Du sollst dir kein Bildnis machen
„Gerade von dem Menschen, den wir lieben, können wir am wenigstens sagen, wie er sei. Wir lieben ihn einfach. Darin besteht ja die Liebe, das Wunderbare an der Liebe, daß sie uns in der Schwebe des Lebendigen hält, in der Bereitschaft, einem Menschen zu folgen in all seinen möglichen Entfaltungen. Wir wissen, daß der Mensch, wenn man ihn liebt, sich verwandelt fühlt, wie entfaltet, und daß auch dem Liebenden sich alles entfaltet, das Nächste, das lange Bekannte. Vieles sieht er wie zum ersten Mal. Die Liebe befreit aus jedem Bildnis. Das ist das Erregende, das Abenteuerliche, das eigentlich Spannende, daß wir mit den Menschen, die wir lieben, nicht fertig werden: weil wir sie lieben; solang wir sie lieben. … So wie das All, wie Gottes unerschöpfliche Geräumigkeit, schrankenlos, alles Möglichen voll, aller Geheimnisse voll, unfaßbar ist der Mensch, den man liebt.
Nur die Liebe erträgt ihn so.
Unsere Meinung, daß wir den anderen kennen, ist das Ende der Liebe, jedes Mal, aber Ursache und Wirkung liegen vielleicht anders, als wir anzunehmen versucht sind – nicht weil wir den anderen kennen, geht unsere Liebe zu Ende, sondern umgekehrt: weil unsere Liebe zu Ende geht, weil ihre Kraft sich erschöpft hat, damit ist dieser Mensch fertig für uns. Er muß es sein. Wir können nicht mehr! Wir kündigen ihm die Bereitschaft, auf weitere Verwandlungen einzugehen. Wir verweigern ihm den Anspruch alles Lebendigen, das unfassbar bleibt, und zugleich sind wir verwundert und enttäuscht, daß unser Verhältnis nicht mehr lebendig sei.
„Du bist nicht“, sagt der Enttäuschte, „wofür ich dich gehalten habe.“ Und wofür hat man einander denn gehalten? Für ein Geheimnis, das der Mensch ja immerhin ist, ein erregendes Rätsel, das auszuhalten wir müde geworden sind. Man macht sich ein Bildnis. Das ist das Lieblose, der Verrat.
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In gewissem Grad sind wir wirklich das Wesen, das die anderen in uns hineinsehen, Freunde wir Feinde. Und umgekehrt! auch wir sind die Verfasser der anderen; wir sind auf eine heimliche und unentrinnbare Weise verantwortlich für das Gesicht, das sie uns zeigen, verantwortlich nicht für die Anlage aber für die Ausschöpfung dieser Anlage. Wir sind es , die dem Freunde, dessen Erstarrtsein uns bekümmert, im Wege stehen, und zwar dadurch, daß unsere Meinung, er sei erstarrt, ein weiteres Glied ist in der Kette, die ihn fesselt und langsam erwürgt. Wir wünschen ihm, daß er sich wandle, o. ja. Aber darum sind wir noch lange nicht bereit, unsere Vorstellung von ihm aufzugeben. Wir selbst sind die letzten, die ihn verwandeln. Wir halten uns für den Spiegel und ahnen nur selten, wie sehr der andere eben der Spiegel unseres erstarrten Menschenbildes ist, unser Erzeugnis, unser Opfer –
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Du sollst dir kein Bildnis machen, heißt es, von Gott. Es dürfte auch in diesem Sinne gelten: Gott als das Lebendige in jedem Menschen, das, was nicht erfassbar ist. Es ist eine Versündigung, die wir, so wie sie an uns begangen wird, fast ohne Unterlaß wieder begehen –
Ausgenommen wenn wir lieben.“
(Max Frisch [1911 – 1991]:
Tagebuch 1946 – 1949 [1946])