Clara Haskil
Clara Haskil Eine Heilige am Klavier - Joachim Kaiser
Versehrt, rastlos, selbstkritisch: Erinnerungen an eine überwältigende Künstlerin und was im Nachlass von ihrer Kunst überlebt Clara Haskil starb am 7. Dezember 1960 im Alter von 65 Jahren. Für alle jüngeren Klavierfreaks kann sie darum nurmehr eine ferne, historische Gestalt sein - ein Phantom, wie es sich aus respektvoll angehörten Schallplatten bilden mag. Doch auch auf mich, als ich der Künstlerin Mitte der 50er Jahre begegnete, wirkte die Weltberühmte und Entrückte keineswegs wie eine normale Pianistin, sozusagen zum Anhören, Ansprechen, Anfassen.
Clara Haskil war schon zu Lebzeiten ein Mythos. Ungeheuerlich ihr später Ruhm. Sie sei Statthalterin Mozarts auf Erden. Niemand könne ihrer reinen Musikalität widerstehen. Gäbe sie in Paris, nach einem anspruchsvollen Klavierabend, ein paar Scarlatti-Sonaten zu, dann flippten ihre Fans förmlich aus, reagierten mit hysterisch begeisterter Raserei. Nur sei sie leider hässlich. Hexenhaft gekrümmt. Gezeichnet von schwerster Krankheit. Erfährt man als erwartungsvoller, junger Musikfreund so etwas, ficht es einen wenig an. Die Dame soll mir nicht als Model oder als Tänzerin imponieren, denkt man, sondern als Pianistin. Aber mich traf es dann doch wie ein Schlag, als ich Clara Haskil das erste Mal auf dem Podium sah. Sie war ja in ihren letzten Lebensjahren nicht irgendwie "hässlich". Nein.
Weit mehr und viel weniger. Sie schien förmlich eingeschlossen in das Gefängnis ihrer Hinfälligkeit. Als sie damals in Stuttgart das a-Moll-Klavierkonzert von Schumann darbot, als ich sie später mehrfach hören durfte, wenn sie Soloabende gab oder mit dem Geiger Arthur Grumiaux klassische Duo-Sonaten vortrug - jedes Mal drängt sich eine fast unheimliche Analogie auf. So wie die einzigartige, überirdische Reinheit der Inspiration des späten Beethoven vielleicht doch irgendetwas damit zu tun haben muss, dass Beethovens Taubheit ihn von dem Lärm, den Geräuschen, dem unausweichlichen Gedudel und banalen Geplärr der Welt isolierte - so schien Clara Haskils Hinfälligkeit (die ihr manchmal sogar einen verzweifelt schönen Ausdruck verlieh) sie gleichsam zu konzentrieren aufs musikalisch wahrhaft Wesentliche! Faszinierend, wunderbar leuchtend bot sie im Kopfsatz des Schumann-Konzertes die Wandlungen des romantisch-poetischen Hauptthemas.
Alle Pralltriller oder Verzierungen nahm sie auffällig langsam - es waren dann keine spitzen, manieristischen Verzierungen mehr, sondern atmend ausdrucksvolle Bereicherungen. Im Finale freilich schien es der "Heiligen" doch ein wenig an Vehemenz zu fehlen. Sie litt bitterlich unter ihrem Aussehen. Hasste dessen "mitleidsvolle" Erwähnung seitens taktloser Kritiker. Was habe ihre Rückgratverkrümmung mit ihrem Spiel zu tun - außer dass dieses Gebrechen sie physisch schwächte. Sie besaß sogar die Bravour, über sich selbst zu spötteln, und zwar bereits 1945: "Wenn ich mein Foto betrachte ... dann sagte ich mir: Sollte mein Talent, das doch recht ungewöhnlich war, sich so verändert haben wie mein Aussehen, dann ist davon nicht viel übrig geblieben." Ohnehin muss man sich diese vor großer Kunst unendlich bescheidene und demütige Musikerin wirklich nicht vorstellen als Mischung aus Heiliger Caecilie und Engel. Sie war schwierig, konnte ganz hübsch deftig sein, und sie trug nach. Dass Alfred Cortot, der die junge, hoffnungsvolle Klavierelevin eher nachlässig förderte, sie beim Unterricht, im Übereifer und verdammt arrogant, vor der ganzen Klavierklasse anfuhr: "Wiederholen Sie diese Stelle! Sie spielen ja wie eine Putzfrau" - die Tiefgekränkte vergaß es nie.
40 Jahre später gratulierte der greise Cortot ihr zu einem herrlichen Konzert. "Aha, ich spiele also nicht mehr wie eine Putzfrau!", blitzte sie zurück. Und als ein sinnlos begeisterter Fan vor ihr niederkniete, versetzte sie dem Anbeter kurzerhand eine schallende Ohrfeige. Eine handfeste Heilige. Nun vermittelten die allerletzten Jahre und Auftritte von Clara Haskil uns Nachgeborenen offenbar keinen völlig zutreffenden Eindruck von ihrer Kunst. Ihre früher entstandenen Plattenaufnahmen machen deutlich, dass sie als junge Interpretin eine dramatisch-vehement, zügig und kraftvoll zupackende Pianistin gewesen ist. Dunkel stürmisch leuchtete da der letzte Satz des Schumann-Klavierkonzertes, schneller und wild-romantischer als etwa der große Claudio Arrau ihn meisterte. Anfechtbar scheint es auch zu sein, Clara Haskil für ein typisches Produkt rumänisch-französischer Symbiose zu halten - wie es der Dramatiker Eugène Ionesco oder der Jahrhundert-Pianist Dinu Lipatti (ein enger, bewundernder Freund Claras) gewesen sein mögen. In Bukarest geboren, von einem ihr Talent bewundernden, zugleich enthusiastischen und strengen Onkel zur Ausbildung erst nach Wien, dann endgültig nach Paris gebracht, glich Clara Haskil dank ihrer französischen Lehrer, Freunde und Kammermusikpartner einem genuinen Exemplar französischer Musikkultur. Doch das trifft nur partiell zu. Clara Haskil jammerte jahrzehntelang, wie wenig gerade die Pariser mit ihrem (eben nicht parfümiert-eleganten, preziös-pointierten, selbstverliebt-sonoren) Spiel anfangen könnten. Noch als über 40-jährige Künstlerin, erschreckend wenig beschäftigt, klagte sie: "Niemand lässt mich spielen ... In Paris liebt man mich nicht." Natürlich bewunderten einzelne Musiker ihr Genie. Sie bekam lebenslänglich (sehr) gute Kritiken. Doch das half ihrer Karriere wenig. Erst im letzten Lebensjahrzehnt wuchs, zusammen mit ihrer Hinfälligkeit, auch ihr Ruhm ins Aberwitzige. Wie gern wäre sie, 16-jährig, nach Berlin gegangen.
Der geniale Ferruccio Busoni hatte sie - als enorme Frühbegabung, die zum Beispiel das grausam schwere Brahms B-Dur-Konzert op. 83 in ein paar Tagen auswendig lernte und beherrschte - eingeladen, bei ihm zu studieren. Doch dazu reichten die Mittel leider nicht. Clara Haskils Repertoire war groß. Aber gewiss nicht besonders französisch. Mozart, Beethoven, Schubert und Schumann wurden für sie als Interpretin - und erst recht für ihr zuhörendes Publikum - weit wichtiger als Debussy, Ravel, Saint-Säens und selbst Chopin.
Ihre größten Wirkungen erzielte sie mit Werken der Wiener Klassik und, glücklicherweise auch auf Platten, mit denen Robert Schumanns. Alle Bewunderer waren sich einig über die demütige, hingebungsvolle, Partner und Begleitorchester förmlich an-steckende, infizierende Richtigkeit ihrer Kunst. Herbert von Karajan, der die Haskil anbetete und förderte, hat geschwärmt: "Man fühlte, dass alles restlos stimmte - Tempi, Nuancen, Phrasierungen -, und zwischen Dirigent und Solistin ergab sich wie von selbst ein Dialog, der jegliche vorherige Absprache oder Klarstellung erübrigte." Bleiben wir kurz bei Karajan. Auf dessen Kunst hatte sich nämlich die tiefsinnige russische Pianistin Tatjana Nikolajewna neugierig gefreut bei ihrem ersten Salzburg-Besuch.
Aber Karajan enttäuschte sie auf hohem Niveau. Solistin sollte, so berichtete die Nikolajewna, Clara Haskil sein, deren Name ihr unbekannt war. Als sie dann die Haskil aufs Podium kommen sah, wollte die Nikolajewna am liebsten fliehen. Denn die Haskil erschien ihr "gebeugt, die grauen Haare zerzaust, sie hatte etwas Hexenhaftes und war befangen ... Die Introduktion des Orchesters war wiederum sehr gut dirigiert, sehr gut vom Orchester gespielt, doch ohne besondere Hingabe. So traf mich unvorbereitet, was geschehen sollte.
Als Clara Haskil die Hände über die Tasten legte, liefen mir Tränen über das Gesicht. Ich war gekommen, um den neuen Toscanini zu hören, und fand die größte MozartInterpretin, die ich je gehört habe." Welche Wirkung! Charlie Chaplin schließlich, der sich wegen der Haskil eigens einen Steinway nach Vevey hatte kommen lassen, wohin er sie so gern einlud und ihrem Spiel lauschte, Chaplin äußerte, er kenne nur drei Genies: Einstein, Churchill und - Clara Haskil. Doch worin lag das Besondere dieser Künstlerin? Worte über ihr Spiel können offenbar immer nur die Überwältigung mitteilen, die entwaffnende Richtigkeit. Was aber waren die Gründe solchen überwältigt-Seins? Versuchen wir furchtlos die Anatomie eines Wunders. Sie übte in Bezug auf ihr Spiel, aufs Gelingen von Konzertabenden und Schallplattendokumenten, strengste Selbstkritik. War von fast pathologischem Selbstzweifel erfüllt, ja förmlich besessen. Mit Koketterie hatte das nichts zu tun. Falls Zufriedenheit sie tatsächlich auch mal überkam - dann sagte sie dies unumwunden, jedoch keineswegs unbescheiden.
Nur eben: Nach ovationshaft bejubelten Konzerten, wenn sie schon dutzendmal auf die Bühne hatte herauseilen und sich verbeugen müssen, wendete sie sich dann doch an die jubelnden Freunde, die hinter den Kulissen auf sie warteten: "Findet ihr, dass es geklappt hat?" Sie war sich dann dessen, was sich soeben ereignet hatte, "gar nicht bewusst", folgerte daraus ein kluger Pariser Kritiker. Noch "objektiver", also vernichtender, vermag sie natürlich ihre Platten zu beurteilen, die sie sich ja auch Wochen, Monate oder Jahre nach der Aufnahme anhören kann, wenn sie innerlich bereits über das Damalige hinaus zu sein meint. Und schreibt zu einer Freundin: "Zwei von meinen Platten (Es-Dur und d-Moll von Mozart), die ich gerade angehört habe, enttäuschen mich wieder einmal sehr. Ich werde sicher sterben, bevor es mir gelingt, eine Platte aufzunehmen, die mich vollständig zufrieden stellt."
Als ich in Jérome Spyckets sehr informativer Clara-Haskil-Biografie auf dieses Briefzitat stieß, spürte ich fast erleichtert, dass es also vielleicht doch kein Irrtum gewesen sein musste, wenn mir schon immer Clara Haskils Einspielungen des großartigen Mozartschen Es-Dur-Klavierkonzertes (des "Jeunehomme"-Konzerts KV 271) sowie des d-Moll-Konzerts (KV 466) irgendwie enttäuschend erschienen, gemessen an dem legendären Ruf gerade ihres Mozart-Spiels. Das Klangbild nicht sehr attraktiv, die Aura kaum faszinierend, der Anfang des Es-Dur-Konzertes sogar ein wenig verwaschen. Gewiss: stets kompetente, schöne Mozart-Interpretation. Aber, wie sagte doch der witzige Pianist Alfred Grünfeld, als er den legendären Paderewski gehört hatte: "Das ist kein schlechter Klavierspieler, aber ein Paderewski ist er nicht." Am ehesten setzt sich - auf Platten - Clara Haskils Mozart-Kunst bei einigen Sonatenaufnahmen durch, die sie zusammen mit dem Geiger Arthur Grumiaux machte (vor allem: die e-Moll-Sonate KV 304).
So wenig sie also bei der gestrengen Beurteilung ihrer Mozart-Konzertaufnahmen völlig im Irrtum gewesen war, so wenig trog sie ihr Gefühl, als sie befand, "die einzig guten Platten von mir sind die Mozart-Platten mit Violine ... und auf der Schumann-Platte die 'Bunten Blätter' und besonders die 'Abegg-Variationen'". Das trifft nämlich beglückend zu! Bei den Schumann-Stücken vermochte sie einzigartig ausdrucksvoll zu artikulieren, ohne sich dabei selbst in Szene zu setzen. Die Musik klingt tief, schmerzerfüllt und dabei ganz uneitel. Sie klingt, als spräche die Natur selber. Bedeutende Interpreten neigen dazu - und niemand missgönnt es ihnen -, gleichsam spüren zu lassen, welche Tiefen sie entdeckt, welche Abgründe sie durchmessen haben. "Ausdruck macht Eindruck, das ist nun so. Die beiden haben immer zusammengehört, und immer wohl hat jener es auf diesen ein wenig abgesehen", heißt es in Thomas Manns "Joseph, der Ernährer". Darüber war Clara Haskil hinaus. Sie brauchte nicht Eindruck zu schinden. Das hatte sie nicht nötig.
Ihre Wahrheit verbündete sich ohne jede Ausdrucks-Eitelkeit mit der komponierten Sache. Ihr Spiel vibrierte in den letzten der "Bunten Blätter" von Bescheidenheit, seliger Demut, schwermütigem melodischem Zauber. Und zarter, virtuoser Glanz lässt aus ihrer Wiedergabe der "Abegg-Variationen" pure Vollendung werden. Nun sind Extreme leichter zu verbalisieren als das platterdings Richtige. Zur Wahrheit großer Interpretation gehört gewiss die Fülle dessen, was ein Künstler phrasierend hervorhebt, pointierend belebt. Aber, und womöglich noch mehr: auch sein striktes Gefühl dafür, was er unterlassen muss! Was er der komponierten Gestalt gerade nicht hinzufügt an verlockend nahe liegenden feinen Nuancen, effektvollen "Drückern". Dadurch entsteht Strenge. Entsteht die Gewalt der Form.
Clara Haskils frühere, erste Interpretation der Beethovenschen "Sturm"Sonate op. 31 Nr. 2 in d-Moll stellt ein grandioses Beispiel solcher durchaus extremen Strenge dar. In dieser berühmten Sonate gibt es Magisch-Ruhiges, gleich zu Beginn. "Denken Sie an Shakespeares 'Sturm'", beschied Beethoven einen Frager - wir dürfen also bestimmt manchmal Prosperos Zauberstab assoziieren. In der Sonate gibt es auch Wildes, Panisches. (Die Schiffskatastrophe?) Figuren werden von Ariel in Schlaf versenkt, in Traum. Und Ariel selber löst sich am Ende in den Elementen auf - so wie die Sonate in der Tiefe des Pianissimo schließt. In ihrer Interpretation von 1955 wagt Clara Haskil Extremes. Die verklingenden Achtel des herben Kopfsatzes haben bei ihr gerade keinen melancholischen Schmelz. Die berühmten Rezitative finden tatsächlich, dissonant zusammenklingend, hinter dem von Beethoven kühn geforderten Pedalschleier statt. Durch das motorische Finale rast Clara Haskil sogar rascher, auch panischer als immerhin Friedrich Gulda! Gleichwohl überspielt sie nicht ganz jenen Moment, wo Beethoven hier aus dem Volkslied "Schlaf, Kindchen, schlaf" beziehungsvoll das "Da fällt herab ein Träumelein" zu zitieren scheint (CD Vol. III, Disc 2, Take 25, nach 3:40). So raubt Clara Haskil dem Allegretto-Finale alles Genrehafte. Diese Heilige spürte eben, was das sei: Größe.