Zusehends wächst die öffentliche Kritik an den Waldorfschulen und an der
hinter ihnen stehenden Anthroposophie. Das ist gut so. Denn keine
pädagogische Bewegung der letzten fünfzig Jahre wurde in ihrer Bedeutung
so überschätzt und in ihrer Zweifelhaftigkeit so unterschätzt wie die
Waldorfpädagogik. Gemeinhin galt das Credo: Waldorfschulen sind gute
Noten, denn sie sind Schulen ohne Noten, ohne Ziffernzeugnisse, ohne
Sitzenbleiben, ohne Stundentakt; Schulen der Integration, der
Ganzheitlichkeit, der Projekte, der Kindgemäßheit, der Kreativität.
Das war schon immer ein bisschen viel auf einmal, und so prägte sich die
polemische Etikettierung manch anthroposophisch orientierter Eltern und
Waldorflehrer als einer alternativ angehauchten Anthropo-Soft-Schickeria.
Vorbild ist und bleibt die Ur-Waldorfschule, die im Jahr 1919 von dem Waldorf-
Astoria-Zigaretten-Industriellen Emil Molt in Stuttgart gegründet und von
dem Anthropologie-Übervater Rudolf Steiner (1861 – 1925) bis zu seinem Tod
geleitet wurde. Heute sind es in Deutschland 163 Waldorfschulen, in denen
65.000 Kinder unterrichtet werden.
Bei so viel Geschichte und „Pädagogik“ muss man sich eigentlich wundern,
warum diese Schulen nicht erheblich mehr Zulauf bekamen. Immerhin gibt es
in Deutschland rund 40.000 allgemeinbildende Schulen und zehn Millionen
Schüler an selbigen. Da machen die 168 Waldorf-Schulen mit ihren 69.000
Schülern (Stand: 1999) und die rund 20.000 bekennenden Anthroposophen
nur Promilleanteile aus.
Dass der Blick hinter die Fassaden der Waldorf-Schulen bislang nicht gelang
oder nicht angestrengt wurde, hat vielerlei Gründe. Wer wagt es schon,
Fragen zu stellen, wenn alles so schön pädagogisch klingt! Ein wichtigerer
Grund ist, dass sich alles, was mit Waldorf oder mit Anthroposophie zu tun
hat, hermetisch gibt und dass Anthroposophie zum Markenzeichen eines kaum
durchschaubaren Konzerns geworden ist, der von der privaten Hochschule
und dem Demeter-Bund über anthroposophische Berufsverbände und
Landbauschulen bis hin zu Treuhandstellen, Banken, Verlagen und Kosmetik-
Firmen reicht.
Die bislang weitgehend ausgebliebene öffentliche Auseinandersetzung mit
Waldorfpädagogik sowie mit Rudolf Steiner und dessen Anthroposophie dürfte
ansonsten sehr praktische Gründe haben. Auch der engagierteste
Wissenschaftler oder Publizist hat irgendwann keine Lust mehr, sich durch ein
Steiner-Schrifttum durchzubeißen, das im Katalog 204 Seiten ausmacht und
das mehr als 350, offenbar in permanenter Produktionsmanie entstandene
Original-Steiner-Bände mit 4.500 zunächst mitstenografierten Vorträgen
enthält. Und keinem ist zu verdenken, wenn er die Nase voll hat von der
allgegenwärtigen Heiligsprechung Steiners, vor allem aber die Nase voll hat –
um nur eine kleine Auswahl von Titeln und Kapiteln zu nennen – von:
Reinkarnation und Karma, Gnosis und Kosmogonie, Seelenmetamorphose und
Astral-Leib, okkulten Wahrheiten und spiritueller Ökonomie, ätherischer Welt
und Akasha usw.
Zu sehr verquast ist Steiners Amalgamierung aus indischem Einschlag,
deutschem Idealismus, Pantheismus, Kosmologie und Esoterik, als dass man
sie einer Analyse unterziehen möchte. Zu kurios ist vieles in der praktischen
schulischen Umsetzung, als dass man es ernst nehmen möchte: Dass Waldorf-
inder nicht Fußball spielen dürfen, weil „das Fußballspielen ... die Beine geistig
nicht frei (macht)“ (Anthroposophische Zeitschrift „Info 3“). Dass die Kinder
in manchen Schulen je nach „Temperament“, also ob sie cholerisch,
phlegmatisch, sanguinisch und melancholisch sind, zusammengesetzt werden.
Dass der Lehrer im Fachunterricht hauptsächlich eines tut, nämlich den
Kindern in die Hefte zu diktieren. Dass die Kinder in den Waldorfschulen ein
und denselben Klassenlehrer ganze acht Jahre lang haben, weil die
Anthroposophie die menschliche Entwicklung in siebenjährige Zyklen einteilt usw.
Rassenkunde à la Atlantis
Mitte der 90er Jahre wurde erstmals vernehmbar am Steiner-Denkmal
gekratzt. Ein Buch-Autor, Carsten Holm, warf Steiner Rassismus vor: „Und sie
(die Anthroposophen) ignorieren den haarsträubenden Unsinn, den der
Meister über ‚den Neger‘ faselte, der schwarz sei, weil er alles Licht aus dem
Weltenraum aufsauge, der ‚dieses Kochen in seinem Organismus‘ und daher
ein ‚starkes Triebleben‘ habe, aber gleichwohl ‚ein furchtbar schlaues und
aufmerksames Auge‘“ (Quelle: SPIEGEL special 11/96). Am 23. Februar 1997
fand die WELT am SONNTAG mit einem Beitrag unter dem Titel „Ein Rassist
und Okkultist – Die verschwiegene Seite des Rudolf Steiner“ großes Echo.
Die Überschrift in der „taz“ vom 28. September 1996 lautete:
„Schluß mit Steiners Rassenlehre“.
Die Vorwürfe sind nicht unberechtigt. Steiner katalogisiert die Rassen in
Schwarze mit „Hinterhirn“ und „Triebleben“, in Gelbe mit „Mittelhirn“ und
„Gefühlsleben“ und in Weiße mit „Vorderhirn“ und „Denkleben“. Wörtlich:
„Diese Schwarzen in Afrika haben die Eigentümlichkeit, daß sie alles Licht und
alle Wärme vom Weltenraum aufsaugen ... Dadurch, daß er das tut, wirken
über den ganzen Menschen hin die Kräfte des Weltenalls ... Der Neger hat
also ein starkes Triebleben.“
Nach Rudolf Steiner ist die Rassengliederung kosmologisch begründet und von
den Mysterienführern der Atlantis ins Werk gesetzt. Ein Ernst Uehli
rekapituliert diese „Theorie“ in seinem Buch „Atlantis“, das 1936 erstmals und
1980 in dritter Auflage erschien – und: das im Dezember 1998 (!) in den von
der Pädagogischen Forschungsstelle der Waldorfschulen herausgegebenen
„Literaturangaben für die Arbeit des Klassenlehrers an einer Freien
Waldorfschule“ zum Geschichtsunterricht der 5. Klasse empfohlen wird.
In diesem Uehli-Werk finden sich Rasse-Beschreibungen wie folgende: Die
Saturn-Rasse sind die Indianer. Bei dieser „roten Rasse“ sei die Pigmentierung
der Haut das physiologische Merkmal der „Diskrepanz von zu starkem, nach
außen drängendem Ich-Gefühl und unterliegendem Organismus“. Und an
anderer Stelle: „Der heutige aussterbende Indianer ist in seiner äußeren
Erscheinung verknöchert, im Denken greisenhaft.“ Die Merkur-Rasse ist die
„schwarze Rasse“, deren „zu schwaches Ich-Gefühl bewirkte, daß sie der
Sonnenwirkung zu stark ausgesetzt war und sich daher zu viel kohlenartige
Bestandteile unter der Haut ablagerten. Und weiter: „Der heutige Neger ist
kindlich, ist ein nachahmendes Wesen geblieben.“ Ähnlich verquer fällt die
Beschreibung der Mars-Rasse (z.B. Hunnen und Mongolen) und der
Venus-Rasse (Malaien) aus. Demgegenüber freilich die Arier: „Der Keim zum
Genie ist der arischen Rasse bereits in ihre atlantische Wiege gelegt worden.“
(Uehli, S. 126)
Sozialethische Desorientierung?
Diese Literaturempfehlung samt Zitaten ist Anfang Juli durch die
ARD-Sendung „Report“, an der der Verfasser als Interviewpartner beteiligt
war, öffentlich geworden. Die Reaktion des Bundes der Freien
Waldorfschulen, des Dachverbandes aller Waldorfschulen, war bezeichnend
und verharmlosend zugleich: Die öffentliche Kritik sei überzogen, Uehlis Buch
sei eine problematische, vereinfachte Darstellung aus dem Werk Steiners.
Das Buch werde deshalb von der Bücherliste gestrichen. Also wieder Friede,
Freude, Eierkuchen und ansonsten halt nur eine öffentliche Kampagne?
So einfach ist es doch wohl nicht! Zur kritischen Selbstreflexion reicht es in
deutscher Anthroposophie offenbar nicht. Man bedauert allenfalls das, was
gerade öffentlich angeprangert wurde. Zu so viel Mut wie den holländischen
Steiner-Anhängern fehlt es dessen Anhängern hierzulande: In Holland
entschloss man sich immerhin zur Feststellung, 62 Textstellen aus dem
89.000 Seiten starken Werk Steiners dürften nicht unkommentiert
weitergegeben werden
Mittlerweile hat sich die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften der
Sache angenommen. Sie überprüft im Auftrag des Bundesjugendministeriums,
ob das Uehli-Buch nicht den Tatbestand der „sozialethischen Desorientierung“
Jugendlicher erfüllt und auf den Jugend-Index gehört.
Egal wie dieses Prüfverfahren ausgeht: Es muss dies ein Anstoß sein zur
überfälligen kritischen Auseinandersetzung mit dem Menschenbild Steiners
und mit der Pädagogik der Waldorfschulen. Mit der Absetzung des Buches von
Uehli ist es nicht getan. Hätte irgend ein Lehrerausbilder im öffentlichen
Schulbereich auch nur eine der zitierten Aussagen getätigt oder
entsprechende Literatur in der Ausbildung junger Lehrer empfohlen, dann
wäre es nicht mit dem Streichen eines Titels aus einer Literaturliste getan,
sondern dann wäre zu Recht ein Disziplinarverfahren eingeleitet worden.
Dass die Öffentlichkeit sehr sensibel reagiert, wenn rassistisches
Gedankengut vertreten wird, ist gut so. Verlogen wirkt diese Sensibilität,
wenn je nach Provenienz solcher Äußerungen Unterschiede gemacht werden.
Der Rechtsstaat muss sein Wächteramt ohne Ansehen der Betroffenen
ausüben, wenn es um zweifelhafte Leitbilder und Inhalte geht. Auch
Waldorfschulen unterliegen dem Grundgesetz Artikel 7 Absatz 1:
„Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates.“
Diesem Grundsatz können sich die Waldorfschulen nicht dadurch entziehen,
dass sie stereotyp darauf verweisen, sie seien keine Weltanschauungsschulen
und die Anthroposophie sei kein Gegenstand des Unterrichts. Immerhin führen
nicht wenige solcher Schulen „Steiner“ im Namen. Name ist Programm.
Und zweifellos spielen anthroposophische Inhalte eine große Rolle im
Waldorfunterricht – man denke nur an Atlantis und nochmals Atlantis
im Geschichtsunterricht.
Ansonsten? Vor allem die Eltern der Waldorfschüler, die gewiss größtenteils
keine Anthroposophen sind, sollten wenigstens hellhöriger werden.
Und sodann haben die Kirchen verstärkt die Aufgabe, sich kritisch mit
Anthroposophie auseinander zu setzen, auch wenn letztere bereits am 17.
Juli 1919 von Papst Benedikt XV. verurteilt worden ist. Gerade aus kirchlicher
Sicht jedenfalls provoziert die Steiner-Gemeinde die Vermutung, auf sie
könnte so manch typisches Merkmal sektiererischer Gruppen zutreffen –
neben dem totalen Welterklärungsanspruch und dem Großen Meister unter
anderem die Inflation an Klagen vor Gericht, wenn es darum geht, Kritiker
zum Schweigen zu bringen.