Hallo Giolina und Ihr anderen,
nach allem, was ich erfahren habe, selber und vor allem in vielen Paar-Beratungen: das Herz jeder Liebesbeziehung heißt „Ich will dich“ (als Person) und „Ich will von dir gewollt werden“ (als Person). Nicht etwa: „Ich brauch dich“ (als Objekt) und „Ich brauch’s, von dir gebraucht zu werden“ (als Objekt).
Person: der andere (oder ich selber) als einer, den ich „erkenne“ (aber nie kenne), ein Geheimnis, faszinierend, immer neu – ganz spezifisch menschlich. (Keine Parallelen im Tierreich – dazu brauchen wir schon unseren gigantischen Neo-Cortex.) -- Objekt: das andere (oder ich) als etwas, von dem ich irgendwelche angenehmen Erfahrungen erwarte, Streicheleinheiten (verräterisches Wort), möglichst geschickte auch noch; wo irgendwie das Tauschhandelsprinzip gilt, wo ich dem anderen in meinem eigenen Interesse schon mal zu Willen bin. Usw.
Personen sind der andere und ich als Menschen von Natur aus; zu Objekten können wir uns machen, in dem wir vor unserer Natur die Augen verschließen. (Meistens aus Angst – Person-Sein ist sehr verunsichernd.) Aber es gelingt nicht: wir bleiben immer Personen – die sich eben hinter Objektivitäten einbuddeln.
Personen KOMMUNIZIEREN, und zwar primär, in dem sie einander anschauen, genauer: in die Augen schauen. (Die meisten müssen das erst lernen: es geht weder um Anstarren noch um Verführen – sondern um Mich-Einlassen auf, Mich-Öffnen für den Blick des anderen. Aufnehmend zulassen, dass er hinter meine Augäpfel schaut – weit dahinter, darunter.) Frauen können das meistens viel besser als Männer. Während des Blickkontakts stoppen für einen Augenblick oder eine kleine Weile die Gedanken. Interessant, dass (laut Umfragen) die große Mehrheit der Paare einander gerade nicht in die Augen schauen während des sexuellen Zusammenseins oder gar während des Orgasmus. -- Dann kommunizieren Personen (nicht nur aber wesentlich auch) verbal, genauer: sie sagen einander die Wahrheit. Nicht über Wetter, Steuererklärung, medizinische Befunde. Sondern die persönliche Wahrheit = dasjenige, was nur ich wissen kann, was aber den anderen angeht: meine Gedanken, Gefühle, Impulse, Handlungen. Im Zweifel: dasjenige, was mit peinlich ist oder mindestens nicht ganz einfach auszusprechen. (Zu den Gedanken gehören alle [!] meine Wachfantasien; zu den Gefühlen z.B. auch meine Zuneigung zu anderen. Auch Scham und Ekel natürlich.) -- Herausfordernd ist das, ja. Aber im Grund das reine Entzücken: dass der andere überhaupt da ist, dass er meinen Blick erwidert. Daß er mir seine Wahrheit sagt, dass er die meine hören will (auch wenn er sie dann und wann nicht erträgt, das gehört dazu). Daß wir nackt voreinander sein können, „viel nackter als unbekleidet“, wie ein Patient mal sagte.
Beide Arten der Kommunikation sind ausschließlich menschlich: Sprechen und Sprache Verstehen erfordern etliche komplexe Hirnzentren, die nur wir haben. (Und dann noch Sprache individuell weiterentwickelt, „poetisch“ sprechen ...) Daß wir überhaupt fähig sind, einander während des Zusammenseins in die Augen zu schauen, erforderte einen gewaltigen, ungemein folgenreichen Umbau des Skeletts und anderer anatomischer Gegebenheiten.
Tja, das wär’s eigentlich. „Alles andere wird euch dazugegeben werden“, sagte Jesus. (Muß man sich rechtfertigen, wenn man Jesus zitiert?)
Ob und wie oft wir dann Orgasmen haben (und wenn ja, was für welche, da gibt’s ja einen bunten Blumenstrauß, nicht?), ob wir die „genießen“ oder überhaupt wollen und wie wer wann zielstrebig „Hand anlegt“ usw. Und ob 2x / Woche viel oder wenig oder ist – zur Abwechslung mal Luther, sorry: „In der Woche zwier, / macht im Jahre hundertvier“ – und in der zweiten Zyklushälfte ist’s „normal“ und in der Tierwelt sowieso - mich befällt eine Herzbeklemmung angesichts dieses Denkens (das ich natürlich auch von mir kenne, aus Zeiten, in denen meine Liebe geschwächt war oder ich sie verraten hab). Irgendwie materialistisch: ich frag mich dann, ob ich genau das Richtige kriege und genug davon – statt bei diesem absoluten Sensation zu verweilen: dass da einer ist, der mich will und ich ihn … Ich hab eine Quelle gefunden, die eigens für mich gluckert – und ich laß dann die Mineralien quantitativ untersuchen, ob alle in dem für mich optimalen Verhältnis drin sind aber keine Nitrate. (Ist’s ein Wunder, wenn die Quelle dann versiegt?)
Übrigens: es ist schon seit Jahrzehnten eine grundlegende Einsicht der Sexualtherapie, dass sog. sexuelle „Störungen“ IMMER Kommunikationsstörungen sind – meistens wird verschwiegen. (Die bei weitem häufigste „Störung“ ist gegenwärtig [vermeintlich] mangelndes Begehren.) Und daß Begehren wieder lebendig wird, sobald die Schweigemauer abgerissen wird. Ferner: dass „Störungen“ immer fehlinterpretiert werden: in Wirklichkeit sind’s wertvolle Mitteilungen der Organismen, des Frau-Mann-Systems an sich selbst. Nur auf den ersten Blick nicht leicht lesbar.
Etwas finde ich noch spannend an Deinen – Giolinas – Berichten: Dein Mann möchte seinen Orgasmus länger hinauszögern können. Deine Reaktion ist diffenziert: „Einerseits weiß ich gar nicht, ob ich das will (obwohl ich es einfach klasse finde, dass er sich kümmert) – andererseits öffnen sich durch das Buch vielleicht neue Welten …“ Da ist ja ziemlich alles drin – Skepsis, Fairness, Neugier (an der mir besonders das „Vielleicht“ und die drei Pünktchen gefallen). – Fragen: hast Du dies (vielleicht sogar noch bisschen differenzierter) Deinem Gemahl schon mitgeteilt? Vielleicht bedeutet das Tantrabuch ja Dich, in der er lesen, durch die er lernen will? („Ich blättere dich auf / für immer …“, heißt’s in einem Liebesgedicht von Paul Celan.)
Nebenbei: Kontrolle des männlichen Orgasmus ist schon eine geniale Idee, aus verschiedenen Gründen. Nicht umsonst finden sich dafür Praktiken in mehreren großen asiatischen Traditionen, vereinzelt sogar im Westen. Du (G.) schreibst, Dein Mann möchte den Orgasmus hinauszögern KÖNNEN. Aber Du reagierst darauf, als ob er dies dann immer tun MÜSSTE, unabhängig von Deinen Wünschen. Vielleicht würde er aus lauter Liebe zu Dir auf das Hinauszögern verzichten? (Oder sogar auf den Orgasmus überhaupt – eine ganz andere Perspektive und eine der Möglichkeiten, die geübt werden können.)
Wenn Dein Mann spürt - wenn er sensibel ist, spürt er’s gewiß – dass Du gar nicht weißt, „ob Du das willst“: dann wird er’s höchstwahrscheinlich nicht lernen. Orgasmuskontrolle und ihr Training ist auch eine gemeinsame Bemühung des Paars (die Frau kann dabei sehr hilfreich sein) – heiter, spielerisch, diszipliniert, bewegend, ziemlich aufregend für die Frau und an den Grenzen für den Mann. Aber was will man denn anderes. Und jedenfalls eine Möglichkeit, Scham abzubauen.
Die besten Anleitungen stammen von Mantak Chia bzw. von diesem & Manewaan Chia, eines für die Frau, eines für den Mann (aus dem Tao Yoga). Und zu mangelndem Begehren und Kommunikation: David Schnarch: „Intimität und Begehren“, 2010.
Liebe Frühlingsgrüße
von
Windpferd