spezifisches Traurigsein, das mit einem Schmerz verbunden ist, der sich grundsätzlich trösten lässt. Sondern auch als lang anhaltendes, unspezifisches Traurigsein, das mit einem „Weltschmerz“ einhergeht, der untröstlich bleibt.
Dieses Traurigsein, das „dem Leben“ und „der Welt“ gilt, ist Melancholie, ein Zustand, in dem das Glücklichsein vielleicht für wünschbar, aber nicht wirklich für möglich erscheint. Melancholie ist die Seinsweise einer Seele, die immerzu schmerzt und sich ängstigt, ohne dass dies in irgendeiner Weise als „pathologisch“ gelten könnte. Sie wird begleitet und möglicherweise auch angeleitet von einem höchst reflektierten Bewusstsein, das um die Ungewissheit all dessen weiß, was den Eindruck von Gewissheit macht, und die Fragwürdigkeit aller Dinge kennt, deren mögliche Grundlosigkeit von Grund auf gar nicht bestritten werden kann.
Melancholie bewahrt in sich eine Ahnung davon, wie brüchig alles ist, was Menschen schaffen, wie nichtig die menschliche Existenz selbst sein kann, und dass ihr der Boden jederzeit unter den Füßen weggezogen werden kann. Ur-Trauer empfindet das melancholische Selbst über die Entfremdung des Menschen von einem zeitlosen Ursprung, über die unaufhebbare Kluft zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit, über das unmögliche, allenfalls zeitweilige Einssein mit Anderen in der Welt. Es ist sich der Zweifelhaftigkeit der Zeit, der Sinnlosigkeit allen Tuns, der eigentlichen Bedeutungslosigkeit menschlicher Existenz bewusst. Zu seinem Glück der Fülle gehört das Bewusstsein der Abgründigkeit, ansonsten sieht es sich in der Gefahr bloßer Oberflächlichkeit. Gerade dieses tragische Bewusstsein entspricht dem Leben womöglich mehr als jede törichte Leugnung von Tragik.
Trennung zwischen Melancholie und Depression
Handelt es sich dabei um eine Depression? Vielleicht um eine „reaktive Depression“ als Folge akuter oder chronischer Belastungssituationen, oder um eine „endogene Depression“, die schicksalhaft aus dem Biologischen herrührt und dem Krankheitswert einer Psychose verwandt ist; oder gar um eine „noogene Depression“, die aus einem vermeintlich falschen, negativen Denken hervorgeht und gleichsam als „Sinnlosigkeitsleiden“ zu betrachten ist?
Eine Krankheit der „Niedergedrücktheit“, der Depression, gibt es sehr wohl; um ihre Heilung bemühen sich Therapeuten durch psychosoziale Betreung und Ärzte durch klinische Behandlung etwa der Gefäßschädigung, die eine Folge von (oder ein Grund für?) Depression ist und das Herzinfarktrisiko signifikant erhöht.
Aber nicht jede Melancholie ist eine Depression, beide sind klar voneinander zu unterscheiden: Während eine Depression gekennzeichnet ist von erstarrten Gefühlen, vom Unwillen und von wirklicher Unfähigkeit zur Reflexion, ist die gefühlsbewegte und reflektierte Melancholie demgegenüber von übergroßer Sensibilität geprägt, von nicht mehr endender Besinnung und Selbstbesinnung.
Der melancholische Mensch ist imstande, reflexive Distanz zu allem zu halten und all die Selbstverständlichkeiten zu verlieren, in denen Menschen gewöhnlich leben, ohne es recht zu bemerken. Er kann sich selbst sogar fremd werden und den Zusammenbruch der eigenen „Identität“ erleben: Menschsein in seiner ganzen abgründigen Fülle. Es gibt an dieser „Krankheit“ nichts zu heilen, eher ist diese Dimension des Menschseins zu pflegen. Die Melancholie kann geradezu als eine Lebensphilosophie erscheinen, die das Traurigsein nicht ausschließt, sondern hervorhebt, und es müsste möglich sein, gerade dies zur Grundlage eines schönen und bejahenswerten Lebens zu machen.
Auch das Unglücklichsein wird somit zu einem Bestandteil des Glücks und bestärkt dessen Nachhaltigkeit. Wenn das Glück all diese Farben annehmen kann, dann muss einem nicht mehr angst und bange sein bei der Suche so vieler Menschen nach Glück. Glück macht glücklich, wenn man es mit allen Varianten versucht.
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