Hallo alle
Wir unterhalten uns hier um den Sinn des Lebens im Alter. Bevor wir uns dem Alter zuwenden, müssen wir wohl oder übel überhaupt mal hinterfragen, was man mit "Sinn des Lebens" grundsätzlich meint. Nachdem ich den Link von Kayen ganz durchgelesen habe, hat sich das bewahrheitet, was ich eigentlich schon wusste. Ich versuche mal, es so kurz wie möglich zu erklären:
Naturvölker kennen meistens diese Frage gar nicht. Sie leben, jagen oder pflanzen, ernten und sorgen somit für ihren Unterhalt und den Unterhalt der Familie. Dass sie sich vermehren, das geschieht automatisch und man muss nicht darüber nachdenken. Auch über den Nahrungserwerb muss man nicht nachdenken: Es ist selbstverständlich, dass man das tut.
Und nun kommt die Überraschung: Diese Menschen sind eigentlich recht zufrieden, solange es genug zu essen gibt (um das mal extrem verkürzt und vereinfacht zu sagen).
Aber es gibt auch hochentwickelte Völker, die sich die Sinnfrage nicht stellen. Ich hatte einmal eine Nachbarin, die war Chinesin und wir unterhielten uns oft über alle möglichen philosophischen Fragen. Da erfuhr ich, dass sie niemals über einen Sinn des Lebens nachgedacht hatte und sie auch niemand aus ihrem chinesesichen Bekanntenkreis kannte, der sich darüber Gedanken machte.
Es erscheint mir deshalb so, dass die Sinnfrage besonders in der westlichen Welt auftaucht.
Und nun komme ich auf das zurück, was ich vor einigen Tagen schon mal sagte und deshalb von Einigen angegriffen wurde:
Die Sinnfrage taucht erst dann auf, wenn wir uns besonders wichtig nehmen. Um wiederum Missverständnissen vorzugreifen, sage ich es nochmals, was ich auch schon vor Tagen gesagt habe: Dies hat nichts damit zu tun, dass wir kein Selbstwertgefühl haben. Ich betone also: Das BESONDERE Wichtignehmen ist es, das uns westliche Menschen auszeichnet.
Der Indio im Urwald ist zwar auch wichtig, denn wenn er keine Nahrung für sich und seine Familie besorgen kann, dann leiden sie oder gehen zugrunde. Aber diese natürliche Wichtigkeit ist für den Indio keine besondere Sache, sondern eine Selbstverständlichkeit. Also nimmt er sich nicht wichtig. Wenn man etwas tut, das selbstveständlich ist und was jeder Mensch tut, dann nimmt man sich nicht besonders wichtig.
Wir aber im Westen meinen wir, dass wir etwas tun müssen, was besonders wichtig ist. Und wenn wir das nicht können, dann verlagern wir unsere Wichtigkeit in das Erreichen eines ewigen Lebens. Religionen haben dafür viele Regeln und Verhaltensweisen entwickelt, um das zu erreichen. Falls man diesen Regeln folgt, kann das ein Glücksgefühl und auch Hoffnung wecken und somit einen gewissen Sinn machen. Dabei wird jedoch übersehen, dass ausgerechnet die selbe Religion uns vorsagt, dass wir Menschen besonders wichtig sind, dass wir sogar die Krone der Schöpfung sind und auch das Recht haben, über die Welt, die Tiere und Pflanzen zu herrschen. Und auch, dass wir Kinder Gottes sind und das ist ja schon etwas ganz Besonderes. Die Religion sorgt also dafür, dass wir uns so sehr wichtig nehmen. Und dann kommt mit dem Trost des ewigen Lebens, wir feststellen, dass wir vielleicht gar nicht soooo wichtig sind.
Es kann natürlich auch sein, dass nicht nur die christliche Religion, sondern schon die Philosophien z.B. in Rom und Griechenland an die besondere Wichtigkeit des Menschen glaubte. Allerdings hat sich Sokrates selbst überhaupt nicht wichtig genommen. Aber er war wohl auch eine Ausnahme.
Wenn man in unserer Gesellschaft jedoch dem Leben keinen Sinn in der genannten Weise geben kann oder ihn nicht erkennen kann, dann kommt das vor, was in dem Aufsatz in Wikipedia gesagt wird: "Wenn kein Sinn (mehr) im Leben gefunden bzw. gesehen werden kann, ist die Verzweiflung, so bei Kierkegaard, eine mögliche Reaktion."
Warum führt das nun bei uns zur Verzweiflung, wenn das bei dem Indio nicht der Fall ist?
Die Antwort ist ganz einfach: Weil dieses Denkschema in unserer Gesellschaft anerzogen ist. Wir sind so geprägt, dass wir wichtig sind. Ja, dass wir wichtig sein sollen. Es ist somit sogar ein Zwang. Und wir westlichen Menschen leider sehr oft an Zwängen. Psychisch Kranke beweisen dies. Aus all dem ergibt sich, dass Wettbewerb ist wichtig für uns. Gewinnen ist wichtig für uns. Vorankommen (wohin eigentlich?) ist wichtig für uns ist. Besser sein als andere - in welcher Weise auch immer - ist wichtig für uns. So werden wir erzogen, so werden wir geprägt (kondizioniert)
Wenn wir jedoch zu der Einstellung und der Einsicht kommen können, dass dies alles nur Prägungen sind und Werte, die uns die Gesellschaft eingeimpft hat, dann werden wir ohne einen Sinn des Lebens keineswegs in Verzweiflung geraten. Ganz im Gegenteil: Wenn wir uns nicht mehr wichtig vorkommen, wenn wir ein einfaches Leben führen können und auch wollen, wenn wir uns an kleinen Dingen erfreuen können, was weder mit besserem Können noch mit hoher Intelligenz etwas zu tun hat, dann können wir sogar sehr glücklich sein, auch ohne dem Leben einen Sinn zu geben. Besser gesagt: GEBEN ZU MÜSSEN. Denn wir sind ja fast schon gezwungen durch die Vorgaben unserer Gesellschaft, dass wir einen Sinn im Leben finden MÜSSEN !!! Wenn wir uns von diesem künstlich erzeugten Zwang befreien können (was sicher nicht immer ganz einfach ist), dann werden wir wirklich glücklich werden und keinen Grund haben, zu verzweifeln. Ich habe das selbst ausprobiert vor fast 30 Jahren und es funktioniert. Es macht sogar nicht nur glücklich und zufrieden, sondern auch frei. Nämlich frei von Zwängen, von Vorgaben, von Erwartungen.
Warum gibt es immer mehr Menschen, die das Leben nicht mehr meistern? Warum gibt es immer mehr Selbstmorde, immer mehr autistische Kinder, immer mehr schizophrene Menschen und sonstige Menschen, die in dieser Gesellschaft nicht mehr zurecht kommen?
Ich habe die Antwort ein paar Zeilen vorher schon gegeben!
Aber nun kommt die Frage, ob das alles im Alter nicht ein wenig anders ist.
Grundsätzlich glaube ich nicht. Dass so viele alte Menschen traurig sind, das liegt zwar nicht nur, aber doch sehr oft daran, dass sie nichts mehr leisten können. Dass sie also nicht mehr wichtig sind und sich unnütz vorkommen.
Das wäre nun gar nicht weiter schlimm alt und wenig oder gar nichts mehr leisten zu können, denn wenn wir alt und gebrechlich werden, dann können wir gar nicht mehr dasselbe leisten wie junge Menschen. Das wäre also ganz normal und wir müssten uns als alte Menschen deshalb überhaupt keine Gedanken machen. Aber die meisten Menschen machen sich Gedanken darüber und fühlen sich minderwertig, weil sie nun nicht mehr wichtig sind und nichts mehr leisten (Leistungsgesellschaft !!!).
Ja, dann kommen natürlich die religiösen Menschen und sagen ihnen, dass sie für Gott noch wichtig sind.
Leider ist das ein Märchen. Wenn jemand an Märchen glaubt, dann mag das auch helfen. Wer jedoch nicht an Märchen glaubt, sondern weiss, dass er oder sie ohnehin niemals wichtiger war als irgend jemand anderer, dann ist das nicht mehr "Wichtig sein" im Alter überhaupt kein Problem. (Die Mehrzahl der Glaubensrichtungen enthalten die Sinnfrage als Teil ihrer Theologie - kopiert aus dem Link von Kayen).
Mein Fazit: Die Sinnfrage (ob grundsätzlich oder besonders im Alter) würde es gar nicht geben, wenn wir keine Wettbewerbsgesellschaft wären, wenn wir alle Menschen gleich wichtig betrachten würden, wenn es nicht Leute gäbe, die Millionen verdienen und andere, die kaum das Existenzminimum haben, wenn man Menschen mit guten Leistungen nicht hochjubeln würde: Kurzum, wenn wir eine humanistische und menschenfreundliche Gesellschaft wären, dann müssten wir uns um die Sinnfrage des Lebens überhaupt nicht kümmern. Ein wenig weiser sollten wir allerdings schon werden, damit wir einsehen, dass ein humanistischen Weltbild alle Menschen glücklicher machen kann und nur so das menschliche Zusammenleben schön sein kann. Vielleicht müssen die Menschen in unserer Gesellschaft noch viel mehr leiden und immer noch kränker werden, bis sie diese Weisheit erhalten ???
Eine etwas andere Frage ist natürlich, dass man im Alter - falls man es kann - vielleicht auch noch etwas tun will. Aber nicht unbedingt deshalb, weil man wichtig sein will, sondern weil man Freude daran hat, noch etwas zu tun. Und wenn man das aus Altersgründen nicht mehr kann, dann sollte man sich auch noch an Kleinigkeiten erfreuen können: Den Sonnenschein, ein paar Blumen, einen Vogelgesang, eine Abendstimmung und dergleichen mehr. Man kann auch nur vor dem Häuschen auf einer Bank sitzen, über das Leben, die Vergangenheit nachdenken, Erinnerungen wach rufen oder einfach da sein und schauen. Es gibt immer etwas zu sehen. Auch wenn es nur ein Wolke ist, die vorüber huscht. Oder ein Spatz, der unsere Brotkrumen aufliest. Das alles kann schön sein. Aber wenn wir ein ganzes Leben lang immer etwas "Wichtiges" tun wollten, dann werden wir an solchen "unwichtigen" Dingen, die ich gerade aufgeführt habe, keine Freude haben.
Schöne Grüße
Werner
P.S.: Da fällt mir gerade noch eine Begenheit ein, die zu diesem Thema passt: Eine gute Bekannte aus Österreich hat einen alten Opa. Er ist ein wenig gebrechlich, aber nicht krank oder bettlägerig. Die Bekannte jammerte einmal drüber, dass ihr Opa den ganzen Tag vor seinem Haus sitzt und nur vor sich hin schaut. Sei meinte, er könnte doch noch irgend eine Beschäftigung finden. Ich fragte sie, ob er denn unglücklich ist, wenn er auf seinem Bänkchen sitzt. Sie gab eine etwas ausweichende Antwort, aus der ich entnahm, dass er wohl ganz zufrieden war. Nur die Enkelin MEINTE (weil sie - wie die meisten Menschen in unserer Gesellschaft - geprägt war von dem Wichtigsein), dass er nun unglücklich war, weil er nichts mehr "Nützliches" tat.
Warum kann sie ihn nicht so lassen, wie er ist? Warum muss man immerzu etwas tun? Warum soll er nicht auf sein Leben zurückblicken, sich Gedanken machen über die Welt oder was auch immer? Vielleicht kommt dieser alte Mann zu vielen Erkenntnissen. Vielleicht erkennt Fehler, die er gamcht hat oder freut, dass er die Fehler korrigieren konnte oder wer weiss was alles. Sicher werden seine Erkenntnisse ihm selbst und wahrscheinlich auch anderen nichts mehr nützen. Aber wenn seine Enkelin ihn fragen würde, worüber er denn die ganze Zeit nachdenkt, dann würde sie vielleicht sehr interessante Antworten bekommen. Es ist schade, dass wir meinen, wir müssten immerzu etwas tun. Wobei natürlich "Gedanken zu haben" auch ein gewisses Tun ist. Nur sieht man es nicht. Alte Menschen sollten das Recht haben, dass sie nicht mehr in dem ewigen sinnlosen Stress des Tätigseins gefangen sind. Was anderes wäre es, wenn sie traurig wären. Dann müsste man fragen, warum sie es sind und vielleicht ihre Traurigkeit verstehen und ein wenig mittragen.