Lieber Weiermann,
ich habe Deinen Beitrag mit Interesse gelesen und ich spüre sehr viel Schmerz und Wut, die Du in Deiner Kindheit erlebt hast. Du bist damit nicht allein.
Warum habe ich aber den Eindruck, Du kommst über die Wut nicht hinaus? Vielleicht irre ich mich, aber bei mir kommt es so an. Betrachte bitte meine Antwort nicht als Belehrung, auch wenn sie z.T. so klingen mag. Ich habe auch manchmal so meine Schwierigkeiten, etwas gut auszudrücken. Es sind einfach meine Gedanken dazu.
Dass meine Erzieher die Wahrheit der Realität ihrer eigenen Kindheit verleugnen, sich nicht damit beschäftigen wollen, lieber alles vergessen und nach vorne schauen, ist ihre Sache, ihre Entscheidung. Das können sie tun und sie nehmen dafür ja auch den Preis von vielen Erkrankungen in Kauf!
Hast Du Mitgefühl für sie übrig?
Ich empfand es sogar als eine Bösartigkeit, mir zu empfehlen, ich solle irgendwelche Gesundheitstips bezüglich Ernährung beachten, dann bekäme ich meine Bauchschmerzen schon in den Griff!
Dort nimmst Du die Haltung des bedürftigen Kindes ein. Das ist nicht schlimm. Denn Du warst ein bedürftiges Kind, das nicht das bekommen hat, was es brauchte!
Bleibe aber dabei nicht stehen. Sonst kann es passieren, dass Du die Haltung des Kindes, etwas haben zu wollen, egal wie, nicht verlassen kannst. Erst wenn Du Dir darüber bewusst wirst, dass es zwar eine überaus berechtigte Forderungs- und Anspruchshaltung eines Kindes ist, Du aber den Mangel, den Du erlitten hast, nicht mehr rückgängig machen kannst, kannst Du auch Mitgefühl entwickelt, denn deinen Erziehern geht/ging es ebenso. Das sie andere, für Dich nicht akzeptable Schlüsse daraus gezogen haben, ist eine andere Sache. Die Tatsache, dass auch sie Ergebnisse von Mangel sind, den sie leider weitergaben, verdient Mitgefühl.
Denn auch die meisten Deiner Mitmenschen teilen mit Dir dieses Schicksal. Ohne zu erkennen, dass auch sie mit ihren Handlungen und (Sucht-) Haltungen und Mustern das Ergebnis ihrer frühkindlichen Prägungen sind, findest Du keinen Abstand.
Wenn Du zu Dir und Deinem Schicksal keinen Abstand durch Verarbeiten und auch Verzeihen findest (das heißt nicht Verdrängen!), begegnet Dir die Kränkung Deiner Kindheit immer wieder, zu ziehst sie an, Du wiederholst sie, wenn nicht im Kontakt zu Deiner erwachsenen Mitwelt, so im Kontakt zu eigenen Kindern.
Sie wollten mich damit davon abhalten, der Wahrheit der Realität meiner Kindheit in die Augen zu schauen! Denn damit ist automatisch auch die Schonzeit für sie vorbei! Und vor allem: die Ursache der meisten (vielleicht aller!?) Erkrankungen liegt in der Kindheit, weil in jenen Jahren der junge Mensch gezwungen war, seine wahren Gefühle und Worte zu verdrängen! Und das hat unser Körper, unser Gehirn nicht vergessen! Nichts davon hat er vergessen, was ihm damals geschah! Und mit körperlichen und seelischen Symptomen will er uns darauf aufmerksam machen, denn er will wieder heil werden!
Nein, Verdrängen hilft in der Tat sicher nicht. Warum nimmst Du es so persönlich? Sie wollen Dich abhalten? Dich kann niemand mehr abhalten, außer Du selbst. Du bist Deinen Erziehern nicht mehr ausgeliefert, Du musst nicht mehr mit ihnen zusammenleben. Du musst sie nicht einmal lieben. Du brauchst sie nicht lieben, aber sie verdienen eventuell Dein Mitgefühl.
Wenn Du das Gefühl hast, Du wirst abgehalten, dann bist Du es meist selber, der sich abhält. Du bist ein eigener Mensch, der selber entscheidet, wie er sein Leben gestalten will. Solange Du Dich aber abhängig fühlst von der (nachträglichen, und nicht erfüllbaren) Zuwendung und dem Verständnis Deiner Erzieher, bist Du nicht frei, Dein Leben selbst in die Hand zu nehmen.
Da wir alle als Menschen aber voneinander abhängen - wir sind nun einmal soziale Wesen - können wir nur in einen vertrauensvollen Kontakt mit dem Leben treten, wenn wir uns vom (persönlichen) Vorwurf befreien können.
Wie gesagt, ich meine damit weder verdrängen, noch im Nachhinein Schönreden. Das bringt beides nichts. Ich meine das Erkennen, dass wir letztendlich alle Ergebnis des Mangels sind, der aus der Kultur geboren wurde. In dem Maße, wie der technische Fortschritt einerseits und die entsetzlichen Kriege andererseits uns von unserem Ursprung entfernen - erleiden wir Mangel in der Beziehung. Unsere emotionale Entwicklung hinkt hinterher. Sie erfuhr und erfährt keine Befriedigung. Daher können wir nicht genug bekommen an Anerkennung, Bedeutung von aussen, Bestätigung durch unsere Mitmenschen, sind oder werden unersättlich in Ersatzbefriedigungen und Süchten.
Und da kommen sie und schicken mir ein Buch über Brottrunk! Und dies, nachdem ich ihnen zwei überaus deutliche Briefe geschrieben hatte mit Bezug auf die Geschehnisse in der Kindheit!
Es gibt Menschen, die können offenbar ihre Liebe nicht anders zeigen. Es ist eine hilflose Liebe.
Ich denke, man muss in dieser Sache kompromisslos sein! Man muss die Perspektive des kleinen Kindes, das man damals war, einnehmen und dann wird deutlich, was man z.B. von irgendwelchen Ernährungstips zu halten hat und was sie im Grunde bedeuten: nämlich eine erneute Verletzung, eine erneute Nichtbeachtung, ein erneutes völliges Desinteresse, eine erneute Ohrfeige!
Ich habe das in meiner Kindheit oft genug erlebt! Damals musste ich gezwungenermaßen Rücksicht auf sie nehmen, musste meine Gefühle und Worte verdrängen, ich musste ja weiter mit ihnen leben..., aber heute nicht mehr! Wie schon gesagt, die Schonzeit ist vorüber!
Wir suchen einen Schuldigen, aber es gibt keinen. Es ist nur so, dass dieser Mangel von einer Generation zur anderen weitergegeben wird. In dem Maße, wo wir persönliche Sündenböcke suchen, nehmen wir alles, was uns von unseren Mitmenschen oder alles was wir als negative Ereignisse in unserem Leben erfahren, persönlich. Wir werden wieder und wieder gekränkt. Und suchen immer weiter nach dem Urheber der Kränkung.
Das Glück und der Lebenssinn ist anscheinend aber so nicht zu finden. Ein Teil von Dir benötigt den Abstand, ein anderer darf seine Trauer und Wut über den Mangel Deiner Kindheit ausdrücken. Wenn Du aber den Teil nicht entwickelst, der aus dem Abstand Mitgefühl für Deine Schicksalsgenossen empfinden kann, bleibst Du in der Wut und Trauer ewig stecken und suchst immer weiter nach Befriedigung.
Nun bin ich auf dem Weg zu mir selbst. Es ist kein einfacher Weg, denn auf ihm begegne ich allen erlittenen Peinigungen meiner Kindheit, muss diese noch einmal nachfühlen und artikulieren, denn nur so komme ich mir stetig etwas näher und kann mein EIGENES Leben doch noch finden und in der Folge stellt sich dann auch die Frage nach dem Sinn nicht mehr, denn ich werde dann wissen, was ich tun muss, tun kann, tun sollte.
Und ja, ich denke auch, dass das Malen auf diesem Weg eine Hilfe sein kann, besonders eben diese spezielle Art von malen nach Arno Stern.
Siehst Du das Ausdrucksmalen als eine Möglichkeit, zu verarbeiten und Deinen verdrängten Gefühlen Leben zu geben - ist das heilsam, eine Aktion, die Du als Gestalter Deines eigenen Geschickes beobachten kannst. Erwartest Du dadurch Bestätigung, Verstandenwerden und Liebe von anderen - ist es, so glaube ich, ein Trugschluss.
P.S.
Arno Stern ist der Vater von Andre Stern, der nie in die Schule ging. Kürzlich haben sie zusammen ein Buch veröffentlicht mit dem Titel: "Mein Vater, mein Freund - Das Geheimnis glücklicher Söhne".
Vielleicht irre ich mich. Aber wenn dieses Malen Dir im Nachhinein zu dem Gefühl, ebenfalls ein “glücklicher Sohn” zu sein, verhilft, freue ich mich für Dich.
Es wäre schön, wenn Du etwas über Dein Erleben mit dem Malen berichten könntest.
Ich wünsche Dir einen guten Weg zu Deiner Befreiung von Schmerz und Abhängigkeit. Ich selber befinde mich auch in diesem Prozess, auf der Suche nach Glück und innerem Frieden.
Lieben Gruß
LieberTee