Weiß ich doch Ory
Anbei eine kleine Geschichte:
In meinen Nachtschichten saß immer ein Mann bei mir und erzählte. Er konnte nicht schlafen, war vom Arzt als dement eingestuft. Aber war noch ganz gut unterwegs. Also wenn ich Dienst hatte, war er da. Es gab noch eine Frau, die auch nicht schlafen konnte und immer schon wartete, das ich nachts da war, dann schlief sie extra tagsüber, um nachts wach zu sein. Sie war ebenfalls vom Arzt als dement eingestuft. Nachts wuselte sie also in der Küche herum, was mir unangenehm war, weil es meine Aufgabe gewesen wäre, die Sachen da zu machen aber sie wollte es halt so gern machen. Freute sich immer so endlich mal etwas zu tun zu haben was halbwegs sinnvoll war.
Sie kochte Kaffee für uns drei und dann plauderten wir, während ich Medikamente stellte oder so.
Das waren die besten Dienste meiner ganzen Berufszeit. Jedenfalls gab es da eine gewisse Vertraulichkeit unter uns, eigentlich war das Ganze (wie fast alles andere, was angenehm hätte sein können) verboten (Dienstvorschriften, Hygienevorschriften bla bla). Aber nachts ist ja eh kein Oberboß da. Also erfuhr ich so von den beiden viel über ihr Leben und wir feierten sogar unsere Geburtstage usw. auf diese Weise.
Der Mann war mir von Anfang an sehr sympatisch, wir mochten uns einfach, da stimmte die Chemie sozusagen. Er hat viel erlebt. Eines Tages kam er aus dem Krankenhaus zurück, was er hatte, weiß ich nicht mehr, er sah angeschlagen aus, fast so als würde es bald zu Ende gehen. In dieser Nacht saß er allein bei mir, im Rollstuhl, denn Gehen konnte er nicht mehr, aber er wollte nicht schlafen. Er wirkte überhaupt nicht verwirrt. Er wirkte verzweifelt, er war traurig. Er erzählte mir das er früher eigentlich Funker in der Armee war, dann aber zur SS ging und im Sonderkommando ins Warschauer Ghetto kam, welches zu dieser Zeit "geräumt" wurde. Er weinte bei der Erinnerung daran und meinte er käme in die Hölle, und zwar bald.
Die nächsten Nächte war er wieder wie sonst, starb aber nicht lange danach. Niemand sonst erfuhr von dieser Nacht.
Ich habe mich gefragt ob die "Demenz" für ihn nicht eigentlich auch willkommen war. Viele Demente leben ja sozusagen wieder in ihrer Jugend. Er auch, aber eben vor dem Krieg.
Demenz also als Verdrängungsmechanismus?
Oder andersherum: Demenz als Folge von Angst vor der Zukunft?
Ich glaube das Perspektivlosigkeit den Geist schwächt bis vollkommen erledigt.
Was meint ihr?
LGB