Wir werden dafür kämpfen!
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Ich heiße Ann Gibson*, bin 49 Jahre alt und habe sieben Kinder, drei leibliche Kinder und vier Pflegekinder. Meine Pflegetochter Sinja hat FAS. Sie kam im Alter von 4 Monaten in unsere Familie. Im Januar 1989 bekam ich einen Anruf und mir wurde von der Sozialarbeiterin mitgeteilt, dass im Krankenhaus ein 4 Monate altes, alkoholgeschädigtes Mädchen liegt: „Frau Gibson, wenn sie das Kind nicht nehmen, muss es am Montag ins Kinderheim.“ Wir haben sofort „Ja“ gesagt und bereiteten uns vor, das neue Familienmitglied zu begrüßen. Bevor wir das Kind sehen konnten, hatten wir ein einstündiges Gespräch mit einer Sozialarbeiterin und dem zuständigen Arzt. Dieser riet mir dringend davon ab, dieses Kind zu nehmen, zumal wir schon ein schwer behindertes Pflegekind hatten. Ich wollte das Kind trotzdem sehen und bin mit dem Arzt und der Sozialarbeiterin in das Krankenzimmer gegangen. Der Arzt erzählte mir, dass das Kind eine Gaumenspalte hatte, mit einem Herzfehler auf die Welt gekommen ist und viel zu klein für sein Alter war, dass es außerdem nicht schlucken und nicht saugen konnte. In dem Kinderbett konnte man zunächst gar kein Kind liegen sehen, so klein war sie. Im Alter von 4 Monaten hatte sie nur ein Gewicht von knapp 3500 Gramm bei einer Länge von 50 cm. Man hat sie mir gegeben – ich habe sie einmal angesehen und es war Liebe auf den ersten Blick. Ich konnte sie nicht wieder loslassen. Sie sah aus wie ein Neugeborenes, hatte aber komischerweise sehr alte Gesichtszüge, die, wie ich nun weiß, typisch für FAS– Kinder sind. Sie sah aus wie ein Greis im Körper eines Babys.
Wir mussten eine Woche lang warten, bis wir sie voller Freude nach Hause holen konnten, da wir zuerst in der Klinik lernen mussten mit der Magensonde umzugehen. Wir wussten, dass das Kind alkoholgeschädigt ist. Was das für das Kind und für uns bedeuten würde, das haben wir nicht gewusst. Wir haben oft vom fetalen Alkoholsyndrom gehört, waren aber, wie viele andere auch, immer noch der Meinung, dass diese Kinder „nur ein bisschen zurück sind“. Unsere Sozialarbeiterin sagte uns damals: „Diese Kinder sind in der Regel 4 Jahre zurück, aber wenn man überlegt, dass sie dann mit 24 wie eine 20 jährige wirken, ist es nicht so schlimm!“ Was würde ich heute geben, wenn es so sein könnte!
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Trotz aller Freude über unser Kind war das erste halbe Jahr die Hölle für uns. Sinja hat, ohne Übertreibung, 20 von 24 Stunden nur geschrieen, sie hat nichts gegessen. Obwohl sie eine Magensonde hatte, musste ich immer wieder versuchen, sie mit der Flasche zu füttern und damit haben wir mindestens 8 Stunden am Tag verbracht. Das meiste, was wir so in sie hineingebracht haben, waren 320 ml an einem ganzen Tag. Davon hat sie natürlich vieles wieder ausgespuckt. Wir konnten nicht schlafen, sie aß nichts. Zum Glück hatte mein Mann damals Schichtdienst gehabt. Früh- und Nachmittagsschicht. Es war so schlimm, dass wir uns eingeteilt hatten, wer mit dem Kind die ganze Nacht aufbleiben musste. Zu dem Zeitpunkt war ich ein schlafloses Bündel Stress. Alle meine Erfahrungen als Mutter brachten mit Sinja nichts. Die schöne Vorstellung, ein Baby auf dem Arm zu haben und es friedlich zu füttern, ging den Bach runter. Jede Mahlzeit war ein Kampf, den ich leider oft verloren habe. Es war normal, als sie älter wurde, 2 ½ Stunden damit zu verbringen, 3 Löffel Babybrei in den Mund zu bekommen. Da Sinja dazu auch noch eine Gaumenspalte hatte, half das nicht sehr viel, denn, wenn ich endlich etwas in den Mund bekommen hatte, kam das meiste davon wieder aus ihrer Nase heraus. Ihre Magensonde hat sie dauernd herausgenommen und ich hatte langsam aber sicher das Gefühl, dass sie mich hasste, da ich diese immer wieder neu legen musste.
Nach ca. sechs Monaten habe ich mich an eine damals aktive Elterninitiative für alkoholgeschädigte Kinder gewendet. Ich wollte eigentlich nur jemanden haben, der mir zuhört und mich versteht, mit dem ich über alle meine Sorgen reden konnte. Als ich das Telefon auflegte, nach diesem einzigen Gespräch, habe ich nur geweint. Statt zuzuhören ist mir einfach gesagt worden, ich müsste einmal im Monat zum Treffen gehen, was eine gute Stunde Fahrt hin und zurück bedeutet hätte. Wie sollte ich das schaffen? Unser Leben war schon voller Stress und zwei Stunden Fahrt waren einfach nicht drin. Von Beratung am Telefon war keine Rede. Voller Enttäuschung habe ich mich damit abgefunden, dass wir mit FAS alleine dastanden und haben versucht, das Beste daraus zu machen.
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Mein einziger Trost war „Ratgeber zur Alkoholembryopathie“. Dieses kleine Büchlein war inzwischen meine Bibel geworden. Da habe ich auch einen Satz entdeckt, der mir alle meine Sorgen und den Stress mit dem Essen gelöst hatte. Eine Mutter erzählte genau die gleiche Geschichte über das Essen, die wir auch mit Sinja hatten. Es stand auch da, dass Sinja’s Essgewohnheiten fast als „normal“ anzusehen sind, weil diese Kinder nicht aufzupäppeln sind und viel weniger brauchen als normale Kinder. Sie schrieb, dass ihre Einstellung sich geändert hat und auch wenn nichts gegessen wurde, konnte sie trotzdem sagen: „Essen, kein Problem!“ Das habe ich mir wirklich zu Herzen genommen und von da an ging alles viel einfacher. Meine Angst, dass sie verhungern würde, war weg und meine neue Gelassenheit hat sich auf Sinja übertragen, so dass die Mahlzeiten von da an friedlich verliefen. Sie hat nie mehr als 320 ml am Tag getrunken. Diese kleine Menge, zusammen mit ein paar Löffeln hier und da am Anfang, haben sich gut eingespielt, bis sie endlich ohne Kampf gegessen hat.
Irgendwann hörte dieses Schreien auf und etwa ab dem 3. Jahr fing Sinja an zu essen. Als wir mitbekamen, dass sie gerne Mandarinen isst, haben wir sie damit regelrecht ‚bestochen’. Wir haben die Mandarinen vor ihren Platz gelegt und gesagt: „Wenn du deinen Teller leer gegessen hast, dann kannst du die Mandarine essen!“ Was sie aß, war vielleicht für einen Vogel gerade genug, aber Hauptsache, sie hat gegessen. So ging das immer weiter. Mit Obst konnte man so ziemlich alles hinkriegen, sie liebt Obst.
Erst mit vier Jahren kam sie in den Kindergarten, weil sie vorher viel zu klein war. Diese Jahre dort waren die Besten in ihrem Leben. Sie war immer die Kleinste, auch als sie fast zur Schule ging. Aber sie wurde ‚Boss’ genannt, weil sie sehr selbstbewusst war. Sie war zwar klein und dünn, aber sie sagte jedem, was er zu tun hatte. Das war eine ganz tolle Zeit für sie. Die Erzieherin hatte uns einmal erzählt, dass sie noch nie so ein selbstbewusstes Kind da gehabt hätten. Trotz eines starken Sprachfehlers ist sie akzeptiert worden wie sie war und freute sich immer, dahin zu gehen.
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Als Sinja in die Schule kam, ging es so langsam bergab mit ihr. Sie wurde "Omagesicht" oder "Affengesicht" genannt. Man sagte ihr: „Du bist zu klein. Du bist zu dünn. Du kannst nicht richtig reden.“ Sie war mittlerweile dreimal an der Gaumenspalte operiert worden. Dieses Kind, das früher so voller Leben gewesen war, fing an, mit gesenktem Kopf herumzulaufen. Keiner sollte ihr Gesicht sehen, weil sie Angst hatte, dass die Leute etwas zu ihr sagten wegen ihres Aussehens. Sie sprach mit keinem Fremden, weil sie von fremden Menschen nicht verstanden wurde, und es war ihr zuviel, dass die Leute immer: „Wie bitte?“ fragten - also hörte sie auf, mit Fremden zu reden.
Wir schafften es, dass sie mit fast 7 Jahren doch noch ein Jahr im Kindergarten bleiben durfte. Der Schulpsychologe hat uns damals erklärt, dass Sinja eigentlich in eine Schule für geistig Behinderte gehöre, was uns am Boden zerstörte. Wir wussten, dass sie hinter den anderen Kindern hinterher war, aber wir haben immer wieder gehofft, wir könnten aus ihr ein „normales“ Kind machen. Nach dieser Untersuchung haben wir zum ersten Mal erkennen müssen, dass FAS ein Leben lang bleibt und nicht verschwindet. Es hat so weh getan, dass wir auf dem Weg nach Hause anhalten mussten um unseren Tränen freien Lauf zu lassen. Sinja ging dann mit fast 8 Jahren nicht in eine G-Schule, sondern, dank unserer guten Verbindungen, in die Sonderklasse einer dänischen Schule. Auch ihre Kindergartenfreunde besuchten diese Schule, wenn auch in anderen Klassen. Kurz nachdem sie in die Schule ging, bekamen wir unseren ersten Computer. Gleich setzte ich mich hin und suchte, was ich über FAS herausfinden konnte. Halleluja! Nach ein paar Tagen fand ich eine englischsprachige Selbsthilfegruppe für FAS. Endlich waren wir nicht mehr allein. Nach all den Jahren auf der Suche nach Info hatten wir auf einmal so viel gefunden, dass es Monate gedauert hat, alles durchzugehen. Dies war ein echtes „Aha-Erlebnis“. Viele Sachen, bei denen wir gedacht haben, sie passen nur auf Sinja, betrafen fast alle FAS-Kinder. Ihre Wutausbrüche ohne erkennbaren Grund, ihre Empfindlichkeit bei Etiketten, Halsketten, Fäden in Strümpfen, ihre Kälteempfindlichkeit, so schlimm, dass sie mitten im Sommer noch mit einen dicken Pulli herumlief, ihre Schmerzunempfindlichkeit und ihren "Zwang" die Haut bei noch so kleinen Stellen zu großen, offenen Wunden zu kratzen, all das kam bei anderen Kindern auch fast immer vor. Wir haben in 6 Monaten mehr gelernt, als in den ganzen Jahren davor. Hier fühlte ich mich richtig geborgen und ich freute mich sehr auf den Austausch, der bis heute noch geblieben ist.
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Dänisch, English und Deutsch kann sie prima reden, aber überhaupt nicht schreiben. Mathematik ist eine Katastrophe. Sinja wird dieses Jahr 16 und wenn man sie fragt: „Sinja, was ist fünf minus vier?“ Da muss sie zunächst bis 5 zählen, dann die 4 wegnehmen und dann weiß sie, dass 1 das Ergebnis ist. Ihre Sprache hat sich sehr verbessert. Anfang 1999 wurde ihr ganzer Rachen „umgebaut“. Es war eine Sprachverbesserungs-OP und seitdem verstehen die Leute sie viel besser. Anhand einer Röntgenuntersuchung der Hand wurde uns gesagt, dass sie ohne Hormontherapie nie größer als 145 cm groß sein wird. Aus diesem Grund bekam sie im Alter von 9 bis 15 Jahren täglich Hormonspritzen wegen ihrer Wachstumsstörung. Mit 9 Jahren war sie nur 115 groß, jetzt ist sie mit fast 16 Jahren, nach dieser Hormonbehandlung 159 cm groß und ihr Selbstbewusstsein ist mit jedem Zentimeter, den sie wuchs, größer geworden..
Sie wird nie in der Lage sein, eine Ausbildung zu machen, aber wir haben das Glück, dass wir genau hinter dem Reiterhof Mumm in Felmerholz wohnen. Seit Sinja 4 Jahre alt war, hielt sie sich auf dem Reiterhof auf. Vor 6 Jahren schenkten wir ihr ‚Blacky’, ein Shetland Pony. Damals fing sie auch mit einfachem Reitunterricht an. Das nächste Pony hieß ‚Felix’. ‚Bo’, Sinja’s jetziges Pony, hat sie seit 2 ½ Jahren. Mit ihm wird sie an den Special Olympics teilnehmen. Fast jedes Wochenende sind wir mit ihr unterwegs. Sie macht Springturniere und Dressur und ist sehr erfolgreich damit. In Juni 2004 soll sie beim Hamburger Derby einer "Show" aufführen. Vor 2 Jahren hat sie bei einem Zeitspringen mit 50 Teilnehmern den 11. Platz belegt. Für uns war es so, als hätte sie den 1. Platz bekommen, so haben wir gejubelt.
Anfangs hatte sie beim Reiten große Schwierigkeiten. Sie müssen es sich so vorstellen: ein Kind, welches nicht 1 und 2 zusammenzählen kann, kommt auf einen Platz und die Sprünge sind nummeriert. Sind die Nummern alle in einer Reihe, hat sie damit kein Problem, dann kennt sie das: 1, 2, 3, 4, 5, ... Wenn die Nummern durcheinander stehen, ist sie völlig durch den Wind und es hat sehr lange gedauert, bis sie es lernte. Aber die Reitlehrer unterstützen sie sehr. Wir haben ihnen gesagt, was mit Sinja ist und diese Leute sind phantastisch. Die Reitlehrer erklären ihr dann: „Du musst erst über den Deutschländer und dann über dieses und jenes Hindernis..“ Dann kann sie es sich merken, aber nicht mit den Nummern.
Ihr Reitlehrern, Andre Arns und Angela Jarmatz, hatte vorher ganz viele Probleme mit ihr, denn sie hat es nicht hinbekommen, wenn er ihr sagte: „Hier musst du rechts oder links!“, weil sie nicht weiß, was rechts oder links ist. Der Lehrer erklärte ihr dann aber: „Sinja, du musst dahin, wo deine Gerte ist“, oder: „dahin, wo deine Gerte nicht ist!“ Und das klappte prima.
Wenn sie nach der Schule nach Hause kommt, isst sie etwas, macht ihre Hausaufgaben und dann geht sie auf den Reiterhof. Sie ist sehr begehrt auf dem Hof. Die anderen Pferdebesitzer fragen oft, ob sie ihr Pferd putzt oder es von der Koppel holt. Für Sinja hoffen wir, dass sie irgendwann einmal auf diesem Hof arbeiten kann, als Stallmädchen z.B.
Sie hat einen Behindertenausweis über einen Grad der Behinderung von 60 % mit den Merkzeichen GBH.
Im Nachhinein kann ich nur sagen: Wir haben es ganz schwer gehabt mit unserer Tochter. Als die Hänseleien kamen, war es auch ganz schlimm und wir haben oft über sie geweint. Wir haben drei behinderte Kinder, aber wir haben noch nie über eine Behinderung so viel geweint wie über Sinja’s, weil sie weiß, dass sie behindert ist.
Eines Tages, 1999, als sie wieder ins KH fahren musste wegen einer OP, fragte sie uns im Auto:
„Mama, warum bin ich so auf die Welt gekommen?
Warum bin ich nicht so wie andere Kinder?“ Wir erzählten es ihr und sie antwortete:
„Weißt du was, Mama, du musst jedem schreiben, telefonieren und allen erzählen, dass sie keinen Alkohol trinken sollen, wenn sie schwanger sind, sonst kriegen sie solche Kinder wie mich – und das ist fies und gemein!“
Solche Worte von einem Kind, das selbst betroffen ist! Das ist auch der Grund, warum ich mich so in FASworld engagiere.
Ann Gibson*, 2004
Anmerkung des webmasters: Ann Gibson ist leider am 19.09.04 verstorben, wir vermissen sie alle sehr.