Der Berliner Tobias Jaecker beschäftigt sich mit Antisemitismus,
Antiamerikanismus und Verschwörungstheorien. Er arbeitet beim
Berliner Radio Eins, schreibt für verschiedene Zeitungen und ist Autor des
Buches „Antisemitische Verschwörungstheorien nach dem 11. September“.
Zurzeit lebt Tobias Jaecker in Chicago. Ein Interview von Katharina Wulffius.
Herr Jaecker, Sie arbeiten unter anderem und vor allem über
antisemitische Verschwörungstheorien. Würden Sie sich selbst als
Verschwörungstheoretiker bezeichnen?
Auf keinen Fall. Eher als jemanden, der Verschwörungstheorien dekonstruiert.
Denn Verschwörungstheorien sind immer kleine, geschlossene Weltanschauungen,
die ein Ereignis in einer geschlossenen, kohärenten Weise darstellen. Aber
das ist in der Realität meist gar nicht möglich. Verschwörungstheoretiker
gehen nicht auf offene Fragen ein und sind auch nicht für Antworten aller Art
zugänglich. Aus allen möglichen Hinweisen, vermeintlichen Sachverhalten,
Aussagen von Experten, Augenzeugen, wird eine geschlossene Geschichte
zusammengezimmert und diese dann als die ultima ratio dargestellt. Das ist
eigentlich genau das, was ich kritisieren möchte.
Ihr Ziel ist also, Verschwörungstheorien zu analysieren und sie dann zu dekonstruieren?
Genau. Wobei es oft schwer ist, bestimmte Behauptungen zu widerlegen.
Denn das ist genau der Trick der Verschwörungs- theoretiker: Jede
Behauptung für sich mag vielleicht irgendeinen kleinen Wahrheitsgehalt
haben, aber das Ganze wird dann so verdreht und zusammengebaut, dass es
eben scheinbar passt. Denn schon im Begriff steckt ja das Wort Theorie.
Und eine Theorie muss an sich verifizierbar sein, um eine Theorie zu sein.
Verschwörungen bauen aber nun mal nicht auf Erklärungen auf, die beweisbar
sind. Der Begriff ist also irreführend. Verschwörungstheorien sind in keinem
Fall eine Theorie. Eine Verschwörungstheorie ist vielleicht eher eine
Verschwörungshypothese oder eine Verschwörungsbehauptung. Der Begriff
hat sich vor allem in der Populärliteratur so durchgesetzt.
Was braucht eine Verschwörungstheorie, damit sie Wirkung hat?
Eine „gute“ Verschwörungstheorie braucht immer einen Bösen, eine böse
Macht oder jemanden, der irgendetwas Böses durchführt. Dann braucht sie
eine gute Seite. Das ist in den meisten Fällen der Verschwörungstheoretiker
selber. Und sie braucht Menschen, die sich durch die meist unsichtbare böse
Macht bedroht fühlen. Und dann gibt es noch die Handlanger, die
Leichtgläubigen, die Gutgläubigen, die der bösen Macht zuarbeiten, auch
unwissentlich. Ein anschauliches Beispiel ist die Verschwörungstheorie zum
11. September: Als böse Macht wird hier die US-Regierung dargestellt oder
die CIA. Die Leichtgläubigen sind die westlichen Staaten oder die Mitarbeiter
der Regierungen, die eigentlich gar nicht wissen, worum es geht, die einfach mitmachen.
Wann entstehen Verschwörungstheorien?
Viele behaupten, dass Verschwörungstheorien vor allem deshalb boomen, weil
die Welt immer komplexer wird. Allerdings war die Welt auch schon vor 200
Jahren komplex und schwer zu durchschauen. Verschwörungstheorien
gedeihen immer dann, wenn Umbrüche, Krisen oder Kriege stattfinden. In
solchen Situationen haben die Menschen keinen Durchblick mehr: Wer ist der
Täter, wer das Opfer? Wer übt an welcher Stelle Macht aus? Das ist in
Zusammenhang mit der französischen Revolution so gewesen, so ist es
geschehen, als im russischen Zarenreich verschiedene Politiker im Umfeld des
Zaren Reformen durchführen und das Land moderner gestalten wollten.
Und es ist während der beiden Weltkriege der Fall gewesen.
Antisemitismus und Verschwörungstheorien könnte man als zwei Ideologien
bezeichnen. Haben Ideologien immer etwas mit Verschwörung zu tun?
Ideologien sind nicht immer gleich verschwörungstheoretisch.
Eine Ideologie ist eine geschlossene Weltanschauung. Das bedeutet:
anderen Ideologien wird der Wahrheitsgehalt abgesprochen. Aber das heißt
nicht, dass ich hinter jeder Entwicklung einen bösen Täter sehe und diesen
dann verantwortlich mache, wie das bei Verschwörungstheorien und beim
Antisemitismus der Fall ist.
Antisemitische Verschwörungstheorien haben leider eine lange Tradition.
Welche Ängste und Vorurteile stecken da dahinter?
Vor rund 200 Jahren hat die Modernisierung der westlichen Gesellschaften
stattgefunden. Viele Menschen fanden das unheimlich. Im gleichen Zeitraum
haben sich die Juden in den meisten Ländern emanzipiert, sie haben offiziell
Bürgerrechte bekommen. Viele Juden haben dann diese Rechte genutzt, um
Berufe zu ergreifen, die ihnen vorher verwehrt wurden, weil man den
christlichen Eid schwören musste. Weil die Juden also von der
gesellschaftlichen Modernisierung profitierten, wurden sie von vielen als
Drahtzieher hinter dieser Entwicklung gesehen. Dieses antisemitische Muster
ist in der Geschichte immer wieder aktualisiert worden. War ein Täter
gesucht, hatte man immer die Juden in der Hinterhand.
Ein recht junges Beispiel sind die Verschwörungstheorien rund um den 11.
September 2001. Wenige Stunden nach dem Ereignis kursierten schon die
ersten Verschwörungstheorien: Im WTC wären angeblich überraschend
wenige Juden gewesen. Das müsste doch ein Hinweis darauf sein, dass die
Juden gewarnt worden seien. Später hat man dann nur noch davon
gesprochen, dass so wenige Israelis im WTC waren. Eigentlich kann man sich
aber denken, dass nicht unbedingt viele Israelis da ein- und ausgehen.
Bezüglich des Irakkriegs haben Verschwörungstheoretiker dann „entdeckt“,
dass in der US-Regierung selbst ja auch Juden sitzen. Beispielsweise der
damalige stellvertretende Verteidigungsminister und Neokonservative Paul
Wolfowitz. Dann wurde aus der Tatsache, dass der Mann Jude ist, eine
imaginäre Zugehörigkeit zu Israel und allen Juden der Welt konstruiert –
anstatt die Vorstellungen des Mannes zu prüfen, seine Pläne und Interessen.
Antisemiten sehen aber nur den großen Zusammenhang: Da und da sitzen
Juden. Und dann wird sofort festgestellt, dass der Staat Israel daraus seinen
Nutzen ziehen wird. Und schon haben wir eine antisemitische
Verschwörungstheorie. Die verschwörungstheoretische Kernfrage dahinter ist
immer: Wem nützt ein Ereignis? Mit der ideologischen, antisemitischen
Sichtblende ist dann sofort klar: Dem Staat Israel war ein Ereignis von Nutzen.
Worauf stützen sich moderne Verschwörungstheorien?
Verschwörungstheorien verbreiten sich am besten im Internet. Irgendwelche
Leute tragen Quellen zusammen, um etwas zu belegen. Diese Quellen werden
meistens passend gemacht und ungeprüft weiter verbreitet. Zum Beispiel
wurde behauptet, dass der Mossad den amerikanischen Geheimdienst schon
Monate vorher vor Flugzeugattentaten gewarnt hätte. Als Quelle wurde ein
Artikel aus der FAZ genannt. Doch darin stand „nur“, dass es in Israel eine
Konferenz zur Sicherheitspolitik gab, an der auch Vertreter des Mossad
teilgenommen haben. Diese hatten damals die Befürchtung geäußert,
islamistische Terroristen könnten verstärkt Selbstmordattentate durchführen,
zum Beispiel auch in Flugzeugen. Das ist kein Hinweis auf bevorstehende Attentate!
Kann man die Community, die es geben muss,
um Verschwörungstheorien zu verbreiten, näher definieren?
Definieren lässt sich die Gruppe von Menschen, die besonders empfänglich für
Verschwörungstheorien sind, kaum. Die Gruppe ist sehr heterogen, nicht
unbedingt nur rechtsradikal. Neben den Rechtsextremisten können auch
solche Menschen verschwörungs- theoretisch orientiert sein, die sich als links
bezeichnen.
Diese üben – manchmal natürlich legitim – Kritik an der
US-Regierung oder internationalen politischen Vorgängen und driften dann
allerdings in eine verschwörungstheoretische Richtung ab.
Abstrahiert von den „Professionellen“, die Verschwörungstheorien verbreiten,
sind wohl insgesamt die so genannten gesellschaftlichen Verlierer anfällig, die
untergegangen sind im Kapitalismus. Aus einer kritischen Einstellung
entwickelt sich dann schnell der Glaube an eine Verschwörung.
Verschwörungstheorien bauen auf der Vorstellung auf, dass es einen ewigen
Kampf zwischen dem Guten und personalisierten Bösen gibt. Es wird eben
nicht gesagt, bestimmte Entwicklungen sind negativ. Die Welt wird vielmehr
dualistisch aufgeteilt: Hier sitzt ein Bösewicht, der anderen etwas Schlechtes
will. Dort sitzen diejenigen, die durchweg gute Ansichten haben. Das ist ein
Weltbild, das meiner Ansicht nach einfach falsch ist.
Was hat Terrorismus mit Verschwörung zu tun?
Terrorismus basiert auf Ideologien, die verschwörungstheoretisch geprägt
sind. Wenn man so hasserfüllt ist, so verblendet, dass man Personen
umbringt, weil sie vermeintlich einer anderen Sache anhängen, weil sie
einfach nur westlich geprägt sind, dann geht das nur mit einem Denken, das
zutiefst verschwörungstheoretisch geprägt ist. Islamistische Terroristen
bekämpfen das „Böse“, und für sie ist das die Modernität, der Liberalismus, die Demokratie.
Was gibt es für Verschwörungstheorien rund um den Nah-Ost- Konflikt?
Da wird zum Beispiel immer gerne ein Zusammenhang zwischen Israel und den
USA dargestellt. Die USA täten immer wieder dies und das, um Israel politisch
freie Hand zu geben, damit Israel die Palästinenser zurückdrängen kann mit
vermeintlich internationaler Billigung. Es werden immer wieder Verbindungen
„aufgedeckt“ zwischen amerikanischen Juden und Israel. Es agiere quasi eine
amerikanisch-israelische Einheit, die alles im Interesse Israels tue. Israel
wehrt sich gegen seine Feinde. Das ist natürlich gerade nach dem Holocaust
legitim. Die andere Seite ist, dass es in den USA natürlich Juden gibt, die sich
Israel verbunden fühlen und dafür kämpfen, dass die USA Israel unterstützen.
Allerdings möchte ich behaupten, dass US-Außenpolitiker immer zuerst an die
amerikanischen Interessen denken. Die USA agieren nicht uneigennützig nur
im israelischen Interesse. Es gibt zum Teil Interessenidentität. Das ist aber
nicht darauf zurück zu führen, dass Juden in den USA die Strippen ziehen und
die Regierung beeinflussen.
Erfreuen sich gerade in Deutschland Verschwörungstheorien besonderer Beliebtheit?
Antisemitismus hat natürlich in Deutschland eine schlimme Tradition.
Dadurch hat es verschwörungstheoretisches Denken ein bisschen leichter.
Antisemitismus bricht immer wieder aus – gerade dann, wenn Antisemiten
keine Sanktionen befürchten müssen, wenn sie ihre Ansichten rausposaunen.
Im Irakkrieg haben sie ja sogar einen gewissen Rückhalt durch die rot-grüne
Bundesregierung bekommen, die mit antiamerikanischer Rhetorik gegen den
Krieg opponiert hat.
Sind Sie selber mal einer Theorie aufgesessen?
Einer richtigen Verschwörungstheorie eher nicht. Aber natürlich finde auch
ich Darstellungen schlüssig und merke erst später, wo es hakt. Aber das ist
nicht der Punkt. Ich will nicht, dass niemand Kritik übt. Ich will nur, dass
Menschen auch offen sind für andere Sichtweisen und bereit sind, ihre
Darstellung zu revidieren, wenn stichhaltige Beweise vorliegen, die die Sache
anders erklären. Aber das Deprimierende ist, dass kein Ende in Sicht ist.
Verschwörungstheorien werden immer und immer wieder verbreitet.
Und oft helfen keine Argumente. Aber man sollte trotzdem immer wieder
argumentieren und versuchen, Vorurteile und Verschwörungstheorien zu entkräften.
Literaturhinweis: Tobias Jaecker: Antisemitische Verschwörungstheorien
nach dem 11. September – Neue Varianten eines alten Deutungsmusters.
Reihe: Politische Theorie und Kultur, Münster 2004 (3. Auflage 2006)
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