Psychiatrie: Bundesregierung biegt UN-Konvention zurecht
In Deutschland dürfen Menschen zwangsweise in die Psychiatrie eingewiesen werden, wenn Fachleute annehmen, dass sie eine Gefahr für sich oder Andere darstellen. Dabei schreibt die UN-Behindertenrechtskonvention fest: „Eine Freiheitsentziehung aufgrund einer Behinderung ist in keinem Fall gerechtfertigt." Sie gilt seit 2009 auch in der Bundesrepublik, doch bei ihrer Umsetzung in nationales Recht wurde die Vorgabe durch Einfügen eines Wortes ausgehebelt: „Eine Freiheitsentziehung allein aufgrund einer Behinderung ist in keinem Fall gerechtfertigt“, so der deutsche Kabinettsbeschluss. Eine Änderung der umstrittenen Praxis wird so umgangen. Von Menschenrechtsanwälten und Patientenorganisationen ist dieses Vorgehen kritisiert worden; die Medien aber haben das Thema weitgehend ignoriert.
Sachverhalt & Richtigkeit
Die Vereinten Nationen legen in Artikel 14 der UN-Behindertenrechtskonvention fest, dass Menschen mit Behinderung (dazu zählen auch psychisch kranke Menschen) gleichberechtigt mit anderen das Recht auf persönliche Freiheit und Sicherheit genießen. Diese Freiheit darf ihnen nicht rechtswidrig oder willkürlich entzogen werden. Auch Deutschland hat die UN-Behindertenrechtskonvention ohne Einschränkungen ratifiziert. Seit März 2009 ist sie daher Teil der deutschen Rechtsordnung und ebenso verbindlich wie das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB).
Allerdings widersprechen sowohl Paragraf 1906 des BGB auf zivilrechtlicher Basis und die Psychisch-Krankengesetze (PsychKG) beziehungsweise Unterbringungsgesetze in den Bundesländern der UN-Behindertenrechtskonvention. Denn sie ermöglichen Zwangseinweisungen und Zwangsbehandlungen unter der Voraussetzung, dass die betreffende Person eine Gefahr für sich selbst oder andere darstellen könnte.
Diese Formulierung ist allerdings sehr dehnbar und ermöglicht beispielsweise, jemanden zwangseinzuweisen, weil er seine Medikamente aufgrund der starken Nebenwirkungen nicht mehr nehmen will. Für eine Zwangseinweisung muss er also weder eine Straftat begangen noch tatsächlich eine Gefahr dargestellt haben. Allein die Möglichkeit, dass von ihm Gefahr ausgeht, reicht schon aus.
Die Bundesregierung plant keine Anpassung der deutschen Gesetzgebung an die UN-Behindertenrechtskonvention. Im Kabinettsbeschluss bezüglich des UN-Übereinkommens sowie in einer Denkschrift zum Vertragstext wurde festgehalten, dass die Rechtslage in Deutschland den Vorgaben von Artikel 14 der UN-Behindertenrechtskonvention entspräche. Hierzu bedient sich die Bundesregierung in ihrer Denkschrift zum Vertragstext einer eigenen Interpretation und hält fest, „dass eine Freiheitsentziehung auch bei behinderten Menschen nicht grundsätzlich ausgeschlossen ist. Voraussetzung ist allerdings, dass zur Behinderung besondere Umstände hinzutreten müssen, die die Entziehung der Freiheit erforderlich machen. Das ist etwa der Fall, wenn nur mittels der Freiheitsentziehung eine Selbst- oder Fremdgefährdung vermieden werden kann.“
Auf Anfrage der INA bezog das federführenden Ministerium für Arbeit und Soziales diesbezüglich Stellung: „Absatz 1 Buchstabe b [der UN-Behindertenrechtskonvention] stellt dabei ausdrücklich fest, dass eine Freiheitsentziehung allein aufgrund des Vorliegens einer Behinderung in keinem Fall gerechtfertigt ist.“
Da in der deutschen Rechtsprechung jedoch gilt, dass nur jemand, der eine Gefahr für sich selbst und andere darstellen könnte, zwangseingewiesen werden kann, würden die Gesetze auch nicht gegen die Konvention verstoßen. Das Wort „allein“ steht allerdings gar nicht in dem betreffenden Absatz der UN-Behindertenrechtskonvention. Das Einfügen des Wortes wurde zwar diskutiert, jedoch schließlich abgelehnt, da es dem Satz einen völlig anderen Sinn gibt.
Genau die Möglichkeiten, die Deutschland mit dem Wort „allein“ auch mittels der interpretierenden Denkschrift zur UN-Behindertenrechtskonvention weiterhin ausschöpfen will, sollte es durch die Konvention gerade nicht mehr geben. So stellt das UN-Hochkommissariat in einer Erklärung an die Vereinten Nationen „zur Verbesserung der Sensibilisierung und dem Verständnis der Behindertenrechtskonvention“ am 26.1.2009 klar, dass auch die Gesetzgebungen abgeschafft werden müssen, „die die Schutzhaft von Menschen mit Behinderung in Fällen der Wahrscheinlichkeit, eine Gefahr für sich selbst oder für andere zu sein und in den Fällen, in denen die Fürsorge, die Behandlung oder die öffentliche Sicherheit mit einer vermuteten oder diagnostizierten psychischen Krankheit verbunden wird, legalisieren.“
Auch mehrere Rechtsexperten sowie das Rechtsgutachten von drei Menschenrechtsanwälten bestätigen, dass die Möglichkeit der Zwangseinweisung und Zwangsbehandlung so, wie sie die deutschen Gesetze ermöglichen, gegen die UN-Behindertenrechtskonvention verstoßen.
Relevanz:
Dass ein Mensch gegen seinen Willen in eine Psychiatrie zwangseingewiesen wird, kommt in Deutschland etwa 200.000 Mal im Jahr vor. Eine Sondererhebung des Bundesjustizministeriums aus dem Jahr 2005 belegt: Die Zahl der Zwangseinweisungen hat sich zwischen 1992 und 2005 sogar mehr als verdoppelt. Bemerkenswert ist dabei, wie unterschiedlich häufig in den verschiedenen Bundesländern Menschen zwangseingewiesen werden.
In Schleswig-Holstein (9.698 Zwangseinweisungen) und Nordrhein-Westfalen (59.512 Zwangseinweisungen) wurden 2005 gemessen an der Einwohnerzahl fast viermal so häufig Menschen zwangseingewiesen wie in Berlin (2960 Zwangseinweisungen).
Es ist unwahrscheinlich, dass in Schleswig-Holstein oder NRW im Durchschnitt mehr psychisch kranke Menschen leben, die eine Bedrohung darstellen, als in Berlin. Daran wird deutlich, wie sehr Zwangseinweisungen von örtlichen Abläufen, Einrichtungen, aber auch von individuellen Einschätzungen oder gar von Willkür abhängen.
Diese Feststellung ist besonders bedenklich, wenn man sich vor Augen führt, was eine Zwangseinweisung und Zwangsbehandlung bedeutet: Ein Mensch wird gegen seinen Willen abtransportiert, unter Umständen fixiert und mit Psychopharmaka behandelt. Wie lange er festgehalten wird, hängt vom Ermessen des Arztes ab. Dass es durchaus Ärzte gibt, die dabei eigene Interessen verfolgen, darf nicht außer Acht gelassen werden. Unter Patientenverbänden wie dem Bundesverband Psychiatrie Erfahrener gilt es als offenes Geheimnis, dass sich einige Ärzte von Pharmaunternehmen Prämien auszahlen lassen, wenn sie ihre Patienten auf ein bestimmtes Medikament einstellen. Wer einmal eine Diagnose für eine psychische Krankheit hat, muss damit rechnen, bei Auffälligkeiten zwangseingewiesen werden zu können. Wer als psychisch Erkrankter beispielsweise in eine Schlägerei verwickelt ist, wird in der Regel sofort in die Psychiatrie eingewiesen, auch dann, wenn seine Krankheit nicht Ursache des Vorfalls ist. Alle anderen an der Schlägerei Beteiligten werden höchstens juristisch belangt. Dem psychisch Kranken wird das juristische Verfahren verwehrt.
Vernachlässigung:
In den Medien wird nur vereinzelt über Fälle von Psychiatrieopfern berichtet. Über die Problematik der Zwangseinweisungen und den Verstoß der deutschen Gesetze gegen die UN-Behindertenrechtskonvention wird nicht berichtet. Einzige Ausnahme ist ein Artikel in der Berliner Lokalausgabe der taz. Trotz vieler Versuche von Interessenverbänden, die Medienaufmerksamkeit durch Pressemitteilungen auf das Thema zu lenken, findet das Problem in der Presse nicht statt.
Quelle
Der Blinde Fleck – Das Blog der initiative Nachrichtenaufklärung