Hallo Zusammen
Ich habe mal von einer lieben Kollegin von mir eine Geschichte erhalten und die möchte ich mal hier so präsentieren.
Viel Spass beim Lesen
Das Pferd ist nicht im Stall
Eine wahre Geschichte
Jeder von uns hat in seinem Leben schon irgendeinmal einen grösseren oder kleineren Schicksalsschlag erlitten und hat sich mehr oder weniger verzagt gefragt: Warum musste es ausgerechnet mich treffen? Was für einen Sinn soll das haben? Schon manch einer geriet darüber ins Grübeln oder verfiel gar tiefer, schwarzer Trauer. Wer Anlagen hat zur Depression, weiss sich in solchen düsteren Augenblicken kaum mehr aus dem dunklen Abgrund zu retten. Gibt es hilfreiche Ratschläge gegen solche Anwandlungen von Verzweiflung und Traurigkeit? Kann man der quälenden Schicksalsfrage durch hartnäckiges Nachdenken auf den Grund kommen? Der eine greift in seiner Kümmernis zu seelenheilenden Pillen und Pulvern, der andere versenkt seine Betrübnis in fernöstlicher Mystik. Am Ende und auf die Dauer hilft weder das eine noch das andere gegen immer wieder von neuem aufkeimenden Seelennöte; am Ende helfen auch alle noch so gutgemeinten Worte von Freunden nichts gegen die Anfälle von Trübsal und Traurigkeit, von Schwermut und Verdüsterung, die jeden von uns einmal heimsuchen. Am ehesten noch erreicht uns vielleicht in solchen Stunden ratloser Niedergeschlagenheit und Hoffnungslosigkeit, wenn uns das Schicksal unbegreiflich bleibt, die Botschaft einer Geschichte. Mir hat in einem besonders schweren Lebensaugenblick einmal eine Geschichte Trost und Aufrichtung gespendet, neuen Halt und Zuversicht geschenkt, die ich an jene Leserinnen und Leser weitergeben möchte, die solchen Zuspruchs in einer bitteren Lebensstunde vielleicht auch einmal bedürfen. Es ist die Geschichte "Das Pferd ist nicht im Stall", von der ich nicht weiss, woher sie stammt und wer sie geschrieben hat. mir wurde sie gewissermassen durch einen Schicksalsboten überbracht in einem Augenblick , da ich die Botschaft dieser Geschichte am dringendsten nötig hatte. Und darum frage ich nicht weiter nach ihrem Vonwo und Vonwem, sondern nehme sie an als eine kostbare Gabe, die an möglichst viele Leserinnen und Leser weiterzureichen mir als eine Dankespflicht erscheint.
Eduard Stäuble
Es war einmal ein alter Mann, auf den alle Könige der Welt neidisch waren; denn er besass ein wunderschönes weisses Pferd. Es war so schön und stark und von solchem Stolz, wie man noch nie ein Pferd gesehen hatte.
Viele wollten dieses Pferd kaufen und überboten sich in fabelhaften Preisen. Der alte Mann aber ging nie auf einen solchen Handel ein. Auf all die Angebote gab es für ihn nur eine Antwort: "Dieses Pferd ist mein Freund. Wie kann man seinen Freund verkaufen? Nie! Um keinen Preis."
Eines Morgens war das Pferd nicht mehr im Stall. Das ganze Dorf versammelte sich, und alle sagten zu dem alten Mann: "Das hast Du jetzt davon. Wir haben es schon immer gewusst: eines Tages wird so ein Pferd gestohlen. Du hättest besser getan, es zu verkaufen. Du wärest reich geworden. Jetzt aber ist das Pferd weg, und Du hast leere Taschen. Siehst Du, dieses Pferd war ein Fluch für Dich und brachte Dir nur Unglück."
Da sagte der alte Mann: "Übertreibt doch nicht. Sagen wir einfach: Das Pferd ist nicht im Stall. Das ist Tatsache. Alles andere sind Vermutungen. Und ob diese Tatsache ein Unglück ist oder nicht - wie können wir das wissen?"
Die Leute aber sagten: "Uns kannst Du nichts vormachen. Es ist eine Tatsache, dass Dir ein grosser Schatz verloren gegangen ist. und das ist ein Unglück." Der alte Mann erwiderte ihnen: "Ich bleibe dabei; die einzige Tatsache ist: das Pferd ist nicht im Stall. Der Stall ist leer, das Pferd ist fort. Mehr weiss ich nicht. Ob das ein Glück oder ein Unglück ist, kann ich nicht beurteilen; denn niemand weiss, was noch kommt." Er wurde von den Leuten ausgelacht, sie hielten ihn für verrückt.
Zwei Wochen später kam das Pferd unerwartet zurück. Es war in der Wildnis gewesen und brachte noch zwölf andere Wildpferde mit. Wieder liefen die Leute zusammen. "Du hast Recht gehabt, Alter", sagten sie "wir haben uns geirrt. Es war kein Unglück. Es war vielmehr ein Segen. Es tut uns Leid, dass wir Dir Vorwürfe gemacht haben".
"Ihr übertreibt auch diesmal", antwortete ihnen der alte Mann, "könnt ihr denn nicht einfach sagen: das Pferd ist zurück und hat zwölf andere Pferde mitgebracht? Warum urteilt ihr wieder so voreilig? Wer kann schon wissen, ob dies ein Segen ist oder nicht, da doch keiner den Zusammenhang kennt und um den Ausgang weiss. Könnt ihr über ein Buch urteilen, wenn ihr nur eine Seite davon gelesen habt? Könnt ihr über eine Seite urteilen, wenn ihr nur einen Satz davon gelesen habt? Könnt ihr über einen Satz urteilen, wenn ihr nur ein Wort davon kennt? Was wir aber vom Leben zur Verfügung haben, ist weniger als ein Wort; denn das Leben ist unendlich. Ja, ihr habt nur einen Buchstaben zur Hand und urteilt über die ganze Welt. Sagt also nicht, dass dies ein Segen sei, denn wer weiss... Ich bin jedenfalls froh, dass ich es nicht weiss."
Diesmal sagten die Leute kein Wort. Vielleicht hatte der alte Mann recht. Im Geheimen aber dachte jeder, dass er sich irre; denn wenn die zwölf herrlichen Pferde einmal eingeritten waren und verkauft würden, brächten sie eine Menge Geld.
Der alte Mann hatte einen noch jungen Sohn. Es war sein Einziger. Dieser begann nun, die Wildpferde zu zähmen. Dabei stürzte er derart unglücklich von einem der Pferde, dass er sich beide Beine brach. Und wieder kamen die Leute aus dem Dorf zusammen, und sie sagten zum Alten: "Du hattest recht. Was Du geahnt hast, ist eingetroffen: es war kein Segen, sondern ein Unglück, Dein einziger Sohn hat sich beim Reiten beide Beine gebrochen. Wer soll Dir jetzt eine Stütze sein in Deinen alten Tagen? Jetzt bist Du ärmer denn je.".
Der alte Mann jedoch sagte: "Könnt ihr denn nicht aufhören zu urteilen? Schon wieder geht ihr zu weit. Sagt doch einfach: Dein Sohn hat seine beiden Beine gebrochen. Keiner weiss, ob dies ein Unglück ist oder ein Segen."
Kurze Zeit danach brach ein Krieg aus. Alle jungen Männer wurden als Soldaten eingezogen. Nur der Sohn des alten Mannes blieb im Dorf zurück, weil er ein Krüppel war. Die Leute kamen zusammen und weinten und klagten, denn ihre Söhne und Brüder waren alle mit Gewalt weggeholt worden, und es bestand wenig Hoffnung, dass sie je wiederkämen. Zum alten Mann aber sagten sie: "Wie recht Du hattest, Alter, wie recht! Weiss Gott, es war ein Segen. Dein Sohn mag zwar ein Krüppel sein, aber wenigstens bleibt er bei Dir. Wir werden unsere Söhne nie wiedersehen. Dein Sohn aber wird wieder laufen lernen."
Unwirsch wehrte der alte Mann die Leute ab. "Es ist unmöglich, mit euch zu reden. Immer müsst ihr gleich urteilen. Sagt doch nur, dass die Armee eure Söhne geholt hat und meinen Sohn nicht. Ob dies ein Segen ist oder nicht - wer weiss das heute schon? Kein Mensch wird es je wissen; denn alles ist immer nur ein Bruchstück aus unserem Leben, weil das Leben sich uns nur bruchstückhaft zeigt. Warum urteilt ihr immer von diesem einen Bruchstück her über das ganze Leben, das ihr nicht kennt? Lasst mich bitte, in Ruhe".
Und der alte Mann ging in sein Haus und sorgte für seinen Sohn und seinen Freund, das Pferd.
November 1999